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Aktuelle Rechtsthemen und was eine Großkanzlei sonst bewegt
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Wirtschaftliche Ermittlung und Planung notwendiger arbeitsrechtlicher Umstrukturierungen

Do, 18.07.2024 - 12:46

Die deutsche Wirtschaft steht vor vielfältigen Herausforderungen. Die Folgen aus Inflation, nachhaltig gestiegenen (Vor-)Materialkosten und kritischen Verfügbarkeiten, Energiepreisen, Kapital- und Personalkosten führen zu einer gesamtwirtschaftlichen Abkühlung und einem zunehmendem Ergebnisdruck. Branchenübergreifend und in allen Größenklassen stellen Unternehmen den Standort Deutschland auf den Prüfstand. Der darüber hinaus bestehende Investitionsbedarf in die notwendige Digitalisierung und Transformation bestehender Geschäftsmodelle belastet den finanziellen Spielraum vieler Unternehmen weiter.

Aktuelle Konjunkturprognosen versprechen auch kurz- und mittelfristig keinen substantiellen „Rückenwind vom Markt“, der zu einer Erholung der Situation führen könnte. Vielmehr haben sich viele Rahmenbedingungen nachhaltig verschärft und die Finanzierung der zukunfts- und wettbewerbsfähigen Ausrichtung des eigenen Geschäftsmodells steht auch bei solide aufgestellten Unternehmen unter Druck. 

Geschäftsführer und Management sehen daher immer häufiger die Notwendigkeit zu nachhaltig wirkenden Maßnahmenprogrammen, bei denen Personalabbau und die damit einhergehende Realisierung von Effizienzsteigerungspotentialen oftmals einen Kern des Transformationsprozesses darstellen. Die Beschreibung dieses Prozesses sowie die für die Zielerreichung notwendigen Maßnahmen in einem ganzheitlichen Strategie- und Transformationskonzept ist dabei unerlässlich. Ausgangspunkt der Überlegungen muss immer die strukturierte Analyse der finanziellen, leistungswirtschaftlichen und organisatorischen Ausgangssituation sowie die Erwartungen an die Marktbedingungen sein. Auf dieser Basis kann ein Transformationskonzept Handlungsoptionen für das Management transparent aufzeigen und die strategische Entscheidungsfindung belastbar unterstützen.

Kapazitative Ableitungen

Im Rahmen der finanziellen und leistungswirtschaftlichen Analyse werden bestehende Umsatz- und Kostenstrukturen überprüft und transparent aufgezeigt. Die Ermittlung der Profitabilität von einzelnen Geschäftsbereichen, Sparten, Produktgruppen und Märkten ist ein unerlässlicher Schritt der eigenen Standortbestimmung. In den Analysen identifizierte Verlusttreiber sind dabei erste Ansatzpunkte zur Optimierung der Wertschöpfungsstrategie. Welche Produkte möchte ich in Zukunft anbieten? Wo möchte ich die Produkte herstellen? An welchen Märkten möchte ich künftig tätig sein? 

Die mannigfaltigen Instrumente zur Neuausrichtung der eigenen Wertschöpfung orientieren sich an der zukünftigen Ausrichtung des Unternehmens und sind im Rahmen der ganzheitlichen Unternehmensstrategie in den unterschiedlichen Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dabei hat die zukünftige Wertschöpfungsstruktur erhebliche Auswirkungen auf die notwenige personelle Ausstattung des Unternehmens. Typische Themenfelder sind (nicht abschließend):

  • Fokussierung von strategischen Zielkunden und Zielmärkten bei gleichzeitigem Abschneiden von C-Kunden
  • Make-or-Buy Entscheidungen und Variabilisierung von Fixkostenstrukturen
  • Verlagerung von bisherigen wertschöpfenden und administrativen Prozessen an eigene Standorte mit Kostenvorteilen
  • Schließung von Geschäftsfeldern und Sparten

Daneben ist auch die Analyse der aktuellen und zukünftigen Marktbedingungen sowie der Trends und Entwicklungen der jeweiligen Branche integraler Bestandteil des strategischen Transformationsprozesses. Ausgehend von strukturierten Wettbewerbsanalysen, Untersuchungen der Kunden- und Beschaffungsmärkte, politischen, technologischen und regulatorischen Rahmenbedingungen sowie dem bisherigen wertorientierten Kundennutzen ist die eigene Marktposition transparent zu ermitteln und kritisch zu hinterfragen. Nur wer die Marktanforderungen von morgen kennt, kann sein Unternehmen bereits heute organisatorisch darauf ausrichten. 

Inwiefern mit Blick auf geänderte Wertschöpfungsstrukturen und Markterwartungen ein Personalabbau erforderlich wird, lässt sich anhand der zukünftig notwendigen Produktions- und Administrationskapazitäten ableiten. Überkapazitäten werden an dem Abgleich mit einer schlanken und effizienten Zielstruktur gemessen. 

Prozessuale Ableitungen

Zur Identifikation von bestehenden personellen Kapazitätsüberhängen und Produktivitätspotentialen, die sich unabhängig von zukünftigen Ausrichtungen und Markterwartungen ergeben, ist zwingend die Aufbau- und Ablauforganisation aller wesentlichen Funktionsbereiche (Produktion, Vertrieb, Einkauf, Administration, etc.) zu untersuchen.

Möglicherweise redundante Positionen werden durch die kritische Würdigung der arbeitsnotwendigen Prozesse und deren Abfolge sowie Interviews mit ausgewählten Mitarbeitern* der entsprechenden Abteilungen identifiziert. Daneben ist der Benchmark von wesentlichen KPIs auf Funktionsebene mit vergleichbaren Marktbegleitern oder auch branchenfremden „Best-In-Class-Unternehmen“ eine geeignete Methode, um Potentiale aufzudecken. Mögliche Themenfelder sind (nicht abschließend):

  • Personaleffizienz und Produktivität in den direkten Bereichen
  • Einkaufsvolumen/Lieferanten pro Mitarbeiter im Einkauf, Umsatz/Key Accounts pro Mitarbeiter im Vertrieb, betreute Mitarbeiter pro Mitarbeiter im Personalwesen, etc.
  • Verantwortlichkeiten und Führungsspannen

In den Jahren des Wachstums wurde häufig die Optimierung von Produktions- und Fertigungsabläufen in den Fokus gestellt. Viele, auch kleinere und mittelständische Unternehmen, haben moderne Methoden aus dem Lean Management in den Produktions- und Fertigungsablauf integriert. Während hier in der Breite ein relativ hoher Professionalisierungsgrad zu beobachten ist, bestehen aus unserer Beratungserfahrung häufig ungenutzte Potentiale in den klassischen Overhead-Bereichen. Der Effizienzdruck auf die indirekten Bereiche wird im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung und den heute schon bestehenden Möglichkeiten mit KI perspektivisch weiter steigen.

Darüber hinaus erleben wir eine zunehmende Veränderungsbereitschaft im Management, langjährige Organisationsstrukturen aufzubrechen. Der Wunsch, ein agiler, effizienter und moderner Arbeitgeber zu sein, kann ebenfalls zu Veränderungen in der Organisation und damit einhergehend Veränderungen in Personalstrukturen führen.

Zur Bestimmung von Personalmaßnahmen, die sich an den prozessualen Abläufen orientieren, ist eine exakte Untersuchung der unternehmensnotwendigen Prozesse zwingende Voraussetzung. Aus unserer Beratungserfahrung sind insbesondere solche Maßnahmen von einer guten Kommunikation und der Akzeptanz innerhalb der Belegschaft abhängig.

Operationalisierung der Erkenntnisse

Die Analyseerkenntnisse, Erwartungen an den Markt und die strategische Ausrichtung werden mittels einer integrierten Unternehmensplanung in Gewinn- und Verlustrechnung, Bilanz und Liquidität abgebildet. Nur durch die transparente Darstellung der erwarteten Kosten der Transformation, aber auch der zukünftig erwarteten Renditen, kann das Management die notwendigen Maßnahmen beschließen und den Transformationsprozess einleiten, umsetzen und stringent nachhalten. Dabei ist der Personalabbau konkret zu budgetieren und die Kosten für etwaige Abfindungen, Auslauflöhne oder potentielle Produktivitätsverluste während der Transformationsphase auf der Zeitachse zu bewerten.

Nach der oftmals noch abstrakten Ermittlung von „anonymen“ Kapazitätspotentialen und entsprechenden Überlegungen zu Personalabbau, ist die Operationalisierung des bestehenden Konzepts und die Ableitung in konkrete Einzelmaßnahmen auf Mitarbeiterebene die mitunter genauso große Herausforderung. Bei der Konzeptumsetzung spielt vor allem die Kommunikation mit ausgewählten Mitarbeitern der betroffenen Abteilungen eine entscheidende Rolle. 

Der Befürchtung des Managements, bisherige Leistungsträger im Laufe des Transformationsprozesses zu verlieren, ist ein wiederkehrendes Spannungsfeld in unserer Beratung. Aus unserer Erfahrung lässt sich dem Abgang von Leistungsträgern vor allem durch aktive und transparente Kommunikation sowie deren aktive Einbindung in den Prozess entgegenwirken. Idealerweise kann für die Umsetzung des Transformationsprozesses gleich zu Beginn der Planungen eine Kernmannschaft („Olympia-Team“) identifiziert werden, die den Prozess aktiv mitgestaltet.

Um möglichst sicherzustellen, dass dieses „Olympia-Team“ auch unter Berücksichtigung der einschlägigen (arbeits-)rechtlichen Anforderungen nach Abschluss des Transformationsprozesses fortbesteht, ist eine enge und frühzeitige Zusammenarbeit mit begleitenden Rechtsanwälten unerlässlich. Dabei kann es insbesondere sinnvoll sein, eine etwaig erforderliche Sozialauswahl bereits zu Beginn des Projekts – zunächst hypothetisch – durchzuspielen, um die Auswirkungen verschiedener Planungsszenarien frühzeitig durchdenken und die Erkenntnisse sodann im weiteren Prozessverlauf verwerten zu können.

Typischer Projektablauf

CMS Advisory unterstützt Unternehmen in der Ausgestaltung und Umsetzung von Transformationsprozessen. Typischerweise werden in einer Detailanalyse die bestehenden Konzepte und Überlegungen des Managements plausibilisiert und gechallenged sowie an den zukünftigen Markterwartungen ausgerichtet. Die zukünftige Strategie, die sich aus den Ergebnissen und Erkenntnisse ableitet, wird gemeinsam mit dem Management in Workshops erarbeitet. 

Der detailliert qualifizierte und quantifizierte Maßnahmenplan beschreibt den Weg zur Erreichung eines nachhaltig wettbewerbsfähigen Unternehmens, das dem sich rasch ändernden Marktumfeld mit immer neuen Herausforderungen resilient entgegenblicken kann. Durch die transparente Planung der entstehenden Transformationskosten können Abfindungsbudgets und Einsparziele effektiv und laufend controlled werden. Dabei blicken wir auf einen umfassenden Erfahrungsschatz in der Konzeptionierung und Umsetzung von nachhaltig wirkenden Transformationsstrategien in unterschiedlichen Branchen zurück und können somit einen realistischen Blick auf die anstehenden Herausforderungen zusichern.

Typischerweise kann innerhalb von 10-12 Wochen eine umsetzungsfähige Transformationsplanung erstellt werden. Um Reibungsverluste zu verhindern ist die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Management, Betriebsrat, betriebswirtschaftlichen Beratern und begleitenden Rechtsanwälten von höchster Bedeutung.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Einführung von KI im Unternehmen – Einbindung des Betriebsrats

Do, 18.07.2024 - 06:48

Als neue Basistechnologie sorgt der zunehmende Einsatz von KI auch in der Arbeitswelt für grundlegende Veränderungen. Die Anwendungsbereiche von KI im Arbeitssektor sind mannigfaltig. Sie reichen vom Recruiting über Prozessoptimierung bis hin zur Personalführung. Ein wesentlicher Anwendungsfall ist zudem die Bereitstellung von KI-Instrumenten als Hilfsmittel für Arbeitnehmer* bei der Erbringung ihrer Arbeitsleistung.

Dem Betriebsrat stehen bei der Implementierung von KI-Anwendungen im Unternehmen je nach Einsatzgebiet, Umfang und Ausgestaltung der Anwendung verschiedene Beteiligungsrechte zu. Zu beachten sind dabei nicht nur die allgemeinen Beteiligungsrechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Der Gesetzgeber hat zudem im Rahmen des Betriebsrätemodernisierungsgesetz im Jahr 2021 spezielle KI-bezogene Regelungen geschaffen, um Betriebsräte für die Herausforderungen beim Umgang mit KI zu wappnen. Für eine reibungslose Einführung von KI im Unternehmen ist ein wohlbedachter Umgang mit diesen Rechten von zentraler Bedeutung – nicht zuletzt, um gemeinsam mit dem Betriebsrat Vertrauen und Akzeptanz für die neuen Systeme in der Belegschaft zu schaffen. Im Folgenden werden nach einer Betrachtung des KI-Begriffs die relevanten Beteiligungsrechte des Betriebsrats schlaglichtartig vorgestellt und deren Bedeutung bei der Einführung von KI eingeordnet:

Betriebsverfassungsrechtlicher KI-Begriff

Während der Begriff „Künstliche Intelligenz“ in das BetrVG aufgenommen, aber nicht definiert wurde, hat der europäische Gesetzgeber in die KI-Verordnung eine Definition aufgenommen. Nach Art. 3 Nr. 1 KI-VO handelt es sich bei KI um ein maschinenbasiertes System, das autonom arbeitet und sich nach dem Einsatz anpassen kann und Ergebnisse wie Vorhersagen oder Entscheidungen erzeugt. Es sollen gerade keine einfacheren herkömmlichen Softwaresysteme erfasst werden, die ausschließlich auf von natürlichen Personen festgelegten Regeln zur automatischen Ausführung von Vorgängen beruhen. Vielmehr wird betont, dass ein Hauptmerkmal von KI-Systemen die Fähigkeit sei, Schlussfolgerungen zu ziehen (Erwgr. 12 KI-VO). 

Neben dem Begriffsverständnis auf europäischer Ebene spricht auch der Regelungszweck dafür, herkömmliche Softwareanwendungen vom KI-Begriff auszuschließen. Die KI-Regeln des BetrVG sollen Betriebsräte in die Lage versetzen, „komplexe informationstechnische Zusammenhänge zu verstehen, zu bewerten und mitzugestalten“ (BT-Drs. 19/28899, S. 14). Eine solche Komplexität besteht jedoch nur bei nicht-deterministischen KI-Systemen, die nicht vollständig vorhersehbare Arbeitsergebnisse (Outputs) erzeugen. Nicht unter den KI-Begriff fallen damit bloße deterministische Systeme, die die bei einer konkreten Eingabe einen immer identischen Output liefern. Für diese Regeln gelten vielmehr nur die allgemeinen Regeln des BetrVG.

Der Regelungszweck sowie die KI-Verordnung beschränken den KI-Begriff des BetrVG sogar noch weiter auf generative KI-Systeme. Dieser Unterfall nicht-deterministischer KI zeichnet sich dadurch aus, dass das System nicht nur unvorhersehbare, sondern selbstständig generierte (also originäre) Outputs erzeugen kann. Beispiele für solche KI-Systeme sind die bereits heute in der Arbeitswelt vielfältig genutzten Chatbots ChatGTP (OpenAI) oder Gemini (Google AI). Es ist nämlich gerade diese generative Fähigkeit, die die besondere Komplexität und das enorme Innovations- und Veränderungspotenzial moderner KI-Systeme begründet. 

Informationsrechte des Betriebsrats bei Einführung von KI

Zunächst ist bei der Einführung von KI nicht nur der allgemeine Informationsanspruch des Betriebsrats aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zu berücksichtigten. Danach muss der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend unterrichten. Ein zusätzliches Unterrichtungs- und Beratungsrecht speziell für die Einführung von KI hat der Gesetzgeber in § 90 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG verankert. Die Regelung sieht ausdrücklich vor, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat über die Planung des Einsatzes von KI rechtzeitig unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen unterrichten muss. Das korrespondierende Beratungsrecht folgt aus § 90 Abs. 2 BetrVG. Danach hat der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat die vorgesehenen Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf die Arbeitnehmer, insbesondere auf die Art ihrer Arbeit sowie die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Arbeitnehmer so rechtzeitig zu beraten, dass Vorschläge und Bedenken des Betriebsrats bei der Planung berücksichtigt werden können. Insoweit ist Arbeitgebern zu raten, diese Pflichten als Chance zu ergreifen, um den Betriebsrat bei der Einführung von KI frühzeitig „mit ins Boot zu holen“, indem offene Fragen geklärt, etwaige Bedenken ausgeräumt und die Vorzüge der Anwendungen verdeutlicht werden. 

Hinzuziehung eines Sachverständigen 

Eine Sonderregelung existiert auch hinsichtlich der Hinzuziehung eines Sachverständigen. Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat nur dann zur Beiziehung eines Sachverständigen berechtigt, wenn dieser zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich ist.

Geht es um die Einführung oder Anwendung von KI, wird das Vorliegen dieser Voraussetzung durch § 80 Abs. 3 Satz 2 BetrVG generell unterstellt. Die Regelung sieht vor, dass die Hinzuziehung eines Sachverständigen als erforderlich gilt, soweit der Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben die Einführung oder Anwendung von KI beurteilen muss. Diese Begünstigung beschränkt sich allerdings auf die Erforderlichkeitsprüfung.

Weiterhin notwendig ist ein Beschluss des Betriebsrats sowie eine Vereinbarung zwischen den Betriebsparteien über die Person des Sachverständigen, den Umfang seiner Hinzuziehung sowie die Kosten. Der Gesetzgeber geht dabei von einem Tagessatz eines Sachverständigen in Höhe von EUR 833,00 (inkl. Mehrwertsteuer) aus. Arbeitgebern ist zu empfehlen, diese niedrig angesetzte Schätzung unter Verweis auf die Gesetzesbegründung als Ausgangspunkt für die Kostenabrede heranzuziehen. 

Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 87 BetrVG

Eine zentrale Rolle bei der Einführung von KI spielen die „echten“ Mitbestimmungsrechte aus § 87 Abs. 1 BetrVG. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass der Arbeitgeber eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme grundsätzlich erst durchführen darf, wenn eine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt wurde oder eine Einigungsstelle die Einigung per Spruch ersetzt hat (§ 87 Abs. 2 BetrVG). In den Blick genommen werden müssen insbesondere die Mitbestimmungstatbestände aus § 87 Abs. 1 Nrn. 1, 6 und 7 BetrVG.

Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG hinsichtlich des Ordnungsverhaltens der Arbeitnehmer ist jedenfalls dann abzulehnen, wenn die KI lediglich als Hilfsmittel der Arbeitnehmer eingesetzt werden soll. Eine Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ist nämlich dann ausgeschlossen, wenn eine Regelung oder Weisung lediglich die individuelle Erbringung der Arbeitsleistung und nicht das kollektive Zusammenwirken der Beschäftigten betrifft (BAG, Urteil v. 15. November 2022 – 1 ABR 5/22). 

Besonders relevant bei der Einführung von KI ist hingegen das Mitbestimmungsrecht im Zusammenhang mit technischen Überwachungseinrichtungen. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG hat der Betriebsrat bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen mitzubestimmen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. Bei software- oder webbasierten KI-Anwendungen handelt es sich grundsätzlich um technische Einrichtungen in diesem Sinne. Nuanciert betrachtet werden muss hingegen die Frage, ob die jeweilige KI-Anwendung auch zur Überwachung der Mitarbeiter bestimmt ist. Dies ist nach der Rechtsprechung – entgegen dem Wortlaut – bereits dann der Fall, wenn die technische Einrichtung objektiv zur Überwachung des Verhaltens der Arbeitnehmer geeignet ist. Eine Überwachungsabsicht ist also nicht erforderlich. Bei der Beurteilung kommt es damit entscheidend darauf an, ob der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, auf die Nutzungsdaten seiner Beschäftigten zuzugreifen. Ist dies nicht der Fall, ist eine Überwachung durch den Arbeitgeber und damit ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ausgeschlossen. Inwieweit Dritte (hier: Anbieter der KI-Anwendung) Zugriff auf die Nutzungsdaten und damit eine Überwachungsmöglichkeit haben, ist zwar datenschutzrechtlich relevant, aber unter mitbestimmungsrechtlichen Gesichtspunkten gleichgültig. Entsprechend besteht kein Mitbestimmungsrecht, wenn die KI-Anwendung nicht vom Arbeitgeber bereitgestellt wird, sondern Arbeitnehmer einen privaten Account nutzen, auf den der Arbeitgeber keinen Zugriff hat. Bei vom Arbeitgeber selbst entwickelten KI-Systemen besteht hingegen grundsätzlich eine Zugriffsmöglichkeit, mit der Folge, dass dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zusteht. 

Denkbar ist mit Blick auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz letztlich ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Im Fokus stehen hier zum einen mögliche psychische Belastungen für Arbeitnehmer bei der Verwendung von KI. Zum anderen kann der Einsatz einer Software als Arbeitsmittel eine umfassende Gefährdungsbeurteilung nach § 3 BetrSichV erforderlich machen, die wiederum ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG auslöst. Ob die jeweilige Belastungs- bzw. Gefährdungsschwelle überschritten ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Bei einem gewöhnlichen Einsatz von ChatGPT als Hilfsmittel ist jedoch davon auszugehen, dass weder eine mitbestimmungspflichtige Belastung vorliegt noch die Schwelle für eine Gefährdungsbeurteilung – konkrete Gefährdung i.S.d. § 5 Abs. 1 ArbSchG – überschritten ist.

Sonstige Mitbestimmungsrechte

Darüber hinaus ist das Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats aus § 94 BetrVG zu beachten, wenn die KI im Zusammenhang mit Personalfragebogen oder Beurteilungsgrundsätzen eingesetzt wird. Unter Personalfragebogen ist eine formularmäßige Zusammenfassung von Fragen über die persönlichen Verhältnisse – insbesondere Eignung, Kenntnisse und Fähigkeiten – zu verstehen (BAG, Urteil v. 21. September 1993 – 1 ABR 28/93). Zustimmungspflichtig ist damit beispielsweise der Einsatz eines Chatbots in der ersten Runde eines Bewerbungsverfahrens, der vorgegebene und / oder selbstständig generierte Fragen an die Bewerber richtet. Zudem steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 95 BetrVG bei der Aufstellung von Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen zu. Dass auch der Einsatz von KI bei der Aufstellung solcher Auswahlrichtlinien mitbestimmungspflichtig ist, hat der Gesetzgeber ausdrücklich in § 95 Abs. 2 a BetrVG klargestellt. Nicht zu vergessen sind schließlich die Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei der Berufsbildung und Qualifizierung der Arbeitnehmer nach §§ 96 ff. BetrVG, die auch Schulungen der Arbeitnehmer im Umgang mit KI umfassen.

Einführung von KI ist regelmäßig keine Betriebsänderung

Letztlich stellt die Einführung von KI im Unternehmen in der Regel keine Betriebsänderung i.S.d. § 111 BetrVG dar. Insbesondere fehlt es der Einführung von KI-Systemen im derzeit üblichen Umfang an einer erheblichen Bedeutung für den gesamten Betriebsablauf, die Voraussetzung für eine Betriebsänderung nach § 111 Satz 3 Nrn. 4 und 5 BetrVG ist. Dies gilt vor allem dann, wenn die KI den Arbeitnehmern lediglich als Hilfsmittel zur Erfüllung ihrer ansonsten unveränderten Arbeitspflichten zur Verfügung gestellt wird.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Interne Untersuchungen: Wie läuft das eigentlich ab?

Mi, 17.07.2024 - 06:41

Der Eingang eines anonymen Hinweises, eine versehentlich weitergeleitete E-Mail mit bizarrem Inhalt, Recherchen eines Investigativjournalisten oder eine Meldung an das Hinweisgebersystem – die Situationen, wie Fehlverhalten von Unternehmensangehörigen oder Schädigungshandlungen externer Dritter ans Licht kommen, sind vielfältig. Auch die im Raum stehenden Tathandlungen sind von diverser Natur: Von strafrechtlich relevantem Handeln, arbeitsrechtlichem Fehverhalten bis zum Datenskandal oder der Verletzung der Business Judgment Rule durch Organmitglieder. In all diesen Fällen ist die Durchführung einer internen Untersuchung aufgrund der bestehenden Legalitätspflicht des Unternehmens und der Geschäftsleitung regelmäßig angezeigt. Doch wie läuft eine solche interne Untersuchung ab? Obgleich jede Untersuchung ihre Besonderheiten und Überraschungen mit sich bringt, kann doch von einem typischen Ablauf gesprochen werden.

Ausgangslage bestimmt den Scope

Der erste Schritt besteht darin, die Art, den Umfang, das Ziel und den Zeitplan der Untersuchung zu bestimmen. Hierbei ist entscheidend, ob die interne Untersuchung präventiv-freiwillig oder reaktiv (aufgrund eines konkreten Verdachts oder Vorfalls) initiiert wurde. Sind Ermittlungsbehörden schon eingeschaltet oder ist der Vorfall bereits in die Öffentlichkeit gelangt, gilt es für das betroffene Unternehmen, Herr der Ermittlungen zu bleiben. Damit einher geht regelmäßig ein gewisser Zeitdruck bei der Durchführung der internen Untersuchung.

Festlegung des Untersuchungsteams

Ein effektives Untersuchungsteam besteht aus Experten für Compliance und Forensik, ergänzt durch Fachleute für Arbeitsrecht, Datenschutzrecht, Versicherungsrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Zu entscheiden ist, ob die Untersuchung durch interne Abteilungen des Unternehmens selbst durchgeführt werden kann oder die Beauftragung externer Rechtsanwälte erforderlich ist.

  • Bei komplexen Sachverhalten (z.B. aufgrund eines langen Zeitraums oder einer Vielzahl an beteiligten Personen), dem Verdacht von schwerwiegendem Fehlverhalten des Managements oder bei im Raum stehenden strafrechtlichen Vorwürfen sollten externe Berater eingeschaltet werden. Intern sollten sodann feste Ansprechpartner bestimmt werden, die die Untersuchung unterstützend begleiten und an die über die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungsschritte berichtet wird (aufgrund der Kündigungserklärungsfrist in § 626 Abs. 2 BGB sollte es sich bei den Ansprechpartnern im Idealfall nicht um kündigungsberechtigte Personen handeln).
  • Eine erste Plausibilitätsprüfung oder die Aufklärung einfach gelagerter Sachverhalte kann dagegen auch intern vorgenommen werden, insbesondere wenn das Unternehmen über eine eigene Abteilung für interne Untersuchungen verfügt. In diesen Fällen ist zur Gewährleistung einer objektiven Untersuchung stets darauf zu achten, dass keine Interessenskonflikte zwischen dem internen Untersuchungsteam und den verdächtigen Personen bestehen.

Unter Umständen kann auch die umgehende Einschaltung von Ermittlungsbehörden angezeigt sein, insbesondere wenn die Gefahr der Vernichtung relevanter Beweismittel zu befürchten ist oder Straftaten im Raum stehen, für die eine Anzeigepflicht nach § 138 StGB besteht.

Untersuchung beginnt mit erster Bestandsaufnahme

Im Rahmen einer ersten Bestandsaufnahme werden Gespräche mit den Verantwortlichen des Unternehmens geführt und die eingegangenen Hinweise sowie bereits vorhandene Unterlagen gesichtet. Wichtige Fragen, die dabei geklärt werden müssen, sind u.a.:

  • Welche Erkenntnisse zum Sachverhalt liegen bereits vor und sind diese plausibel?
  • Um welche Art von Fehlverhalten handelt es sich und welche Rechtsgebiete sind betroffen?
  • Welche Aufklärungsmittel kommen in Betracht?
  • Sind Eilmaßnahmen notwendig, wie z.B. die Sicherung von PCs, Sicherung von Vermögensinteressen durch Inanspruchnahme von Eilrechtschutz oder die Unterbrechung von Vertragsverhandlungen?
  • Welche Meldepflichten und -fristen sind zu beachten, z.B. Umstandsmeldungen an die D&O-Versicherung oder die Information von Vertragspartnern?
  • Ist eine Krisenkommunikation vorzubereiten?
Klärung des rechtlichen Rahmens

Um die Ordnungsmäßigkeit der internen Untersuchung und die Verwertung von gesammeltem Beweismaterial zu gewährleisten, sind bereits zu Beginn die rechtlich einzuhaltenden Vorgaben vor Augen zu führen. In arbeitsrechtlicher Hinsicht ist insbesondere die Notwendigkeit einer Anhörung des Betriebsrates sowie weitere in Betriebsvereinbarungen festgehaltene Anforderungen zu prüfen. Da im Rahmen interner Untersuchungen regelmäßig personenbezogene Daten von Mitarbeitern gesichtet und verarbeitet werden, sind auch datenschutzrechtliche Vorgaben zu beachten, die sich aus internen Regelungen (z.B. IT-Richtlinien oder Betriebsvereinbarungen) sowie den datenschutzrechtlichen Gesetzen (BDSG, DSGVO) ergeben. Im Übrigen können auch interne Richtlinien Vorgaben für den Ablauf von internen Untersuchungen enthalten.

Sachverhaltsaufklärung

Nach all dieser Vorbereitungsarbeit geht es an die eigentliche Sachverhaltsaufklärung. Primäre Ziele sind die umfassende Aufklärung des Sachverhalts und die Prüfung von Verantwortlichkeiten. Eingesetzt werden können verschiedene Ermittlungsmaßnahmen, die parallel oder zeitlich versetzt erfolgen können:

  • Dokumentenreview und E-Scan: Es bietet sich regelmäßig an, mit der Sichtung relevanter Unterlagen (z.B. Personalakte, Protokolle und Präsentationen von Gremiensitzungen, Verträge, Gesprächsnotizen) und elektronischer Daten (E-Mail-Postfächer, Chat-Verläufe) zu beginnen. Zur effizienten Durchsicht der relevanten Unterlagen und zur Gewährleistung der Einhaltung aller arbeits- und datenschutzrechtlichen Vorgaben werden typischerweise E-Discovery-Programme (wie z.B. CMS Evidence) eingesetzt. 
  • Hintergrundrecherchen: Sind externe Dritte in den aufzuklärenden Sachverhalt involviert, sind Hintergrundrecherchen notwendig. Diese können mit Hilfe von allgemeinen Internetrecherchen, Handelsregister-Abfragen sowie der Auswertung bestimmter Wirtschaftsinformationsdienste (wie z.B. Orbis, Lexis Diligence, Dow Jones Risk & Compliance Center) durchgeführt werden.
  • Interviews: Zentraler Baustein der internen Untersuchung sind Interviews mit relevanten Personen, typischerweise mit Mitarbeitern. Die Reihenfolge der Interviews hängt stets von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab, insbesondere der Verfügbarkeit der namentlich bekannten Auskunftspersonen. Regelmäßig ist es sinnvoll mit den Gesprächspartnern zu beginnen, die möglichst schnell einen belastbaren und umfassenden Überblick über die involvierten Personen und deren Beziehungen geben können (sog. Scoping-Interviews). Diese Gesprächspartner sind häufig nicht von den konkreten Vorwürfen betroffen. Im Anschluss bietet es sich an, die Interviews mit Auskunftspersonen in der Reihenfolge ihrer ansteigenden Involvierung fortzusetzen.
Sachverhaltsauswertung und -bewertung

Nach der Ermittlung werden die gesammelten Informationen ausgewertet. Dabei werden insbesondere strafbares Verhalten, arbeitsrechtliche Pflichtenverstöße, abgabenrechtliche Risiken sowie Haftungsrisiken des Unternehmens geprüft. Auch mögliche Ansprüche des Unternehmens gegen Mitarbeiter oder Dritte werden bewertet. Auf Grundlage der Sachverhaltsbewertung wird sodann der Handlungsbedarf ermittelt. In Betracht kommen unter anderem

  • Strafanzeige und Strafantrag, ggf. Kooperation mit den staatlichen Ermittlungsbehörden
  • Arbeitsrechtliche Maßnahmen (Abmahnung, Kündigung)
  • Vertragsrelevante Handlungen
  • Meldungen gegenüber Behörden (u.a. Finanzamt, DRV, Zoll)
  • Geltendmachung von Regressansprüchen
  • Einbindung einer D&O-Versicherung
  • Abwehr von Ansprüchen
  • Erforderliche und sinnvolle Verbesserungen / Korrekturen an internen Richtlinien und Prozessen
Fortlaufende Dokumentation

Die Ergebnisse und Verfahrensschritte der Untersuchung sollten unbedingt fortlaufend dokumentiert werden, um ein rechtlich konformes Vorgehen nachweisen zu können. Gerade in nachgelagerten Gerichtsverfahren und bei der Frage von etwaigen Beweisverwertungsverboten kann ein solcher Nachweis von entscheidender Bedeutung sein.

Interne Untersuchungen sind nicht zu unterschätzen

Interne Untersuchungen sind komplexe und sensible Prozesse, die eine sorgfältige Vorbereitung und Durchführung erfordern. Unternehmen müssen sicherstellen, dass alle rechtlichen und ethischen Standards eingehalten werden, um etwaiges Fehlverhalten effektiv aufklären zu können und sich selbst nicht angreifbar zu machen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei ein strukturiertes Vorgehen. Mitunter kann auch die Einbindung erfahrener externer Experten unerlässlich sein.

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EuGH ergänzt Ausnahmetatbestand im Pflanzenschutzmittelrecht – nicht mehr und nicht weniger

Di, 16.07.2024 - 06:21

Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof zwei Urteile zur Frage der Reichweite der Prüfungskompetenz nationaler Zulassungsbehörden und Gerichte im zonalen Zulassungsverfahren von Pflanzenschutzmitteln erlassen.

Zum zonalen Zulassungsverfahren eines Pflanzenschutzmittels

In Deutschland trifft das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (nachfolgend BVL) als nationale Zulassungsbehörde seine Zulassungsentscheidung für Deutschland auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (nachfolgend: PSM-VO). Die PSM-VO legt unionsweit harmonisierte Regelungen für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln fest. 

Der nationalen Zulassung eines Pflanzenschutzmittels geht ein zweistufiges Verfahren voraus: Auf europäischer Ebene werden zunächst die Wirkstoffe für Pflanzenschutzmittel genehmigt Es folgt eine nationale Zulassung der Pflanzenschutzmittel mit genehmigten Wirkstoffen.

Wie auch der Wirkstoffgenehmigung, geht der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln eine umfangreiche wissenschaftliche Prüfung auf Grundlage von unionsweit harmonisierten Anforderungen und Leitlinien voraus. Diese Prüfung und Bewertung von Pflanzenschutzmitteln erfolgt arbeitsteilig im Rahmen eines zonalen Zulassungsverfahrens. Die EU ist dafür in drei Zonen aufgeteilt: Nord, Zentral und Süd, wobei Deutschland in der zentralen Zone ist.

Innerhalb einer Zone prüft der vom Antragsteller* ausgewählte „bewertende Mitgliedstaat“ die Zulassungsvoraussetzungen und trifft eine Zulassungsentscheidung, die sog. Referenzzulassung. Andere Mitgliedstaaten der gleichen Zone, in denen ebenfalls ein Zulassungsantrag gestellt wird, werden am Zulassungsverfahren beteiligt (sog. Concerned Member State). Gemäß Art. 36 Abs. 2 PSM-VO gewähren oder verweigern die Concerned Member State die Zulassung „auf der Grundlage der Schlussfolgerungen aus der Bewertung“ durch den bewertenden Mitgliedstaat. 

Bindung an die Referenzzulassung

Ist also Deutschland an einem zonalen Zulassungsverfahren als Concerned Member State beteiligt, ist das BVL als zuständige Zulassungsbehörde für Deutschland in der Regel an die Bewertung des bewertenden Mitgliedstaats gebunden. 

Nach dem in Art. 36 Abs. 1 PSM-VO verankerten Prinzip gegenseitigen Vertrauens soll sich der Concerned Member State darauf verlassen können, dass die Schlussfolgerung des prüfenden Mitgliedstaats auf einer unabhängigen, objektiven und transparenten Bewertung unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik und unter Heranziehung der zum Zeitpunkt des Antrags verfügbaren Leitlinien beruht. Vor diesem Hintergrund ist ein Concerned Member State im zonalen Zulassungsverfahren an die Referenzzulassung des bewertenden Mitgliedstaates gebunden und grundsätzlich nicht berechtigt, die Zulassungsvoraussetzungen erneut zu prüfen. Nach gefestigter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Braunschweig und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist die Prüfungskompetenz des beteiligten Mitgliedstaats beschränkt und er ist nicht befugt, die Referenzzulassung auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss v. 3. Juli 2023 – 10 LA 116/22; VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16). Daraus folgt, dass die Entscheidung des Referenzmitgliedstaats in der Regel bindend für alle anderen Mitgliedstaaten derselben Zone ist. 

Nach gefestigter Rechtsprechung kann die Bindungswirkung der Referenzzulassung nur in seltenen Ausnahmsfällen entfallen. Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat insoweit entschieden, dass im nationalen Zulassungsverfahren kein Raum für eine weitergehende Überprüfung der Referenzzulassung besteht, solange sich nicht aufdrängt, dass ein Referenzmitgliedstaat die im jeweiligen Zulassungsverfahren zu beachtenden Rechtsvorschriften systematisch verletzt (VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16; nachfolgend vgl. auch VG Braunschweig, Urteil v. 28. Mai 2020 – 9 A 151/18 und 9 A 495/17; VG Braunschweig Urteil v. 3. September 2020 – 9 A 165/18).

An das Vorliegen einer systematischen Rechtsverletzung sind hohe Anforderungen zu stellen. Denn andernfalls würde das europäische Instrument der zonalen Zulassung, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts durch die anderen Mitgliedstaaten gründet, grundlegend in Frage gestellt (vgl. VG Braunschweig, Urteil v. 30.11.2016, 9 A 28/16, Juris Rn. 22 – dort zum Verfahren der gegenseitigen Anerkennung). Vereinzelte Rechtsverstöße in einem oder einigen wenigen pflanzenschutzrechtlichen Zulassungsverfahren sind daher nicht geeignet, systematische Mängel des Zulassungsverfahrens darzulegen (VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016 –9 A 27/16; VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016 – 9 A 28/16; VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16). Erforderlich ist vielmehr eine von willkürlichem Verhalten getragene Rechtsverletzung durch den prüfenden Mitgliedstaat (vgl. VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016-  9 A 28/16: „von einer eigenständigen, aktuellen Bewertung des Pflanzenschutzmittels der Klägerin nicht etwa willkürlich abgesehen“).

Eine weitere Ausnahme liegt vor, wenn die Voraussetzungen von Art. 36 Abs. 3 PSM-VO vorliegen. Dies ist vor allem der Fall, wenn der Concerned Member State einen berechtigten Grund nachweist, dass ein Pflanzenschutzmittel in seinem Gebiet angesichts spezifischer ökologischer oder landwirtschaftlicher Bedingungen ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt.

EuGH-Urteile zur Prüfungskompetenz der beteiligten Mitgliedstaaten

Der EuGH hatte nun in der Rechtssache C-308/22 und in den verbundenen Rechtssachen C-309/22 und C-310/22 in einem Vorabentscheidungsersuchen, das vom Obersten Verwaltungsgerichtshof für Handel und Industrie, Niederlande im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Pesticide Action Network Europe (PAN Europe) und der niederländischen Zulassungsbehörde hinsichtlich der niederländischen Zulassung bestimmter Pflanzenschutzmittel, eingereicht wurde, u.a. die Regelungen der PSM-VO zur Bindungswirkung der Referenzzulassung und deren Ausnahmetatbestände auszulegen. 

Konkret ging es in dem Verfahren Rs. C-308/22 entsprechend einer Vorlagefrage insbesondere darum, ob Art. 36 PSM-VO dahin auszulegen ist, dass der Concerned Member State, der nach Art. 36 Abs. 2 und Abs. 3 PSM-VO über die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels entscheidet, von der wissenschaftlichen Risikobewertung des bewertenden Mitgliedstaats abweichen darf, wenn zur Zeit der Zulassungsentscheidung bereits neuere Erkenntnisse vorlagen. 

Der EuGH hat insoweit mit seinem Urteil vom 25. April 2024 in der Rs. C-308/22 entschieden, dass ein beteiligter Mitgliedstaat von der wissenschaftlichen Bewertung des Referenzmitgliedstaats in den Fällen von Art. 36 Abs. 3 PSM-VO u.a. dann abweichen darf, wenn ihm „die zuverlässigsten wissenschaftlichen oder technischen Daten vorliegen“, die der Referenzmitgliedstaat bei der Erstellung seiner Bewertung nicht berücksichtigt hat und die ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder für die Umwelt aufzeigen. 

Insoweit hat sich der EuGH insbesondere darauf gestützt, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 1 Buchst. e) PSM-VO u.a. verpflichtet sei, eine Zulassung aufzuheben, wenn er feststellt, dass das Pflanzenschutzmittel unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder unannehmbare Auswirkungen auf die Umwelt im Sinne der PSM-VO hat und diese Erkenntnisse seinerzeit vom bewertenden Mitgliedstaat bewusst nicht berücksichtigt wurden. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die dem Urteil vorausgegangenen Schlussanträge der Generalanwältin Medina, die aus dem vorstehenden schlussfolgerte, dass ein beteiligter Mitgliedstaat auch nicht verpflichtet sein könne, das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels zuzulassen, wenn wissenschaftliche oder technische Erkenntnisse vorliegen, die ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt erkennen lassen. Weiter führt der EuGH aus, dass diese Auslegung durch das Vorsorgeprinzip und das Ziel der PSM-VO gestützt werde, ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt zu gewährleisten.

In den Urteilen zu den verbundenen Rechtssachen C-309/22 und C-310/22 hat der EuGH geurteilt, dass der die Zulassungsentscheidung treffende nationale Mitgliedstaat die zum Zeitpunkt dieser Prüfung verfügbaren einschlägigen und zuverlässigen wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnisse zu berücksichtigen hat. 

Berücksichtigung „neuester“ wissenschaftlicher Erkenntnisse 

Die beiden Urteile verdeutlichen, dass Antragsteller sich im Rahmen des Zulassungsverfahrens auch mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen müssen. Solche Erkenntnisse, die von der Zulassungsbehörde des bewertenden Mitgliedstaats im Rahmen des Zulassungsverfahrens angeführt werden, müssen sie ggf. widerlegen, um nachzuweisen, dass ein Pflanzenschutzmittel die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt. 

Aus dem Wortlaut „zuverlässigst“ lässt sich ableiten, dass die Erkenntnisse eine gewisse Qualität haben müssen und mindestens die gleiche Qualität aufweisen müssen wie die vorherigen Erkenntnisse. Nicht jede wissenschaftliche Publikation muss daher berücksichtigt werden. 

Es bleibt zukünftig dabei, dass nationale Zulassungsbehörden nur im Ausnahmefall von der Referenzzulassung abweichen dürfen

Der EuGH hat das System des zonalen Zulassungsverfahrens nicht angetastet. Im Gegenteil: Er hat bestätigt, dass dieses System im Kontext des Europarechts und vor dem Hintergrund wichtiger europäischer Prinzipien wie etwa dem Harmonisierungsgrundsatz seine Berechtigung hat. Er hat lediglich klargestellt, dass eine Zulassungsentscheidung eines bewertenden Mitgliedsstaats ausnahmsweise auch dann überprüft werden kann, wenn dieser nicht die im Zeitpunkt seiner Zulassungsentscheidung vorliegenden neuesten „zuverlässigsten“ wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt hat. Dies dürfte das Verwaltungsgericht Braunschweig in seine gefestigte Rechtsprechung einordnen und hier einen weiteren Ausnahmefall annehmen, in dem die Referenzzulassung überprüft werden kann. Nicht entschieden hat der EuGH, ob Erkenntnisse zu berücksichtigen sind, die erst nach der Zulassungsentscheidung des bewertenden Mitgliedstaats bekannt werden. Diese Frage wird sich wohl erst in Zukunft stellen. Zunächst bleibt es also dabei, dass den Zulassungsentscheidungen der bewertenden Mitgliedstaaten Vertrauen zu schenken ist und die nationalen Zulassungsbehörden hiervon nur im Ausnahmefall abweichen dürfen.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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OLG Hamburg zum Inverkehrbringen medizinischer Software

Mo, 15.07.2024 - 12:18

In dem wettbewerbsrechtlichen Eilverfahren standen sich zwei Anbieter von Apps im Bereich der Dermatologie gegenüber. Mit der Hautcheck-App der Antragsgegnerin können Patienten Bilder ihrer Hautleiden an Hautärzte senden. Zusätzlich müssen sie einen in Kooperation mit Hautärzten entwickelte Anamnese-Fragebogen ausfüllen, der je nach Patientenanliegen modifiziert wird. Basierend auf den so übermittelten Informationen erhält der Patient eine ärztliche Diagnose sowie gegebenenfalls Behandlungsvorschläge und ein Rezept. 

Kern der gerichtlichen Auseinandersetzung war die Frage, ob die Software verkehrsfähig ist. Durfte sie so überhaupt auf den Markt gebracht werden oder hätte sie anders – nämlich intensiver – geprüft und zertifiziert werden müssen?

Wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsanspruch wegen MDR-Verstoßes

Die Antragsgegnerin hatte ihre Software gemäß der Zweckbestimmung als Medizinprodukt nach der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) qualifiziert. Sie sollte offenbar – vermutlich aus Gründen der Erstattung durch gesetzliche Krankenkassen und der Teilnahme an Ausschreibungsverfahren – auch so eingeordnet werden, selbst wenn es aufgrund der Funktionalität vielleicht andere Optionen gegeben hätte. Die Einordnung als Medizinprodukte stand zwischen den Parteien daher nicht im Streit. 

Eingeordnet hatte die Antragsgegnerin ihr Produkt in die Risikoklasse I. Das hielt die Antragstellerin – eine direkte Wettbewerberin – für unzulässig. Ihrer Meinung nach handelt es sich um ein Produkt, das mindestens gemäß der höheren Klasse IIa zu klassifizieren sei. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragte sie, es der Antragsgegnerin zu verbieten, die Software unter ihrer Zweckbestimmung in den Verkehr zu bringen oder auf dem Markt bereitstellen zu lassen, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse IIa, IIb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 der MDR qualifiziert ist. 

Nachdem es in der ersten Instanz unterschiedliche Entscheidungen gab, gab das OLG Hamburg der Antragstellerin im Berufungsverfahren mit Urteil vom 20. Juni 2024 nun Recht (OLG Hamburg, Urteil v. 20. Juni 2024 – 3 U 3/24). Es entschied, dass die Hautcheck-App mit der Zweckbestimmung zur

asynchronen Untersuchung von Hautveränderungen mittels Aufnahme, Speicherung, Anzeigen und Übermittlung von digitalem Bildmaterial von den betroffenen Hauptarealen, sowie die Beantwortung eines Anamnesebogens und der Kommunikation (Chat) mit Fachärzten

 nicht auf dem Markt bereit gestellt werden darf, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse lla, Ilb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 Verordnung (EU) 2017/745 zertifiziert ist.

Weites Verständnis der Klassifizierungsregel zu Software (Regel 11 MDR)

Das OLG Hamburg stellt in seiner ausführlich begründeten Entscheidung maßgeblich auf die Auslegung der Regel 11 im Anhang VIII der MDR ab. Die vorgelagerte Frage, ob die Software überhaupt als Medizinprodukt zu qualifizieren ist oder als reines Kommunikations-Tool schon gar nicht in den Anwendungsbereich der MDR fällt, streift es nur kurz. Da dieser Punkt zwischen den Parteien in dem zivilrechtlichen Eilverfahren unstreitig war, musste es die Frage aus prozessualen Gründen nicht unbedingt entscheiden, sondern konnte sich auf die streitige Frage der Klassifizierung konzentrieren. 

Nach Art. 51 MDR werden Medizinprodukte unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Risiken in die Klassen I, IIa, IIb und III eingestuft. Die Klassifizierung erfolgt gemäß Anhang VIII. Regel 11 dieses Anhangs bestimmt:

Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa […]. Sämtliche andere Software wird der Klasse I zugeordnet.

Die Klassifizierung ist praktisch vor allem deshalb relevant, weil für Produkte der Klasse IIa oder höher die Einbindung einer Benannten Stelle erforderlich wird. Das für die Verkehrsfähigkeit erforderliche CE-Kennzeichen darf dann nur nach Zertifizierung durch eine solche Benannte Stelle angebracht werden. Bei Produkten der Klasse I kann der Hersteller selbst die Konformität bestätigen. 

Die Antragsgegnerin trug zur Einordnung in Klasse I im Kern vor, dass das Übermitteln von medizinischen Informationen durch ihre App nicht unter den Begriff des „Liefern“ im Sinne der Regel 11 passe, sondern nur ein „einfaches“ Liefern darstelle. Es erfolge eine bloße Übermittlung von medizinischen Informationen ohne eigene diagnostische Auswertung, Bewertung oder Analyse. Das sah die Antragstellerin anders. Das OLG Hamburg entschied nun ebenso. 

Zunächst würde es zu Unsicherheiten führen, wenn man zwischen dem Liefern von „einfachen“ und „qualifizierten“ medizinischen Informationen unterscheide. Da die App vorher gesammelte und gespeicherte medizinische Informationen an den Arzt liefere, diese Informationen zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen würden und überwiegend die einzige Grundlage der ärztlichen Diagnose und Therapieempfehlung darstellten, sei die Software unter den ersten Satz der Regel 11 zu fassen. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin verlange Regel 11 nicht,

dass die Software selbst Diagnosen erstellt oder Informationen generiert, produziert, hervorbringt oder herstellt, indem z. B. die Software eine eigenständige Auswertung/Analyse oder diagnostische Bewertung der mitgeteilten, gemessenen oder fotografierten Daten und Bilder vornimmt.

Eine Software, die selbst Diagnosen erstelle, sei vielmehr schon unter die Regel 10 des Anhangs VIII zu fassen.

Hinzu komme, dass die App – unstreitig – so programmiert sei, dass die Diagnoseeinschätzung und Antworten des Patienten Einfluss auf die weiter gestellten Fragen und damit Einfluss auf die an die Hautärzte gelieferten Informationen hätten. Somit liefere die App das Ergebnis einer strukturierten Erhebung medizinischer Daten. 

Hohes Gesundheitsschutzniveau der MDR

Auch die weiteren Argumente der Antragsgegnerin konnten das Gericht nicht überzeugen. Nach Ansicht des OLG Hamburg sei Software nicht nur dann als Medizinprodukt der Klasse IIa (oder höher) zu qualifizieren, wenn ihr Einsatz die Risiken für den Patienten im Vergleich zur ärztlichen Behandlung vor Ort entscheidend erhöhe. Auch würde eine einschränkende Auslegung der Regel 11 im Widerspruch zum Zweck der MDR stehen, ein hohes Gesundheitsschutzniveau für Patienten und Anwender sicherzustellen. Der vom Europäischen Gerichtshof kreierte Auslegungsgrundsatz des effet utile, nach dem unionsrechtlichen Vorschriften bei Auslegungszweifeln die größtmögliche Wirkung zukommen soll, spreche ebenfalls dagegen, die Regel 11 wie von der Antragsgegnerin vorgebracht einschränkend auszulegen.

Medizinprodukterechtliche Bewertung frühzeitig in den Blick nehmen

Das Urteil des OLG Hamburg ist von erheblicher praktischer Bedeutung für digitale Angebote im Gesundheitsbereich. Das zeigt sich schon daran, dass es von zahlreichen Medien, auch außerhalb der Fachpresse, aufgegriffen, eingeordnet und mit Blick auf ihre praktischen Auswirkungen – durchaus kontrovers – besprochen wurde. 

Unabhängig von der Frage, ob das OLG Hamburg hier im konkreten Einzelfall eine zu weite Auslegung der Klassifizierungsregeln vorgenommen hat oder nicht, und ebenfalls unabhängig von der Frage, ob Produkte mit ähnlichen Funktionen überhaupt als Medizinprodukte eingestuft werden müssen oder nicht, zeigt die Entscheidung vor allem Folgendes:

  • Hersteller medizinischer Software sollten sich sehr genau überlegen, wie sie die Zweckbestimmung ihres Produktes fassen und welche Funktionalitäten die Software hat. Hier können sie zumindest in Grenzfällen die Weichen stellen, ob die Software außerhalb des medizinprodukterechtlichen Rahmens entwickelt und vertrieben werden kann, oder ob sie unter die Vorgaben der MDR fällt. Für beides kann es gute Argumente geben, man sollte sich nur der jeweiligen Konsequenzen der Einordnung bewusst sein.
  • Wer sich für die Einordnung als Medizinprodukt entscheidet, sollte genau prüfen, in welche Klasse das Produkt einzuordnen ist – angesprochen ist damit die Regel 11. Hier gibt es einigen Argumentationsspielraum, abhängig von der konkreten Zweckbestimmung, der konkreten Funktionalität des Produktes und der Verwendung der erzeugten Daten. Das wird auch nach dem Urteil des OLG Hamburg, das lediglich einen Einzelfall zu entscheiden hatte, so bleiben.
  • Das praktische Risiko eines gerichtlichen Verbots ist real. Ebenso real ist die Chance, seine eigene Überzeugung der Produkteinordnung mit gerichtlicher Hilfe durchzusetzen. Hier zeigt sich das durchaus scharfe Schwert des deutschen Wettbewerbsrechts und des Wettbewerbsprozesses, insbesondere des Eilrechtsschutzes. Gerade im internationalen Vergleich ist dieses Instrument besonders und wird zuweilen unterschätzt. 

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Betriebsratswahlen in Matrixstrukturen

Mo, 15.07.2024 - 06:11

Das LAG Hessen hat entschieden, dass Matrixmanager das aktive Wahlrecht in jedem Betrieb haben, dessen arbeitstechnischen Zweck sie durch ihre Führungsleistung fördern und in dem sie dadurch eingegliedert sind (Beschluss v. 22. Januar 2024 – 16 TaBV 98/23). 

Im vorliegenden Blogbeitrag erläutern wir die arbeitsrechtlichen Grundlagen von Matrixstrukturen sowie den Hintergrund, den Inhalt und die praktischen Folgen der Entscheidung für Unternehmen und Konzerne, die in einer Matrixstruktur agieren.

Ausgangspunkt: Kennzeichen und Besonderheiten einer Matrixstruktur

Ziel von Matrixstrukturen in Konzernen ist es, eine effiziente Organisation aufzubauen, lange Entscheidungswege zu vermeiden und die Flexibilität zwischen einzelnen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu erhöhen (vgl. Wisskirchen/Block, NZA-Beil. 2017, 90, 90). 

Arbeitsrechtlich ist die Schaffung von Matrix-Strukturen durch eine vom Vertragsarbeitgeber unabhängig gestaltete Arbeitsorganisation gekennzeichnet. Die Arbeitnehmer stehen häufig in zwei oder mehr Weisungsbeziehungen.

(LAG Niedersachsen, Urteil v. 24. Juli 2023 – 15 Sa 906/22

Die zwei wesentlichen Eigenschaften der Matrixstruktur sind also: die Loslösung der arbeitstechnischen und betriebswirtschaftlichen Organisation von der Legalstruktur der Gesellschaften, und die Abkopplung des arbeitgeberseitigen fachlichen Weisungsrechts vom disziplinarischen Weisungsrecht. Das fachliche Weisungsrecht wird in der Matrixstruktur von Dritten – sog. Matrixmanagern oder Line-Managern – innerhalb oder außerhalb des Unternehmens ausgeübt. Damit unterliegen Arbeitnehmer Weisungen sowohl des Vertragsarbeitgebers als auch des Matrixmanagers. 

Spiegelbildlich bestehen zwei Berichtslinien, nämlich eine „solid line“ zum disziplinarisch verantwortlichen Arbeitgeber und eine „dotted line“ zum überwiegend fachlich weisungsbefugten Matrixmanager. 

Der Fall: War Betriebsratswahl wegen Teilnahme nicht örtlich ansässiger Matrixmanager unwirksam?

Zurück zum Sachverhalt der Entscheidung: Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl. Für die streitgegenständliche Betriebsratswahl waren 94 der 997 wahlberechtigen Arbeitnehmer sog. Matrixmanager. Alle waren im Wählerverzeichnis eingetragen, obwohl sie grundsätzlich einem anderen Betrieb der Beklagten angehörten. Die Matrixmanager führten aber Arbeitnehmer des von der Wahl betroffenen Betriebs. An der Betriebsratswahl nahmen 9 dieser Matrixmanager aktiv teil. 

Kern des Verfahrens war, ob die Matrixmanager aktiv wahlberechtigt, d.h. „Arbeitnehmer des Betriebs“ i.S.d. § 7 S. 1 BetrVG waren. Denn nach § 19 Abs. 1 BetrVG kann die Wahl des Betriebsrats angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden ist und eine Berichtigung nicht erfolgt ist (es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte).

Aktive Wahlberechtigung von Matrixmanagern bei Betriebsratswahl abhängig von Eingliederung

Die aktive Wahlberechtigung zu Betriebsratswahlen nach § 7 BetrVG erfordert neben der Arbeitnehmereigenschaft des Betroffenen auch dessen betriebsverfassungsrechtliche Zuordnung zum Betrieb. Diese Zuordnung orientiert sich an der Eingliederung des Betroffenen in den Betrieb. 

Entscheidend dafür sei, so das LAG, ob der Arbeitgeber mithilfe des betroffenen Matrixmanagers den arbeitstechnischen Zweck des Betriebs verfolgt – so hatte es das BAG bereits im Rahmen von § 99 BetrVG entschieden (vgl. BAG, Beschluss v. 12. Juni 2019 – 1 ABR 5/18). Diese Verfolgung der betrieblichen Zwecke wird anhand der Gesamtschau aller Umstände für jeden Betrieb einzeln bewertet. Das LAG Hessen erteilt damit Stimmen in der Literatur eine Absage, die eine Eingliederung (nur) in den Betrieb fordern, in welchem der jeweilige Arbeitnehmer schwerpunktmäßig tätig ist (vgl. Richardi BetrVG/Thüsing BetrVG § 7 Rn. 34). Es wendet sich mithin auch gegen Stimmen in der Literatur, die die BAG-Rechtsprechung für nicht auf das aktive und passive Wahlrecht übertragbar halten (vgl. Salamon/Iser, NZA 2023, 200, 205 f.).

Für die Bewertung, ob der Arbeitgeber mit dem Einsatz des Matrixmanager in einem anderen Betrieb dessen arbeitstechnischen Zweck verfolge, stellt das LAG Hessen klar, dass dies nicht zwingend die disziplinarische Verantwortung der Führungskraft erfordern könne, sondern fachliche Weisungsbefugnisse ausreichen würden. Denn von einer Eingliederung in den Betrieb könne regelmäßig ausgegangen werden, wenn der Matrixmanager regelmäßig mit den Arbeitnehmern des Betriebs zusammenarbeite und im Rahmen dessen seine fachlichen Weisungsbefugnisse wahrnimmt. Unbeachtlich sei ferner die tatsächliche Anwesenheit vor Ort, auch wenn diese ein gewichtiges Indiz für die Eingliederung in den Betrieb darstelle. 

Das bejahte das LAG hier: Im streitgegenständlichen Fall führten die Matrixmanager die Arbeitnehmer im Betrieb unstreitig in fachlicher Hinsicht und waren damit nach Ansicht des LAG in die Erfüllung der operativen Aufgaben und Arbeitsprozesse des Betriebs eingebunden. Unschädlich war sowohl die fehlende disziplinarische Befugnis der Matrixmanager zur Ermahnung, Abmahnung oder Kündigung der Arbeitnehmer als auch die fehlende Anwesenheit vor Ort. Das LAG entschied daher, dass die betroffenen Führungskräfte wegen der Matrixstruktur aktiv wahlberechtigt i.S.d. § 7 BetrVG waren. Die Wahl des Betriebsrats konnte nicht angefochten werden.

Die Entscheidung vereinheitlicht zwar die Maßstäbe von § 7 BetrVG und § 99 BetrVG

Die Entscheidung steht im Einklang mit der o.g. Rechtsprechung des BAG zu § 99 BetrVG (vgl. Beschluss v. 12. Juni 2019 – 1 ABR 5 /18) und setzt diese folgerichtig um. Sie gleicht daher – was positiv ist – die Voraussetzung des aktiven Wahlrechts zu Betriebsratswahlen i.S.d. § 7 BetrVG mit denen der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats i.S.d. § 99 BetrVG an. 

…. Ist aber dennoch kritisch zu sehen

Bedenklich an dieser Rechtsprechungslinie des BAG ist jedoch, dass sie dazu führt, dass Matrixmanager in diversen Betrieben gleichzeitig eingegliedert sein können. 

Die Rechtsprechung des BAG erodiert damit zunehmend den Betriebsbegriff und schafft in der Praxis einen erheblichen Arbeitsaufwand, obwohl auch Betriebsräte erfahrungsgemäß kein besonderes Interesse daran haben, sich mit Personalien zu beschäftigen, die häufig Mitglieder höherer Leitungsebenen sind und die letztlich – auch örtlich – außerhalb ihres Einwirkungsbereichs liegen. 

Kritisch zu sehen an der Entscheidung des LAG ist ferner der Wertungswiderspruch zu § 7 S. 2 BetrVG, wonach die Wahlberechtigung im Fall der Arbeitnehmerüberlassung erst nach drei Monaten entsteht. Es ist nicht überzeugend, wenn die Wahlberechtigung bei Matrixmanagern, die letztlich weniger stark in die Betriebsabläufe eingegliedert sind und in der Regel nicht vor Ort tätig sind, früher beginnen soll, zumal die meisten Matrixmanager wechselnde Teams führen. 

Unklar ist schließlich, wie sich die Rechtsprechung auf die Wählbarkeit eines Matrixmanagers in den Betriebsrat als Kehrseite des Wahlrechts auswirkt (§ 8 BetrVG). Da Matrixmanager nach dem BAG in mehreren Betrieben eingegliedert sein können, wäre folgerichtig, dass sie auch in mehreren Betrieben in den Betriebsrat gewählt werden könnten – eine mögliche Konsequenz der BAG-Rechtsprechung. 

Die Rechtsbeschwerde zum BAG ist zugelassen worden und unter dem Aktenzeichen 7 ABR 7/24 anhängig, doch vor dem Hintergrund der o.g. BAG-Entscheidung ist nicht zu erwarten, dass die gesetzten rechtlichen Maßstäbe durch das BAG gekippt werden. 

Folgen wohl auch für nationale Konzerne

Auch wenn sich die Entscheidung des LAG auf eine unternehmensinterne Matrixstruktur bezog, dürften die angewendeten Maßstäbe auch auf unternehmensübergreifende Matrixstrukturen, z.B. in einem Konzern, übertragbar sein. Für solche Unternehmen und Konzerne bedeutet die Entscheidung, dass die Tätigkeit eines jeden Matrixmanagers anhand des Aufgabenprofils insbesondere danach zu bewerten ist, 

  • ob die Tätigkeit den Zweck eines anderen Betriebs hinreichend fördert und 
  • der Matrixmanager zumindest fachliche Weisungsbefugnisse auf dortige Arbeitnehmer ausübt,
  • ohne dass es dabei zwingend auf disziplinarische Befugnisse oder eine Tätigkeit vor Ort ankäme. 
Auswirkungen auf internationale Konzerne unklar

Darüber hinaus stellt sich noch die Frage, ob die Maßstäbe für die Eingliederung von Matrixmanagern auch auf internationale Konzerne, insbesondere auf im Ausland tätige Matrixmanager anwendbar sind. 

Die Entscheidungen des BAG und des LAG Hessen lassen keine Einschränkungen auf im Inland tätige Matrixmanager erkennen. Dies zugrunde gelegt, könnten unter den o.g. Voraussetzungen auch im Ausland tätige, bei einer ausländischen Gesellschaft angestellte Matrixmanager in inländischen Betrieben eingliedert und mithin wahlberechtigt und ggf. sogar in den Betriebsrat wählbar sein. Das stünde möglicherweise aber der BAG-Rechtsprechung zur Ausstrahlung des BetrVG auf im Ausland tätige Arbeitnehmer entgegen (vgl. insb. BAG, Urteil v. 24. Mai 2018 – 2 AZR 55/18), sodass unklar bleibt, welche rechtlichen Maßstäbe hier anzuwenden sind.

Abschließend: Welche Handlungspflichten bestehen?

In Bezug auf das Wahlrecht der Matrixmanager dürften die Konsequenzen überschaubar sein. Selbst, wenn Matrixmanagern fälschlicher Weise nicht in die Wählerliste aufgenommen würden, würde daraus nicht zwingend die Unwirksamkeit einer Betriebsratswahl folgen: 

Zum einen dürfte eine solche Wahl nur anfechtbar sein, was innerhalb von zwei Wochen geschehen muss, vgl. § 19 Abs. 2 S. 2 BetrVG

Zum anderen müsste der Fehler sich auch auf die Wahl auswirken, d.h. die Möglichkeit eines anderen Wahlergebnisses gegeben sein. Das ist der Fall, wenn es nach allgemeiner Lebenserfahrung und den Umständen des Einzelfalls nicht gänzlich unwahrscheinlich ist, dass das festgestellte Wahlergebnis durch den Fehler der Wählerliste beeinflusst oder geändert worden wäre. 

Wurden z.B. irrtümlich leitende Angestellte auf eine Wählerliste gesetzt, kommt eine Wahlanfechtung nicht in Betracht, wenn die leitenden Angestellten nicht oder nur in so geringem Umfang an der Wahl teilgenommen haben, dass das Ergebnis der Wahl von ihrer Beteiligung mit Sicherheit nicht beeinflusst werden konnte (vgl. Besgen, in: BeckOK ArbR, § 19 BetrVG Rn. 12). Das könnte auf den hiesigen Fall übertragbar sein.

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UPC: Abseitserkennung darf genutzt werden – EM nicht gefährdet

Fr, 12.07.2024 - 13:04

Der „Video Assisted Referee“ (VAR) wird gerade während der Fußball EM heiß diskutiert. Doch auch jenseits des Fußballplatzes sorgt das Thema für (rechtlichen) Zündstoff. So hatte die Ballinno B.V. (ein niederländischer Patentverwerter) einen Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen i.S.d. Art. 32 Abs. 1 lit. c) Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) u.a. gegen die UEFA am 18. April 2024 bei der Lokalkammer Hamburg des Einheitlichen Patentgerichts (Unified Patent Court, UPC) anhängig gemacht.

Der Antrag hat die unbefugte Nutzung des durch das europäische Patent EP 1 944 067 B1 (EP‘067) geschützten Gegenstands u.a. durch die UEFA zum Gegenstand. Anspruch 1 des EP‘067 schützt ein Verfahren zur Erkennung eines Ballkontakts durch Erfassen eines (beim Schuss) vom Ball erzeugten Schallsignals. Das Schallsignal wird mit einem vorgegebenen Signal verglichen. Sofern eine Übereinstimmung festgestellt wird, wird dem Schiedsrichter ein Erkennungssignal übermittelt. Die Erfindung dient der verbesserten Erkennung einer Abseitssituation. Aufgrund dessen kann sie als Erweiterung des VAR angesehen werden.

Die Lokalkammer Hamburg den Antrag zurückgewiesen. Die Abseitserkennung kann und konnte daher während der EM regulär genutzt werden.

Fehlende Dringlichkeit

Im Wesentlichen lässt es die Lokalkammer an der fehlenden Dringlichkeit scheitern. Bereits nach dem eigenen Vortrag der Antragstellerin hatte ihre Rechtsvorgängerin Kenntnis der von Kinexon (dem Technologiepartner der UEFA hinsichtlich der „Connected Ball Technology“) angebotenen „Connected Ball Technology“ seit September 2023. Diese Kenntnis sei der Antragstellerin zuzurechnen. Auf Grundlage dessen hatte die Rechtsvorgängerin der Antragstellerin bereits am 19. Oktober 2023 eine Abmahnung an Kinexon ausgesandt. Mitte November 2023 lehnte Kinexon Lizenzverhandlungen mit der Rechtsvorgängerin der Antragstellerin ab. Nach der Lokalkammer Hamburg stand daher bereits im November 2023, zwei Monate nach Kenntnisnahme der möglichen Verletzung, fest, dass eine gütliche Beilegung der Angelegenheit nicht in Betracht kommt.

Ferner führte die Antragstellerin aus, dass ihre Rechtsvorgängerin am 4. Dezember 2023 die Ankündigung der UEFA erlangt habe, nach der Kinexons „Connected Ball Technology“ während der EM 2024 zur Anwendung kommen solle, zur Kenntnis nahm, ebenso wie die Bestätigung seitens Kinexon.

Erst im Februar 2024 hat die Antragstellerin ein YouTube-Video zur „Connected Ball Technology“ analysiert, das die vermeintlich verletzende Ausführungsform zeigt. Dieses Video war bereits seit dem 30. November 2022 öffentlich abrufbar. Auch die Hinzuziehung eines Sachverständigen seitens der Antragstellerin im März 2024 und die Einreichung des Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen beim UPC unmittelbar nach Erstattung des Sachverständigengutachtens lässt nach der Ansicht der Lokalkammer Hamburg die Dringlichkeit nicht wiederaufleben. Es sei hier eine Gesamtbetrachtung des Verhaltens der Antragstellerin vorzunehmen, das insgesamt dringlichkeitsschädlich gewesen sei.

Aus der Entscheidung der Lokalkammer Hamburg folgt für die Dringlichkeit: Sobald ein Patentinhaber Kenntnis von der angeblichen Patentverletzung hat, muss er dieser nachgehen, die erforderlichen Maßnahmen zur Klärung ergreifen und die erforderlichen Unterlagen beschaffen. Erfolgen auf Seiten des Patentinhabers für einen längeren Zeitraum (hier fast drei Monate) keine nennenswerten Anstrengungen zur Klärung der möglichen Patentverletzung, so ist davon auszugehen, dass der Patentinhaber die Sache nicht mit der erforderlichen Dringlichkeit behandelt hat.

Fehlende hinreichende Überzeugung von einer Patentverletzung

Zudem ist die Lokalkammer Hamburg nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugt, dass das Klagepatent durch die Antragsgegner verletzt wird. Nach vorläufiger Einschätzung seien die Ansprüche 1 und 8 des Klagepatents weder unmittelbar noch mittelbar verletzt. Bzgl. einer äquivalenten Patentverletzung fehle es bereits an substantiiertem Vortrag der Antragstellerin. Diesbezüglich schließt sich die Lokalkammer Hamburg ausdrücklich der maßgeblichen ersten Entscheidung des Berufungsgerichts an, nach der es nicht nur hinreichend wahrscheinlich sein muss, dass der Antragsteller dazu befugt ist, den Verfügungsantrag zu stellen, sondern auch, dass das Klagepatent bereits verletzt wurde oder eine Verletzung erstmalig droht.

Keine Ausführungen zum Rechtsbestand und zur Haftung der UEFA für eine mögliche mittelbare Patentverletzung

Da bereits die Dringlichkeit nicht gegeben war und eine Patentverletzung nicht hinreichend wahrscheinlich ist, konnte die Lokalkammer Hamburg offen lassen, ob es das Klagepatent als wahrscheinlich rechtsbeständig ansieht. Dasselbe gilt für eine mögliche Haftung der UEFA als mittelbare Patentverletzerin. Eine Abwägung der jeweiligen Interessen der Parteien und eine Bewertung der Interessenabwägung war daher nach Ansicht der Lokalkammer Hamburg im vorliegenden Fall nicht erforderlich.

EM kann wie geplant stattfinden; sonstige wichtige Erkenntnisse aus der Entscheidung

Aufgrund der Entscheidung der Lokalkammer Hamburg konnte und kann die „Connected Ball Technology“ während der EM wie geplant zum Einsatz kommen und strittige Abseitsszenen entschärfen.

Patentinhaber sind (auch) vor dem UPC gehalten, die Sachverhaltsaufklärung zügig zu betreiben, sofern sie einen Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen stellen möchten. Zudem ist die hinreichende Dokumentation des Verletzungsvorwurfs erforderlich, die es dem UPC ermöglicht, auch im summarischen Verfügungsverfahren eine Prognose hinsichtlich der Patentverletzung anzustellen.

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Ab wann die KI-VO gilt

Fr, 12.07.2024 - 08:53

Nach der Verabschiedung der „Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz“ (KI-VO) durch das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union wurde diese am 12. Juli 2024 im Amtsblatt der europäischen Union veröffentlicht. Damit ist ein langer Weg mit zähen Verhandlungen abgeschlossen, der 2021 mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine unionsweite Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI) begann.

Die KI-VO wird am 20. Tag nach der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten. Als europäische Verordnung wird sie zwar unmittelbar in allen 27 Mitgliedstaaten gelten, für den Geltungsbeginn sieht die KI-VO aber ein abgestuftes und nicht leicht zu durchdringendes System von Übergangsfristen und Ausnahmeregeln vor. Mit diesem Blog-Beitrag geben wir einen Überblick über die wichtigsten Fristen, die nun gelten.

Ausgangspunkt: Geltung nach 24 Monaten

Der Großteil der Bestimmungen der KI-VO wird erst nach einer 24-monatigen Übergangsfrist und damit ab dem 2. August 2026 (Allgemeiner Anwendbarkeit) anwendbar sein. Innerhalb dieses Zeitraums werden die zahlreichen Begleitmaßnahmen wie delegierte Rechtsakte, Leitlinien und Standards veröffentlicht und die europäische KI-Governance-Struktur aufgebaut, um eine einheitliche, rechtssichere und koordinierte Umsetzung und Durchsetzung der KI-VO zu gewährleisten.

Verkürze Übergangsfrist von 6 Monaten für die verbotenen Praktiken

Die KI-VO zeichnet sich durch einen risikobasierten und abgestuften regulatorischen Ansatz aus, der auch in der Ausgestaltung der Übergangsfristen zum Ausdruck kommt. Vereinfacht kann gesagt werden, dass die Bestimmungen der KI-VO umso früher Anwendung finden, je höher das Risiko ist, das von der jeweiligen Kategorie der KI ausgeht.

Aus diesem Grund finden die Bestimmungen über die verbotenen Praktiken im KI-Bereich (Art. 5 KI-VO) bereits ab dem 2. Februar 2025, d.h. 6 Monate nach Inkrafttreten Anwendung (Art. 113 S. 2 lit. a) KI-VO).

Zu diesen verbotenen Praktiken zählen KI-Systeme, die der Emotionserkennung am Arbeitsplatz und in Schulen, dem Social Scoring, teilweise auch Predictive Policing, der Manipulation menschlichen Verhaltens oder dem Ausnutzen menschlicher Schwachstellen dienen, sowie KI-Systeme, die auf sensiblen Merkmalen basierende biometrische Kategorisierungssysteme, das ungezielte Gesichtsbilder-Scraping im Internet sowie sog. Closed-Circuit Television-Aufnahmen mit dem Ziel der strategischen Erstellung einer Gesichtserkennungsdatenbank vornehmen.

Verkürze Übergangsfrist von 12 Monaten für KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck, Governance und Sanktionen

Bereits ab dem 2. August 2025, d.h. 12 Monate nach Inkrafttreten, finden die nachfolgenden Kapitel bzw. Art. der KI-VO Anwendung (Art. 113 S. 2 lit. b) KI-VO):

  • Kapitel III Abschnitt 4 (Notifizierende Behörden und notifizierende Stellen)
  • Kapitel V (KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck)
  • Kapitel VII (Governance)
  • Kapitel XII (Sanktionen) mit Ausnahme von Art. 101
  • Art. 78 (Vertraulichkeit)

Für Unternehmen besonders relevant ist hier die Vorverlagerung der in Kapitel V geregelten Pflichten der Anbieter* von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck. Dabei ist zu beachten, dass ein Verstoß gegen diese Pflichten aufgrund des Ausschlusses des Art. 101 KI-VO von der Vorverlagerung erst ab dem Zeitpunkt der allgemeinen Anwendbarkeit sanktioniert bzw. bußgeldbewehrt ist.

Verlängerte Übergangsfrist von 36 Monate für bestimmte Hochrisiko-KI-Systeme

Als letzte Ausnahme vom allgemeinen Geltungsbeginn sieht Art. 113 S. 2 lit. c) KI-VO vor, dass die Regelungen für bestimmte Hochrisiko-KI-Systeme im Sinne des Art. 6 Abs. 1 KI-VO ab dem 2. August 2027, d.h. 36 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO gelten. Bei diesen KI-Systemen handelt es sich um solche, die ein von den in Anhang I der KI-VO genannten Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union erfasstes Produkt oder ein Sicherheitsbauteil eines solchen Produkts sind und die darüber hinaus vor dem Inverkehrbringen einem Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte unterzogen werden.

Sonderregeln für bereits in Verkehr gebrachte KI

Darüber hinaus im sind im Zusammenhang mit den Übergangsfristen die in der KI-VO vorgesehenen Bestandsschutzregelungen für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der KI-VO bereits in Verkehr gebrachte KI-Systeme und KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck zu beachten.

Leider hat es der europäische Gesetzgeber versäumt, die Bestandsschutzregeln in Art. 111 KI-VO klar zu formulieren, sodass derzeit eine gewisse Rechtsunsicherheit besteht. Es kann zwar erwartet werden, dass die Europäische Kommission hier in den nächsten Monaten mit Leitlinien nachsteuert. Derzeit sollten aber die Bestimmungen des Art. 111 KI-VO restriktiv ausgelegt werden.

Bestandsschutz für KI-Systeme als Bestandteil bestimmter IT-Großsysteme

Am eindeutigsten ist noch die erste Bestandsschutzregelung des Art. 111 Abs. 1 KI-VO formuliert. Demnach müssen KI-Systeme, die Bestandteile bestimmter durch EU-Recht geschaffener IT-Großsysteme in den Bereichen Freiheit, Sicherheit und Recht sind und vor dem 2. August 2027, d.h. 36 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO, in der EU in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, erst bis zum 31. Dezember 2030 den Bestimmungen der KI-VO entsprechen. Ein Beispiel für ein solches IT-Großsystem ist etwa das Schengener Informationssystem.

Bestandsschutz für Betreiber von Hochrisiko-KI-Systemen

Von zentraler praktischer Bedeutung ist die Bestandschutzregel des Art. 111 Abs. 2 KI-VO, welche Sonderregeln für Betreiber von Hochrisiko-KI-Systemen aufstellt. Im Grundsatz findet die KI-VO auf Betreiber von Hochrisiko-KI-Systemen, die vor dem 2. August 2025 in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen wurden, keine Anwendung.

Dieser Bestandsschutz gilt aber nicht, wenn die Hochrisiko-KI-Systeme „in ihrer Konzeption erheblich verändert wurden″. Mit dieser Begrifflichkeit dürfte der in Art. 25 KI-VO in Zusammenhang mit Hochrisiko-KI-Systemen angeführte Begriff der „wesentlichen Veränderung″ dieser Systeme gemeint sein. Derzeit ist jedoch unklar, wann dies der Fall ist, zumal es in der KI-VO keine Legaldefinition der Begriffe gibt. Die KI-VO sieht aber in Art. 96 Abs. 1 lit. c) KI-VO ausdrücklich vor, dass die EU-Kommission Leitlinien zur praktischen Durchführung der Bestimmungen über wesentliche Veränderungen erlassen kann.

Bestandschutz für Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck

Nicht eindeutig formuliert ist die Bestandsschutzregelung des Art. 111 Abs. 3 KI-VO. Danach müssen Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck, die vor dem 2. August 2025 (d.h. 12 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO) in Verkehr gebracht wurden, bis zum 2. August 2027 (d.h. 36 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO), „die erforderlichen Maßnahmen″ treffen, um die in der KI-VO festgelegten Verpflichtungen zu erfüllen.

Zunächst ist festzuhalten, dass diese Regelung keinen Bestandsschutz gewährt, sondern vielmehr eine Verschiebung bestimmter Fristen für die Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck darstellt. Systematisch hätte Art. 111 Abs. 3 KI-VO daher besser zu den eigentlich abschließend in Art. 113 KI-VO geregelten Bestimmungen über den Beginn der Anwendung gepasst. Zudem ist unklar, auf welche Pflichten sich Art. 113 Abs. 3 KI-VO bezieht. Vom bloßen Wortlaut her könnte die Bestimmung so verstanden werden, dass für die Anbieter erst ab dem genannten Zeitpunkt sämtliche Pflichten der KI-VO gelten. Nach Sinn und Zweck dürften damit aber nur die Anbieterpflichten aus Kapitel 5 Abschnitt 2 und 3 KI-VO gemeint sein.

Fristen spiegeln risikobasierten Ansatz wider

Die KI-VO erhält ein komplexes System von Fristen und Übergangsregelungen. Dieses ist im Wesentlichen Ausdruck des risikobasierten Ansatzes, der die KI-VO durchzieht. Hinsichtlich der Bestandsschutzregelungen besteht derzeit zum Teil noch erhebliche Rechtsunsicherheit. Insofern bleibt zu hoffen, dass die Europäische Kommission zeitnah entsprechende Leitlinien erlässt, um mehr Klarheit zu schaffen.

Vereinfach kann diese Fristensystem wie folgt dargestellt werden:

Haben Sie Anregungen zu weiteren Themen rund um KI, die in unserer Blog-Serie „Künstliche Intelligenz“ nicht fehlen sollten? Schreiben Sie uns gerne über blog@cms-hs.com.

Unseren englischsprachigen Ausblick auf die KI-VO finden Sie hier: Looking ahead to the EU AI Act (cms.law).

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Interne Untersuchungen – Wieso, weshalb, warum?

Do, 11.07.2024 - 12:33

Die interne Untersuchung (abgeleitet vom dem aus dem US-amerikanischen stammenden Begriff der „Internal Investigation“) ist als wesentliches Aufklärungsinstrument ein wichtiger, mittlerweile fest etablierter Baustein im Compliance Management System – aus guten Gründen. Mit dem Hinweisgeberschutzgesetz und dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hat die sachgemäße Aufklärung erneut an Bedeutung gewonnen. Die interne Untersuchung birgt rechtliche Stolpersteine an den zahlreichen Schnittstellen insbesondere zum Datenschutz-, Arbeits- und Strafrecht. Für Unternehmen bieten sich aber auch erhebliche Chancen. 

Compliance braucht ein angemessenes Compliance Management System 

Im deutschen Recht ist die Grundlage für interne Untersuchungen die Legalitätspflicht der Geschäftsleitung und des Unternehmens. Die Geschäftsleitung ist aufgrund ihrer Organstellung dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass keine Rechtsverletzungen im oder aus dem Unternehmen heraus begangen werden. 

Um die Compliance des Unternehmens zu gewährleisten, müssen angemessene organisatorische Vorkehrungen zur systematischen Vermeidung von Fehlverhalten und Gesetzesverstößen durch Mitarbeiter* getroffen werden. Ein effektives Compliance Management System orientiert sich an der Größe, Struktur und Risikogeneigtheit des jeweiligen Unternehmens. Im Einzelnen haben sich Vorkehrungen bewährt – und bilden heute einen Marktstandard – die folgende Elemente enthalten: Vorbeugen (Prevent), Aufdecken (Detect), Reagieren (Respond) und Verbessern (Improve). 

Gelangen einem Unternehmen Hinweise zur Kenntnis, die auf rechtswidriges Verhalten von Unternehmensangehörigen hindeuten (Verdachtsfall), ist die Unternehmensleitung in aller Regel verpflichtet, angemessene Maßnahmen zur Aufklärung einzuleiten und eine interne Untersuchung zu veranlassen, um ihre Aufsichtspflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Anhaltendes Fehlverhalten ist unmittelbar abzustellen und festgestelltes Fehlverhalten ist angemessen zu sanktionieren (sog. Pflichtentrias). 

Die interne Untersuchung klärt etwaige Verdachtsfälle auf

Das wichtigste und wirkungsvollste Instrument zur Aufklärung Compliance-relevanter hinreichender Verdachtsmomente ist die anlassbezogene interne Untersuchung. 

Oft liefert ein interner Hinweis den Anstoß für eine interne Untersuchung, aber auch regelmäßige Überprüfungen können der erste Schritt sein. Die interne Untersuchung umfasst alle strukturierten Maßnahmen eines Unternehmens zur ergebnisoffenen Aufklärung eines Verdachtsmoments im Einzelfall, der auf in oder aus dem Unternehmen heraus begangene Gesetzesverstöße oder Straftaten hindeutet. 

Somit dient eine interne Untersuchung auch dem tatsächlichen Nachweis etwaigen Fehlverhaltens. Damit stellt sie die informationelle Grundlage für sachgerechte Entscheidungen über Reaktionsmaßnahmen dar. Solche Maßnahmen können sein:

  • die Geltendmachung von zivil-, arbeits-, versicherungsrechtlichen Ansprüchen,
  • die Abwehr von straf- bzw. ordnungsrechtlichen Sanktionen, oder jedenfalls die Minimierung der Haftung von Unternehmen und Unternehmensleitung sowie die Eindämmung potentiell reputationsschädigender staatlicher Ermittlungsmaßnahmen, 
  • Maßnahmen zur Verbesserung des Compliance Management Systems. 
Gesetzliche Vorgaben fehlen

Die Zulässigkeit von internen Untersuchungen ist allgemein anerkannt. Die rechtliche Grundlage für die Untersuchungen ist die im deutschen Gesellschaftsrecht verankerte Legalitätspflicht des Unternehmens und der Geschäftsleitung (§ 91 Abs. 2 AktG oder §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG und § 43 Abs. 1 GmbHG). Im Hinblick auf das „Ob“ der Aufklärung kommt der Geschäftsleitung grundsätzlich kein Ermessen zu (Ausnahmen sind möglich, sofern ein Fortdauern des Rechtsverstoßes oder eine künftige Wiederholung auch ohne interne Untersuchung mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann).

Allerdings ist der Ablauf einer internen Untersuchung gesetzlich nicht festgelegt. So steht das „Wie“ der internen Untersuchung im Ermessen der Geschäftsleitung. Die Wahl der Aufklärungsmethode und der Untersuchungsmaßnahmen begründet eine unternehmerische Entscheidung, die in den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule fällt (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG). 

Die interne Untersuchung kann losgelöst von, vor oder parallel zu behördlichen Ermittlungsverfahren durchgeführt werden. 

Die interne Untersuchung besteht abhängig vom Einzelfall aus verschiedenen Phasen. Mittlerweile haben sich Best Practices entwickelt. Anerkannte Aufklärungshandlungen sind die umfassende Auswertung von Daten und Dokumenten, die Befragung in Form von Interviews und die Durchführung von Hintergrundrecherchen. Bedeutsam ist dabei eine ordnungsgemäße Dokumentation auch für eine spätere gerichtsfeste Verwertung. 

Die interne Untersuchung birgt rechtliche Stolpersteine …

Die Legalitätspflicht gilt auch für die interne Untersuchung selbst, welche selbst Compliance-Maßnahme ist und nicht zu non-compliance führen darf. Bei der Durchführung der internen Untersuchung sind die gesetzlichen Grenzen stets zu beachten. Insbesondere das Datenschutz- und das Arbeitsrecht sind hier hervorzuheben, da sie einige Fallstricke bei der Durchführung interner Untersuchungen bieten. Unternehmen haben keine hoheitlichen Ermittlungsbefugnisse und Verstöße gegen einschlägige gesetzliche Vorgaben können zu individueller Strafbarkeit, Bußgeldern und Reputationsschäden führen.

Eine gute Vorbereitung und Planung der internen Untersuchung, sowie die Unabhängigkeit der ermittelnden Personen sind deshalb essenziell. So sind regelmäßig strukturelle Vorarbeiten auf Seiten des Unternehmens erforderlich. Aufgrund der Komplexität oder aufgrund von (potentiellen) Interessenkonflikten werden häufig externe Rechtsanwälte mit der Durchführung einer internen Untersuchung beauftragt. Sie können die Rechtmäßigkeit der Untersuchung gewährleisten und die Befunde für das Unternehmen unmittelbar rechtlich einordnen. 

… und bietet maßgebliche Chancen

Ein wesentlicher Vorteil ist die Möglichkeit durch etwaig aufgedeckte Defizite das interne Compliance Management System des Unternehmens systematisch verbessern zu können. Das führt oftmals zur Abwendung größerer Schäden. 

Die interne Untersuchung und der unternehmensinterne Umgang mit ihrem Ergebnis ist darüber hinaus wesentlich für die Festigung einer positiven Compliance-Kultur im Unternehmen, in der Speak-up gefördert und gutgläubig abgegebene Hinweise ernst genommen werden sowie festgestelltes Fehlverhalten abgestellt und angemessen sanktioniert wird. Dies trägt wesentlich zum langfristigen Unternehmenserfolg bei.

Ein weiterer großer Vorteil interner Untersuchungen besteht in der Aussicht auf eine Honorierung durch Aufsichts- und Ermittlungsbehörden. Durch die interne Untersuchung gewonnene entlastende Informationen kann das Unternehmen zu seinen Gunsten anführen. Aber auch belastende Informationen können die Basis für eine Kooperation mit den Aufsichts- oder Ermittlungsbehörden bilden. Der Informationsaustausch kann den Weg bereiten für die Einstellung eines laufenden Ermittlungsverfahrens, für den Abschluss einer Vergleichsvereinbarung oder zumindest für maßvolle Ermittlungsmaßnahmen. So hat der Bundestagsausschuss für Wirtschaft und Technologie bereits im Jahr 2012 in Bezug auf die Sanktionsnorm § 30 OWiG vertreten, ein effektives Compliance Management könne bußgeldmildernd zu berücksichtigen sein (BT-Drucks. 17/11053, S. 21). 

Der BGH hat dies wiederholt bestätigt (BGH, Urteil v. 27. April 2022 – 5 StR 278/21; BGH, Urteil v. 9. Mai 2017 – 1 StR 265/16). Schließlich bildet das Nachtatverhalten eine wesentliche Säule in der Bemessung von Strafen und Geldbußen.

Strafanzeige 

Grundsätzlich sind Unternehmen gesetzlich nicht verpflichtet, Fehlverhalten von Mitarbeitern oder Organmitgliedern oder ein ihnen straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlich zuzurechnendes Fehlverhalten bei der Strafverfolgungsbehörde anzuzeigen (mit Ausnahme weniger gesetzlicher Regelungen). 

Zu beachten ist jedoch, dass es aufgrund einer sorgfältigen Abwägung im Einzelfall im Interesse des Unternehmens sein kann, den Sachverhalt gegenüber den staatlichen Ermittlungsbehörden anzuzeigen. 

Davon zu unterscheiden sind Offenlegungspflichten und -obliegenheiten des Unternehmens gegenüber Fachbehörden oder Geschäftspartnern. Besonders hervorzuheben ist etwa die Berichtigungspflicht einer abgegebenen Steuererklärung (§ 153 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO).

Fazit: Interne Untersuchungen als Teil der Compliance

Die interne Untersuchung spielt eine wichtige Rolle im unternehmensinternen Compliance Management System und erfüllt eine präventive als auch eine repressive Funktion. So bleibt festzuhalten – Compliance lohnt sich! 

In den nächsten Wochen folgen vertiefende Beiträge zum detaillierten Ablauf der Untersuchungen, Interviews, Arbeitsrecht, Datenschutz, Amnestie, der Bedeutung von ESG und vielem mehr. 

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Kein Widerrufsrecht bei vollständiger Erfüllung des Darlehensvertrags

Mi, 10.07.2024 - 09:55

Die Thematik des Widerrufsrechts bei Verbraucherkreditverträgen hat inzwischen in der europäischen und nationalen Rechtsprechung eine regelrechte Flut an Entscheidungen zutage gefördert. Eine entscheidende Wende in der Betrachtung des Widerrufsrechts brachte das Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2023 (Rechtssache C-38/21, C-47/21 und C-232/21) in den Fällen gegen die BMW Bank u.a. Dieses Urteil hat weitreichende Implikationen für Darlehensnehmer* und -geber innerhalb der Europäischen Union geschaffen.

Grundsätzlich besteht bei Verbraucherkreditverträge ein Widerrufsrecht

Gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge steht Verbrauchern grundsätzlich das Recht zu, innerhalb von 14 Tagen nach Vertragsabschluss den Kreditvertrag ohne Angabe von Gründen zu widerrufen. Dieses Widerrufsrecht soll Verbrauchern die Möglichkeit geben, die finanziellen Verpflichtungen eines Kreditvertrags zu überdenken und gegebenenfalls ohne Sanktionen von diesem zurückzutreten.

In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass dieses Widerrufsrecht häufig missbraucht wird und es bei seiner Anwendung zahlreiche komplexe Fragestellungen gibt, insbesondere im Zusammenhang mit der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags.

Die Rolle des Widerrufsrechts bei vollständiger Erfüllung

Eine zentrale Frage, die sich in der Praxis häufig stellt, ist, ob ein Darlehensnehmer auch nach der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags, d.h. nach Rückzahlung aller geschuldeten Beträge, noch ein Widerrufsrecht hat.

In den dem Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegenden Verfahren hatten mehrere Darlehensnehmer ihre Verträge mit ihrer Bank widerrufen, nachdem sie diese bereits vollständig erfüllt hatten. Die Bank lehnte den Widerruf ab und argumentierte, dass nach der vollständigen Erfüllung des Vertrags kein Widerrufsrecht mehr bestehe. Die Darlehensnehmer beriefen sich jedoch darauf, dass die Widerrufsbelehrungen fehlerhaft gewesen seien, und forderten die Rückabwicklung des Vertrags und eine Rückerstattung der gezahlten Beträge.

EuGH: Zweck des Widerrufsrechts wird bei vollständiger Erfüllung des Darlehensvertrags obsolet

In seinem Urteil stellte der EuGH klar, dass das Widerrufsrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/48/EG nach der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags nicht mehr ausgeübt werden kann. Der EuGH stellte fest, dass der Zweck des Widerrufsrechts, dem Verbraucher eine nachträgliche Überprüfung seiner Entscheidung zu ermöglichen, mit der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags obsolet wird. Ab dem Zeitpunkt, an dem der Darlehensnehmer seine vertraglichen Verpflichtungen vollständig erfüllt hat, besteht für ihn keine Notwendigkeit mehr, den Vertrag zu widerrufen, da er bereits alle Zahlungen geleistet hat und somit die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers entfallen ist.

Diese Entscheidung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH, der ebenfalls klargestellt hat, dass nach der vollständigen Erfüllung eines Darlehensvertrags kein Widerrufsrecht mehr besteht. Der BGH führte aus, dass mit der Erfüllung des Vertrags alle Ansprüche aus dem Vertragsverhältnis erledigt sind und der Vertrag damit „abgewickelt“ ist. Ein Widerruf sei daher weder möglich noch sinnvoll, da das Widerrufsrecht darauf abzielt, den Vertrag rückabzuwickeln und den Verbraucher in die Lage zu versetzen, die vertraglich erbrachten Leistungen zurückzufordern.

Widerrufsbelehrungen sollten weiterhin klar, vollständig und gesetzeskonform verfasst werden

Die Entscheidungen schaffen erneut Klarheit über den Umfang des Widerrufsrechts und beenden die Unsicherheit darüber, ob und in welchem Umfang ein Darlehensnehmer nach vollständiger Erfüllung des Vertrags noch Rechte geltend machen kann.

Banken und andere Kreditinstitute müssen daher sicherstellen, dass die Widerrufsbelehrungen klar, vollständig und gesetzeskonform sind, um spätere Streitigkeiten zu vermeiden. Insbesondere müssen sie darauf achten, dass alle erforderlichen Pflichtangaben gemäß den Bestimmungen der Richtlinie 2008/48/EG enthalten sind, um die ordnungsgemäße Belehrung des Verbrauchers sicherzustellen.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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EuGH zur Gewährung von Ruhezeit

Di, 09.07.2024 - 08:50

Durch die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie) sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, eine Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer* durch die Gewährung von täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten zu gewährleisten. Demzufolge sieht Art. 3 Arbeitszeitrichtlinie eine tägliche Ruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden und Art. 5 Arbeitszeitrichtlinie eine wöchentliche Ruhezeit von 24 zusammenhängenden Stunden vor.

Im deutschen Recht wurde die Arbeitszeitrichtlinie mit der Ruhezeit gemäß § 5 ArbZG und der Sonntags- und Feiertagsruhe gemäß § 9 ArbZG umgesetzt. Mit Urteil vom 2. März 2023 (Az. C-477/21) traf der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Entscheidung zum Verhältnis zwischen der täglichen Ruhezeit und der wöchentlichen Ruhezeit und setzt sich zudem mit wichtigen Vorgaben zur Lage der Ruhezeiten auseinander.

Lokführer wünscht tägliche Ruhezeit von immer mindestens elf zusammenhängenden Stunden 

Der Entscheidung lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Ein ungarischer Lokführer klagte gegen die Entscheidung seiner Arbeitgeberin, einer ungarischen Eisenbahngesellschaft, ihm keine tägliche Ruhezeit von mindestens elf zusammenhängenden Stunden zu gewähren, wenn diese tägliche Ruhezeit einer wöchentlichen Ruhezeit vorausgeht oder dieser nachfolgt. Die Arbeitgeberin gewährte dem Arbeitgeber nämlich nur dann eine tägliche Ruhezeit, wenn zwischen zwei Arbeitsphasen maximal 24 Stunden lagen. Wenn zwischen beiden Arbeitsphasen (z.B. aufgrund von Urlaub) ein längerer Zeitraum lag, gewährte die Arbeitgeberin die tägliche Ruhezeit nicht zusätzlich. 

Die Arbeitgeberin meinte, die tägliche Ruhezeit stehe dem Arbeitnehmer nur zu, wenn auf die Ruhezeit auch eine Arbeitsphase folge. Zudem rechtfertigte sie ihre Entscheidung damit, dass der Arbeitnehmer nicht schlechter gestellt werde. Aufgrund einschlägiger tarifvertraglicher Regelungen erhalte er ohnehin eine wöchentliche Ruhezeit von mindestens 42 Stunden, die sogar wesentlich höher sei als die von Art. 3 der Arbeitszeitrichtlinie vorgegebenen wöchentlichen Ruhezeit von 24 Stunden.

Anspruch auf tägliche Ruhezeit zusätzlich zur wöchentlichen Ruhezeit 

Der EuGH lehnte die Auffassung der Arbeitgeberin allerdings ab und stellte in seiner Entscheidung zunächst fest, dass die tägliche Ruhezeit und die wöchentliche Ruhezeit zwei unterschiedliche Rechte darstellen, die getrennt voneinander zu gewähren seien. Arbeitgeber müssen die tägliche Ruhezeit daher stets zusätzlich zur wöchentlichen Ruhezeit gewähren.

Dies begründet der EuGH damit, dass beide Ruhezeiten unterschiedliche Ziele verfolgen:

  • Die tägliche Ruhezeit solle es den Arbeitnehmern ermöglichen, sich für eine bestimmte Anzahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch unmittelbar an eine Arbeitsphase anschließen müssen, aus ihrer Arbeitsumgebung zurückzuziehen, um sich zu erholen.
  • Die wöchentliche Ruhezeit hingegen diene dem Ausruhen der Arbeitnehmer in jedem siebentägigen Arbeitszeitraum.

Arbeitgeber haben die tatsächliche Inanspruchnahme beider Rechte sicherzustellen, da diese das in Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta verankerte Grundrecht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen verwirklichen und in dessen Lichte stets zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. 

Keine Verrechnung der Ruhezeiten

Darüber hinaus ist den Arbeitnehmern nach Auffassung des EuGH innerhalb eines jeden siebentägigen Zeitraums eine zusammenhängende Gesamtruhezeit von 35 Stunden einzuräumen. Diese Gesamtruhezeit ergibt sich aus einer Kombination von 24 Stunden wöchentlicher Ruhezeit und 11 Stunden täglicher Ruhezeit. 

Die Ruhezeiten dürfen daher keinesfalls miteinander verrechnet werden. Wenngleich den Arbeitnehmern – wie im zu entscheidenden Fall – eine längere wöchentliche Ruhezeit als 24 Stunden gewährt wird, kann hierdurch nicht das davon unabhängige Recht der Arbeitnehmer auf die tägliche Ruhezeit reduziert werden. Dies gilt zum Schutz der Arbeitnehmer selbst dann, wenn das jeweilige nationale Recht eines Mitgliedsstaats, ein Tarifvertrag oder der Arbeitsvertrag eine längere wöchentliche Ruhezeit als die Mindestdauer von 24 Stunden vorsehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil v. 4. Juni 2020 – C-588/18) darf nämlich die Ausübung solcher eigenen Befugnisse gerade nicht dazu führen, dass der den Arbeitnehmern durch die Arbeitszeitrichtlinie gewährleistete Mindestschutz beeinträchtigt und insbesondere das Recht zur tatsächlichen Inanspruchnahme der täglichen Ruhezeit ausgehöhlt wird.

Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie im deutschen Recht

Im deutschen Recht wurde die wöchentliche Ruhezeit mit der Sonn- und Feiertagsruhe in § 9 Abs. 1 ArbZG umgesetzt. Die Besonderheit der Festlegung des Tages, an dem die wöchentliche Ruhezeit nach Art. 5 Arbeitszeitrichtlinie genommen werden soll, folgt aus dem besonderen verfassungsrechtlichen Sonn- und Feiertagsschutz in Deutschland. Die tägliche Ruhezeit von 11 Stunden ist in § 5 Abs. 1 ArbZG normiert. Damit wird im ArbZG – entsprechend der Entscheidung des EuGH – bereits klargestellt, dass die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit voneinander getrennt zu betrachtende und somit autonome Rechte sind.

Zudem wird durch § 11 Abs. 4 ArbZG bestimmt, dass die Sonn- und Feiertagsruhe sowie der Ersatzruhetag nach § 11 Abs. 3 ArbZG den Arbeitnehmern unmittelbar in Verbindung mit der täglichen Ruhezeit nach § 5 ArbZG zu gewähren sind, soweit technische oder arbeitsorganisatorische Gründe nicht entgegenstehen. Mit der zusätzlich auch für Feiertage vorgesehenen Ruhezeit geht die Regelung in § 11 Abs. 4 ArbZG sogar über die Vorgaben der Richtlinie hinaus.

Gewährleistung der täglichen Ruhezeiten unmittelbar nach der Arbeitsphase 

Zudem stellt der EuGH praxisrelevante Vorgaben zur Lage der täglichen Ruhezeit auf: Arbeitnehmern, denen eine wöchentliche Ruhezeit gewährt wird, ist auch eine tägliche Ruhezeit zu gewähren, die dieser wöchentlichen Ruhezeit vorausgeht. Nach einer Arbeitsphase ist den Arbeitnehmern sofort eine tägliche Ruhezeit zu gewähren. Dies gilt unabhängig davon, ob sich an die tägliche Ruhezeit eine Arbeitsphase anschließt oder nicht. In den Fällen, in denen die tägliche und die wöchentliche Ruhezeit zusammenhängend gewährt werden, darf die wöchentliche Ruhezeit erst nach Inanspruchnahme der täglichen Ruhezeit beginnen.

Durch diese Feststellungen weicht der EuGH teilweise von der bisherigen Rechtsprechung des BAG ab. Da die tägliche Ruhezeit laut EuGH sofort im Anschluss an jede Arbeitsphase gewährt werden muss, ist es entgegen der Auffassung des BAG (Urteil v. 16. September 2020 – 7 AZR 491/19) nicht mehr möglich, die tägliche Ruhezeit „lediglich“ irgendwann innerhalb eines Zeitraums von 24 Stunden nach Beginn der Arbeitsphase zu gewähren. Vielmehr muss sich die tägliche Ruhezeit nahtlos an die Arbeitsphase anschließen.

BAG könnte Rechtsprechung zu Ruhezeiten ändern

Von erheblicher praktischer Relevanz ist die Entscheidung des EuGH im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des BAG, wonach die Ruhezeit (§ 5 ArbZG) durch diverse Arten der Freistellung von der Arbeitspflicht gewährt werden kann. Bislang galten danach sowohl die Gewährung von Urlaub als auch die Gewährung eines Freizeitausgleichs für geleistete Überstunden als Ruhzeiten i.S.d. § 5 ArbZG (vgl. BAG, Urteil v. 23. Mai 2018 – 5 AZR 303/17; BAG, Urteil v. 22. Juli 2010 – 6 AZR 78/09; BAG, Urteil v. 13. Februar 1992 – 6 AZR 638/89). 

Nach derzeitiger Auffassung des BAG dürfe sich die tägliche Ruhezeit mit Zeiten eines gewährten Urlaubs oder Freizeitausgleichs überschneiden. Die Ruhezeit könne durch sämtliche Zeiten der Freizeit verwirklicht werden und müsse daher nicht etwa vor Beginn des Erholungsurlaubs zusätzlich gewährleistet werden. Die deutsche Regelung zu den täglichen Ruhezeiten (§ 5 ArbZG) gebe nämlich nicht vor, inwiefern Arbeitgeber sicherstellen müssen, dass die Arbeitnehmer nach Beendigung einer Arbeitsphase während der Dauer der gesetzlichen Ruhezeit keine Arbeitsleistung erbringen. Es komme lediglich darauf an, dass den Arbeitnehmern ermöglicht werde, sich von den Auswirkungen der vorangegangenen Arbeitsphase zu erholen, um für die darauf folgende Arbeitsphase ausgeruht zu sein (vgl. BAG, Urteil v. 23. Mai 2018 – 5 AZR 303/17).

Folgt man den seitens des EuGH aufgestellten Grundsätzen, könnte dies jedoch eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BAG zur Folge haben. Der EuGH stellt zwar – lediglich pauschal – fest, dass sich die tägliche Ruhezeit an jede Arbeitsphase anschließen muss und zusätzlich zu einer sich anschließenden wöchentlichen Ruhezeit zu gewährleisten ist. Mangels einer ausdrücklichen Feststellung bleibt hingegen unklar, ob die tägliche Ruhezeit nach Ansicht des EuGH auch zusätzlich vor Beginn eines Urlaubs oder eines Freizeitausgleichs zu gewährleisten ist.

Jedoch würde für ein solches Verständnis sprechen, dass sich die Vorlagefrage auf sämtliche Zeiten von sich anschließender Freizeit bezog und der EuGH die unterschiedlichen Ziele der Ruhezeiten eingehend betont. Wenn mit der wöchentlichen Ruhezeit bereits ein anderes Ziel verfolgt wird als mit der täglichen Ruhezeit (vgl. oben), so können auch weiteren arbeitsfreien Phasen unterschiedliche Erholungszwecke zugesprochen werden: Der Urlaub soll die langfristigere Erholung der Arbeitnehmer von sich regelmäßig wiederholenden Arbeitsphasen über einen längeren Zeitraum, die nur durch die gesetzlichen täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten unterbrochen werden, gewährleisten. Der Freizeitausgleich hingegen dient der Erholung von Arbeitsphasen, die über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinausgehen. In allen Fällen liegt also jeweils eine andere Zielsetzung der arbeitsfreien Zeiten vor. Vor diesem Hintergrund erscheint es – in Anlehnung an die vom EuGH aufgestellten Grundsätze – nur konsequent, dass auch der Urlaub / Freizeitausgleich unterschiedliche Rechte darstellen, die getrennt voneinander zu gewähren sind.

Gegen ein solches Verständnis könnte aber angeführt werden, dass der EuGH explizit nur die tägliche und wöchentliche Ruhezeit als autonome und getrennt voneinander zu gewährleistende Rechte benennt. Ferner könnte argumentiert werden, dass die Erholung als solche – unabhängig von deren konkreten Anlass – sämtlichen arbeitsfreien Phasen immanent ist.

Letztlich bleibt eine endgültige Klärung dieser Frage dem EuGH vorbehalten. Ungeachtet dessen bleibt abzuwarten, ob das BAG an seiner bisherigen Rechtsprechung, nach der sich die tägliche Ruhezeit auch mit einem Urlaub oder Freizeitausgleich überschneiden könne, festhalten wird oder die Entscheidung des EuGH zum Anlass nimmt, diese abzuändern.

Überprüfung der Arbeits- und Ruhezeiten im Unternehmen erforderlich

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz mit Bußgeldern von bis zu EUR 30.000 geahndet werden können, sollten Arbeitgeber die Entscheidung des EuGH zum Anlass nehmen, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften im Unternehmen zu überprüfen:

  • Insbesondere muss gewährleistet werden, dass sich eine tägliche Ruhepause unmittelbar an jede Arbeitsphase anschließt.
  • Zudem sollte darauf geachtet werden, dass die Sonn- und Feiertagsruhe gemäß § 9 ArbZG (wöchentliche Arbeitszeit) eingehalten wird und diese in Kombination mit der (täglichen) Ruhezeit gemäß § 5 ArbZG in einem siebentägigen Zeitraum zu einer ununterbrochenen Gesamtruhezeit von mindestens 35 zusammenhängenden Stunden führt.
  • Risikoscheue Arbeitgeber sollten ferner – jedenfalls bis zu einer klarstellenden Entscheidung – darauf achten, dass die tägliche Ruhezeit auch vor Phasen des Freizeitausgleichs und des Erholungsurlaubs zusätzlich gewährt wird.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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KI-Verordnung – Einfluss auf M&A-Transaktionen

Mo, 08.07.2024 - 06:44

Der Entwurf des Gesetzes über Künstliche Intelligenz (KI-Verordnung, AI Act) wirft seine Schatten voraus. Er wird voraussichtlich noch in diesem Sommer in Kraft treten und danach stufenweise zur Anwendung kommen. 

Die Einsatzmöglichkeiten von KI sind so vielfältig wie die Unternehmen, in denen KI zum Einsatz kommen kann. Auswirkungen hat die KI-Verordnung daher nicht nur für Unternehmen aus der Tech-Branche, sondern grundsätzlich für alle Unternehmen, die Berührungspunkte zu KI-Systemen haben. Mit der erstmaligen Regulierung solcher KI-Systeme durch die KI-Verordnung auf europäischer Ebene ergeben sich neue Compliance-Anforderungen für potenzielle Targets sowie daraus resultierende Risiken, die es für einen potenziellen Käufer oder Investor zu bewerten und abzusichern gilt.

Entwicklung, Einsatz und Vertrieb von KI-Systemen zukünftig Teil der Due Diligence

Die Due Diligence im Rahmen von M&A-Transaktionen wird sich daher zukünftig auch auf die Entwicklung, den Einsatz oder den Vertrieb von KI-Systemen durch das potenzielle Target erstrecken müssen. Die Einsatzfelder der KI-Systeme müssen hierfür zunächst aus technischer Sicht identifiziert werden, um die daraus resultierenden rechtlichen Anforderungen und Pflichten für das Target zu bestimmen. 

Dabei gilt es entlang der Bestimmungen der künftigen KI-Verordnung herauszuarbeiten, ob KI-Systeme beispielsweise im Rahmen verbotener Praktiken eingesetzt werden (z.B. zur Manipulation von Nutzern), als „Hochrisiko-KI-Systeme“ (z.B. im Bereich der kritischen Infrastrukturen) einzustufen sind oder für die Interaktion mit natürlichen Personen zur Anwendung kommen. Abhängig vom Einsatzfeld und der Anwendungsweise der KI-Systeme können sich aus der KI-Verordnung zukünftig weitreichende Compliance-Pflichten ergeben. Die Nichteinhaltung solcher Pflichten wird durch die KI-Verordnung mit erheblichen Bußgeldern belegt sein. Diese Risiken gilt es mittels einer für das potenzielle Target zugeschnittenen Due Diligence zukünftig zu identifizieren und zu bewerten.

Um die Relevanz der Thematik überhaupt einschätzen zu können, sollten etwaige Berührungspunkte mit KI-Systemen zukünftig im Rahmen einer Due Diligence Request List standardmäßig abgefragt werden.

Vertragsgestaltung

Wie bei M&A-Transaktionen üblich, wird sich ein Käufer oder ein Investor je nach Risikoprofil des Targets gegen mögliche abstrakte oder konkrete Risiken aus dem Einsatz von KI-Systemen absichern wollen. 

Etwaige Pflichten aus der KI-Verordnung werden sich in der Regel dem Bereich der Corporate Compliance zuordnen lassen. Unternehmenskauf- oder Beteiligungsverträge enthalten insoweit häufig allgemeine „Compliance-Garantien“, die (nach Kenntnis des Verkäufers) die Einhaltung aller anwendbaren (und wesentlichen) Vorschriften und Bestimmungen durch das Target zusichern. Bestandteil einer solchen Compliance-Garantie wäre daher grundsätzlich auch die Einhaltung der KI-Verordnung sowie der darauf basierenden nationalen Gesetze (soweit diese bereits jeweils anwendbar sind). 

Abhängig vom Risikoprofil des Targets und der Ausgestaltung der allgemeinen Compliance-Garantie kann es jedoch sachgerecht sein, sich die Einhaltung der KI-Verordnung und insbesondere die ordnungsgemäße Einrichtung eines spezifischen Compliance-Systems garantieren zu lassen. Darüber hinaus wird man sich unter Umständen auch zusichern lassen müssen, dass das Target innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor Abschluss der Verträge keine Mitteilungen der zuständigen KI-Aufsichtsbehörden erhalten hat. Insoweit kann man sich an der gängigen Praxis zur Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen orientieren. 

Sofern das Target im Rahmen der Due Diligence die Aussage trifft, keine KI-Systeme im Sinne der KI-Verordnung zu verwenden, kann auch diese Aussage durch eine Garantie abgesichert werden. Dies erscheint vor allem dann interessant, wenn man bereits jetzt sicherstellen möchte, dass das Target mit seinem derzeitigen Geschäftsmodell voraussichtlich nicht in den zukünftigen Anwendungsbereich der KI-Verordnung fallen wird. 

Wurden im Rahmen der Due Diligence konkrete Risiken aus dem Einsatz von KI-Systemen oder sogar Verstöße gegen Compliance-Anforderungen identifiziert, wird man sich vertraglich über eine Risikoverteilung zwischen Verkäufer und Käufer einigen müssen.

W&I-Versicherung: Ist das Risiko der KI-Nutzung versicherbar?

Vor dem Hintergrund der Versicherbarkeit möglicher Risiken wird es spannend sein, wie sich W&I-Versicherer zukünftig zu diesem Themenfeld positionieren. 

Auf erste Anfrage stehen W&I-Versicherer diesem Thema grundsätzlich offen gegenüber. Für eine Versicherbarkeit entsprechender Garantien soll es darauf ankommen, dass sich das zugrundeliegende Risiko zu einem gewissen Grad prüfen lasse. Für Garantien mit einem technischen Inhalt komme ggfs. nur eine wissensqualifizierte Deckung des Risikos in Frage. Die vollständige Deckung eines technischen KI-Risikos setze in Abhängigkeit von der konkreten Garantie unter Umständen einen technischen Scan im Rahmen der Due Diligence voraus, wie dies bei Open Source Software Garantien bereits praktiziert wird. Denkbar erscheine aber auch eine Due Diligence durch Experteninterviews, Nutzerfeedback und -umfragen, historische Leistungsdaten und Compliance-Audits.

Für die Deckung KI-spezifischer Risiken wird es also auch hier auf eine spezifische Due Diligence und einen darauf abgestimmten Underwriting-Prozess ankommen. 

KI-Verordnung schon jetzt im Blick behalten

Auch wenn die KI-Verordnung derzeit noch keine Anwendung findet, sollten ihre zukünftigen Auswirkungen auf die Corporate Compliance potenzieller Targets bereits jetzt berücksichtigt werden. 

Um diese Auswirkungen aus Sicht eines Käufers oder Investors besser einschätzen zu können, kann bereits jetzt eine spezifische Due Diligence sinnvoll sein. Darüber hinaus ist individuell zu prüfen, wie mögliche Risiken auch vertraglich abgesichert werden können. 

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Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht 

Do, 04.07.2024 - 08:43

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen, Entwicklungen und Erwartungen, die fortschreitende Digitalisierung ebenso wie Anforderungen unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit stellen Unternehmen vor stets neue Herausforderungen. Getreu dem Leitsatz „Stillstand ist Rückschritt“ gilt es, die unternehmensinternen Prozesse sowie die Ausrichtung am Markt immer wieder neu zu überdenken und an die geänderten Gegebenheiten anzupassen. Transformationsprozesse sind unverzichtbar, um die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und dadurch Arbeitsplätze zu erhalten. Welche Fallstricke dabei aus Arbeitgebersicht zu beachten sind, wird in der aktuellen Blog-Serie „Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht“ näher beleuchtet.

„Spielarten“ der Umstrukturierung / Transformation

Auch wenn vor allem die Insolvenzen namhafter Kaufhausketten und anderer Firmen in den Schlagzeilen der Tageszeitungen erscheinen, sind Transformationsprozesse keineswegs auf derartige Szenarien beschränkt. Die Palette der zur Verfügung stehenden Transformations- bzw. Umstrukturierungsmaßnahmen ist groß und hängt schlussendlich von den unternehmenseigenen Bedürfnissen ab. Neben strukturellen Veränderungen auf Unternehmens- und / oder Betriebsebene kommt beispielsweise auch die aktuell unter dem Schlagwort „Re-“ bzw. „Upskilling“ diskutierte gezielte Fort- und Weiterbildung der eigenen Belegschaft als geeignetes Instrument in Betracht.

Umstrukturierungen bewegen sich an der Schnittstelle verschiedener Rechtsgebiete. Betriebsverfassungsrechtlich können Maßnahmen wie die Stilllegung von Betrieben oder Betriebsteilen sowie deren Einschränkung oder Verlegung ebenso wie die Spaltung oder der Zusammenschluss von Betrieben als „Betriebsänderung“ anzusehen sein, die nur nach den gesetzlichen Vorgaben der §§ 111 ff. BetrVG umgesetzt werden darf.

Herausforderungen für Arbeitgeber

Sämtlichen Konstellationen ist immanent, dass getroffene Entscheidungen nicht „am grünen Tisch“ verbleiben, sondern Änderungen auf betrieblicher oder unternehmerischer Ebene z.T. weitreichende Konsequenzen für die Belegschaft nach sich ziehen können. Dies gilt insbesondere aber nicht nur in den Fällen, in denen die geplante Umstrukturierung den Ausspruch von Kündigungen fordert. Für Arbeitgeber* bedeutet das, im Spannungsfeld zwischen Aufrechterhaltung und Optimierung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit auf der einen und den Belangen der Mitarbeiter auf der anderen Seite Balance zu finden und dabei die komplexen rechtlichen Anforderungen an die geplanten Maßnahmen im Blick zu behalten.

Solide Planung ist der Grundstein

Unerlässlich für einen erfolgreichen Transformationsprozess ist eine solide und umfassende Planung des gesamten Projekts. Ausgangspunkt ist hierbei die Festlegung, wie das Unternehmen bzw. der Konzern aus Sicht des Arbeitgebers zukunftssicher ausgerichtet werden soll. Die entsprechende unternehmerische Entscheidung ist aufgrund der in Art. 12, 14 und 2 Abs. 1 GG verankerten unternehmerischen Freiheit verfassungsrechtlich geschützt und somit gerichtlich nur eingeschränkt im Rahmen einer Willkürkontrolle überprüfbar (vgl. hierzu zuletzt BAG, Urteil v. 28. Februar 2023 – 2 AZR 227/22). Auf deren Basis sind sodann die weiteren Schritte und Maßnahmen zur Umsetzung des unternehmerischen Zielbilds unter Berücksichtigung wirtschaftlicher, finanzieller, aber auch rechtlicher Aspekte auszuarbeiten.

Frühzeitige Vorbereitung der weiteren Maßnahmen

Essenzieller Bestandteil der strategischen Planung ist außerdem, die herausgearbeiteten Maßnahmen schon frühzeitig von vorne bis hinten zu durchdenken, um böse Überraschungen zu vermeiden. Ist die geplante Umstrukturierung etwa mit der Entlassung von Arbeitnehmern verknüpft, kann es schon in der Planungsphase sinnvoll sein, eine Sozialauswahl durchzuspielen, um sich von Vornherein – insbesondere vor dem Einstieg in etwaig erforderliche Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern – über die personellen Konsequenzen der unternehmerischen Planung bewusst zu werden. Oftmals kristallisiert sich auf diese Weise noch Änderungsbedarf mit Blick auf die avisierten Umstrukturierungsmaßnahmen heraus.

Anreize zur freiwilligen Aufhebung von Arbeitsverträgen können durch ein (den weiteren Umstrukturierungsmaßnahmen vorgeschaltetes) Freiwilligenprogramm gesetzt werden. Derartige Programme sind aus Arbeitgebersicht oft nicht nur sinnvoll, um zeit- und kostenintensive Kündigungsschutzprozesse zu reduzieren oder im Idealfall komplett zu vermeiden. Aufgrund ihres auf Freiwilligkeit basierenden Charakters können sie insbesondere auch die Akzeptanz des Personalabbaus innerhalb der Belegschaft stärken und einem etwaigen Reputationsverlust in der Öffentlichkeit entgegenwirken.

Einbindung der Arbeitnehmervertreter / Interessenausgleich und Sozialplan

Der Erfolg und die Akzeptanz eines Umstrukturierungsprojekts in der Belegschaft hängen nicht zuletzt auch von der Mitwirkung und effektiven Einbindung der Arbeitnehmervertreter ab. Erfüllt die geplante Umstrukturierung die gesetzlichen Voraussetzungen an eine Betriebsänderung, sind die Schritte der Betriebsratsbeteiligung in den §§ 111 ff. BetrVG im Einzelnen vorgegeben. Demnach ist der Betriebsrat nicht nur frühzeitig über die geplanten Maßnahmen zu unterrichten, die Betriebsparteien haben vielmehr auch den Abschluss eines Interessenausgleichs zu versuchen, in dem das „Ob“, „Wann“ und „Wie“ der geplanten Maßnahmen festgehalten werden. 

Etwaige wirtschaftliche Nachteile, die den Arbeitnehmern infolge der avisierten betriebsändernden Maßnahmen entstehen, sind durch den Abschluss eines Sozialplans, auszugleichen / abzumildern, in dem typischerweise Regelungen zur Zahlung von Abfindungen oder sonstigen Ausgleichsleistungen enthalten sind. Oftmals sehen Sozialpläne außerdem vor, dass von dem Verlust ihres Arbeitsplatzes betroffene Arbeitnehmer vorübergehend in eine Transfergesellschaft wechseln können. Hierbei handelt es sich um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das im Idealfall zur Vermittlung von Arbeitnehmern „aus Arbeit in Arbeit“ unter Vermeidung einer Zwischenphase der Arbeitslosigkeit führen soll. Hinter der Transfergesellschaft stehen dabei zumeist spezialisierte Anbieter, deren Aufgabe es ist, Arbeitnehmern durch das Angebot von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen die Suche nach einer neuen Beschäftigung zu erleichtern. Um in diesem Zusammenhang von den entsprechenden Förderungsmöglichkeiten durch die Agentur für Arbeit Gebrauch machen zu können, ist es für Arbeitgeber essenziell, die einschlägigen sozialrechtlichen Vorgaben und Voraussetzungen nach dem SGB III zu kennen.

Obgleich die Rechtsprechung den Betriebsparteien bei der Ausgestaltung von Sozialplänen Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume zugesteht, müssen die im Sozialplan getroffenen Regelungen den gesetzlichen Vorgaben, insbesondere dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG genügen. Dies kann insbesondere bei der Ausgestaltung sogenannter „Kappungsgrenzen“ zur Deckelung der Sozialplanabfindung (s. hierzu BAG, Urteil v. 11. Oktober 2022 – 1 AZR 129/21) relevant werden.

Zusätzliche Voraussetzungen im Falle von Massenentlassungen

Werden die im KSchG genannten Schwellenwerte überschritten, kann eine Betriebsänderung auch (ausschließlich) durch Personalabbau begründet werden. Da es sich in diesen Fällen regelmäßig um Massenentlassungen handelt, sind bei der Umsetzung der geplanten Maßnahmen zusätzlich die Voraussetzungen des § 17 KSchG zu beachten. 

Das heißt für Arbeitgeber vor allem, den Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens über die in § 17 Abs. 2 KSchG genannten Eckpunkte der beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich zu informieren und mit den Arbeitnehmervertretern etwaige Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. In der Praxis wird das Konsultationsverfahren zumeist mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich und Sozialplan verbunden.

Eine Kehrtwende zeichnet sich aktuell für die Rechtsprechung zum Thema Massenentlassungsanzeige ab, die Arbeitgeber vor etwaigen Entlassungen, d. h. insbesondere vor dem Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen bei der Agentur für Arbeit einzureichen haben. Als sicher geglaubte Grundsätze werden hier derzeit nicht zuletzt durch die Entscheidung des EuGH vom 13. Juli 2023 (C-134/22) in Zweifel gezogen. Im Fokus steht dabei die Frage, welche Konsequenzen sich aus dem gänzlichen Ausbleiben oder Fehlern bei der Erstattung einer Massenentlassungsanzeige ergeben.

Dass nach dem sechsten nunmehr auch der zweite Senat des BAG den EuGH zur (Vorab-)Entscheidung in diesem Zusammenhang angerufen hat (BAG, Urteil v. 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 [A]), illustriert, dass hier das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist.

Lassen Sie sich bei Umstrukturierungsmaßnahmen von Legal-Tech aushelfen

Nicht selten bringen Umfang und Komplexität der geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen Stifte, Zettel und Excel-Tabellen in den Personalbüros an ihre Grenzen. Hier kann der gezielte und koordinierte Einsatz von Legal-Tech-Lösungen einen entscheidenden Vorteil bringen. Tools wie der CMS AbfindungsrechnerCMS Select oder der Restrukturierungsmanager sind auf die unternehmensseitigen Bedürfnisse bei Umstrukturierungen zugeschnitten und so konzipiert, dass sie Arbeitgeber rechtssicher und einfach während des gesamten Projektverlaufs unterstützen.

Fazit 

Die Blogserie „Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht“ gibt Einblick in wesentliche arbeitsrechtliche Aspekte einer Unternehmensumstrukturierung.

Der vorstehende Kurzüberblick zeigt – Transformationsprozesse sind vielfältig. Gleichwohl gibt es grundlegende Fragestellungen, mit denen Arbeitgeber während des Prozessverlaufs regelmäßig konfrontiert werden. In unserer Blogserie „Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht“ zeigen wir auf, worauf es in den einzelnen Phasen – von der initialen Planung bis hin zur Umsetzung – ankommt und geben Ihnen das Rüstzeug für ein erfolgreiches Projekt mit auf den Weg.

Das erwartet Sie in der Serie zur Transformation:

Dabei werden die im „Auftakt“ skizzierten Punkte anhand der folgenden Beiträge vertieft:

  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Wirtschaftliche (Vor-)Überlegungen und Möglichkeiten durch CMS Advisory
  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Strategische Planung
  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Vorgeschaltetes Freiwilligenprogramm
  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Interessenausgleich und Sozialplan
  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Massenentlassungen und die Konsultation des Betriebsrats
  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Einrichtung einer Transfergesellschaft
  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Die Massenentlassungsanzeige
  • Chancen durch Transformation: Fokus Arbeitsrecht – Die Sozialauswahl 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Erneute Entscheidung des BGH zum Widerruf von Kfz-Darlehensverträgen

Di, 02.07.2024 - 11:49

In einem Urteil vom 4. Juni 2024 hat der BGH erneut zum Widerrufsrecht im Zusammenhang mit Verbraucherdarlehensverträgen im Kfz-Bereich Stellung genommen (Az.: XI ZR 113/21). Das Urteil betrifft insbesondere die Anforderungen an die Widerrufsinformationen. 

Dieser Beitrag beleuchtet die Hintergründe der Entscheidung, die wesentlichen Grundsätze des Urteils und zieht ein Fazit zur Bedeutung dieser Entscheidung für Verbraucher und Banken.

Verbraucher widerrief Kfz-Darlehensvertrag 

Der Fall betraf einen Verbraucher, der im Februar 2017 ein gebrauchtes Fahrzeug für 21.890 € kaufte und zur Finanzierung einen Darlehensvertrag über 7.890 € mit einem Zinssatz von 4,88% p.a. abschloss. Wegen der Einzelheiten des Vertrags wird auf das Urteil verwiesen.

Der Verbraucher, der Kläger in diesem Fall, widerrief seine Willenserklärung zum Abschluss des Darlehensvertrags im August 2019, was von der Bank als verfristet zurückgewiesen wurde. Nachdem das Landgericht die Klage abgewiesen und das Berufungsgericht die Klage zurückgewiesen hatte, hatte sich der BGH mit der Frage zu beschäftigen, ob und bis zu welchem Zeitpunkt dem Kläger ein Widerrufsrecht zustand. 

BGH: Bank durfte sich auf Gesetzlichkeitsfiktion des Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 3 EGBGB berufen

Das Urteil des BGH bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz und wies die Revision des Klägers zurück.Dem Kläger stand zwar bei Abschluss des Darlehensvertrags gemäß § 495 Abs. 1 i.V.m. § 355 BGB ein Widerrufsrecht zu und die Widerrufsfrist begann nicht zu laufen, bevor der Kläger die Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB erhalten hatte. Dies war aber vorliegend bei Abschluss des Darlehensvertrags im Februar 2017 der Fall, so dass der Widerruf im August 2019 verspätet war.

Der BGH stellte im Rahmen seiner Entscheidung fest, dass die von der Bank erteilten Widerrufsinformationen den gesetzlichen Anforderungen entsprachen. Insoweit konnte sich die Beklagte auf die Gesetzlichkeitsfiktion des Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 3 EGBGB berufen, weil die in dem Darlehensvertrag in hervorgehobener und deutlich gestalteter Form enthaltene Widerrufsinformation dem Muster in Anlage 7 zu Art. 247 § 6 Abs. 2 und § 12 Abs. 1 EGBGB in der vom 21. März 2016 bis zum 14. Juni 2021 geltenden Fassung entsprach.Abweichungen hinsichtlich Format und Schriftgröße sind zulässig (Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 5 EGBGB). Dies gilt auch für die Anwendung der Gestaltungshinweise 2, 2a, 5, 5a, 5b, 5c, 5f und 5g. Dass es sich bei dem Darlehensvertrag und dem Kaufvertrag um verbundene Verträge nach § 358 BGB gehandelt hat, hat die Beklagte in der Widerrufsinformation unter der Zwischenüberschrift „Besonderheiten bei weiteren Verträgen“ zutreffend angegeben und den Klammerzusatz in Gestaltungshinweis 2a verwendet. 

Der Anwendung der Gesetzlichkeitsfiktion des Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 3 EGBGB steht – was der BGH mit Urteil vom 27. Februar 2024 (XI ZR 258/22) entschieden und im Einzelnen begründet hat – das Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2023 (C-38/21, C-47/21 und C-232/21, BMW Bank u.a.) nicht entgegen.

Art des Darlehens

Bei einem Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag* im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/48/EG (Verbraucherkreditrichtlinie) muss gegebenenfalls klar und verständlich angegeben werden, dass es sich um einen verbundenen Darlehensvertrag handelt und dass dieser Vertrag als befristeter Vertrag geschlossen worden ist. 

Dabei genügte vorliegend die Angabe der Laufzeit des Vertrages sowie die Angaben unter der Überschrift „Besonderheiten bei weiteren Verträgen“.

Fehler in Unterrichtung über Verzugszinssatz lässt Widerrufsfrist nicht weiterlaufen

Zwar hat die Beklagte ihre aus § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 11 EGBGB resultierende Verpflichtung, über den Verzugszinssatz und die Art und Weise seiner etwaigen Anpassung zu unterrichten, nicht ordnungsgemäß erfüllt. Dies stellt allerdings keinen Belehrungsfehler dar, der das Anlaufen der Widerrufsfrist hindert.

Nach der Rechtsprechung des BGH erfordert bei Allgemein-Verbraucherdarlehensverträgen im Anwendungsbereich der Verbraucherkreditrichtlinie die Information über den Verzugszinssatz neben der Angabe der Art und Weise seiner etwaigen Anpassung auch die Angabe des zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden konkreten Prozentsatzes (BGH, Urteil v. 27. Februar 2024 – XI ZR 258/22). Dem hat die Beklagte nicht genügt, weil sie lediglich darauf hingewiesen hat, dass der Verzugszinssatz für das Jahr fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz betrage und der Basiszinssatz jeweils zum 1. Januar und zum 1. Juli eines Jahres ermittelt werde.

Allerdings hinderte dies das Anlaufen der Widerrufsfrist nicht. Ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Verbraucher in der Lage des Klägers hätte den streitgegenständlichen Darlehensvertrag auch abgeschlossen, wenn ihm bei Vertragsschluss über die im Vertrag enthaltenen Angaben hinaus auch der zu diesem Zeitpunkt geltende konkrete Verzugszinssatz mitgeteilt worden wären (vgl. BGH, Urteil v. 27. Februar 2024 – XI ZR 258/22).

Vorfälligkeitsentschädigung

Des Weiteren machte der Kläger ohne Erfolg geltend, dass die von der Beklagten erteilten Angaben zur Berechnungsmethode des Anspruchs auf Vorfälligkeitsentschädigung (§ 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB) nicht ordnungsgemäß waren.

Nach der Rechtsprechung des BGH ist die hier erforderliche Information klar und verständlich, wenn der Darlehensgeber die für die Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung wesentlichen Parameter in groben Zügen benennt. Daran hält er auch auf der Grundlage des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2023 (C-38/21, C-47/21 und C-232/21, BMW Bank u.a fest.

Die von der Beklagten erteilten Angaben genügten den Anforderungen in Art. 10 Abs. 2 Buchst. r der Verbraucherkreditrichtlinie, weil die Entschädigung mit einem Betrag von 75 € pauschaliert wurde und dem Darlehensnehmer den Nachweis der Entstehung eines geringeren Schadens oder dessen Ausbleibens eröffnete.

Kündigung

Soweit nach § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5EGBGB zu den vorgeschriebenen Pflichtangaben, von deren Erteilung der Beginn der Widerrufsfrist abhängt, auch das „einzuhaltende Verfahren bei der Kündigung des Vertrags“ gehört, gilt dies nicht für die Information über das außerordentliche Kündigungsrecht nach Information über das Kündigungsrecht gemäß § 500 Abs. 1 BGB. Auf das dem Kläger nach § 500 Abs. 2 BGB zustehende Recht zur vorzeitigen Rückzahlung des Darlehens wurde er klar und verständlich hingewiesen.

Bank erfüllt auch weitere Vorgaben zu Pflichtangaben

Ordnungsgemäß erteilt wurden zudem:

  • die erforderliche Pflichtangabe gemäß § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 4 EGBGB über den Zugang des Verbrauchers zu einem außergerichtlichen Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren und gegebenenfalls zu den Voraussetzungen für diesen Zugang
  • die Angabe der zuständigen Aufsichtsbehörde nach § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EGBGB (hier: Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht)
  • der Hinweis auf den Anspruch des Darlehensnehmers auf einen Tilgungsplan. Eines besonderen Hinweises auf die Kostenfreiheit bedurfte es hier nicht.

Ebenso ist der Hinweis entbehrlich, dass der Darlehensnehmer in Höhe des ausgezahlten Betrags von seiner Verbindlichkeit auf Bezahlung des Kaufpreises befreit wird.

Mehr Rechtsklarheit für Widerrufsinformationen

Die Entscheidung des BGH unterstreicht die Bedeutung korrekter und vollständiger Widerrufsinformationen bei Verbraucherdarlehensverträgen. Verbraucher müssen sich darauf verlassen können, dass ihnen alle notwendigen Informationen zum Widerrufsrecht rechtzeitig und vollständig mitgeteilt werden, um ihre Rechte wirksam ausüben zu können. Für Banken bedeutet dies, dass sie sicherstellen müssen, dass ihre Widerrufsinformationen den gesetzlichen Vorgaben entsprechen, um spätere Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.

Dieses Urteil stärkt die Rechtsklarheit und schützt sowohl Verbraucher als auch Banken vor rechtlichen Unsicherheiten. Es zeigt auch, wie wichtig es ist, bei der Vertragsgestaltung und -prüfung die gesetzlichen Anforderungen genau einzuhalten, um Rechtsstreitigkeiten und damit verbundene Kosten zu vermeiden. Banken sollten stets genau prüfen, ob alle erforderlichen Angaben in ihren Darlehensverträgen enthalten sind und sich im Zweifel rechtzeitig rechtlichen Rat einholen.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Verlustverrechnungsbeschränkung: Verfassungsmäßigkeit bei Termingeschäften zweifelhaft

Fr, 28.06.2024 - 13:38

Zunächst hatte nur das Finanzgericht Rheinland-Pfalz erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Verlustverrechnungsbeschränkung für Termingeschäfte (Futures, Forwards, Options, Swaps) geäußert. Der Bundesfinanzhof hat die Zweifel mit seiner Entscheidung vom 7. Juni 2024 (Az. VIII B 113/23 (AdV)) bestätigt. Verlustverrechnungsbeschränkung in Höhe von EUR 20.000 führt zu einer ungleichen Behandlung von Gewinnen und Verlusten aus Termingeschäften. 

Termingeschäfte sind Finanzgeschäfte, bei denen der Zeitpunkt der Erfüllung in der Zukunft liegt

Unter Termingeschäfte fallen Spekulationen auf die Kursentwicklung von Aktien, Währungen, Rohstoffen oder anderen Basiswerten. Ein Beispiel für ein Termingeschäft ist ein sogenannter Differenzkontrakt (CFD), bei dem Sie nur einen Bruchteil des Basiswerts als Sicherheit hinterlegen müssen, aber den vollen Gewinn oder Verlust aus der Kursdifferenz realisieren, oder auch z.B. Optionen, Futures, auch in Form von Kryptowerten. Die Gewinne und Verluste aus Termingeschäften gehören zu den Einkünften aus Kapitalvermögen und unterliegen bei einkommensteuerpflichtigen Personen grundsätzlich der Abgeltungsteuer in Höhe von 25 % (zzgl. Solidaritätszuschlag und ggf. Kirchensteuer). 

Was ist die Verlustverrechnungsbeschränkung?

Seit dem Veranlagungszeitraum 2021 gilt jedoch eine Beschränkung für die Verrechnung von Verlusten aus Termingeschäften nach § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG, sodass Verluste aus Termingeschäften nur bis zu einem Betrag von EUR 20.000 pro Jahr mit Gewinnen aus Termingeschäften oder Einnahmen aus Stillhalterprämien verrechnet werden können. Nicht verrechnete Verluste können in spätere Veranlagungszeiträume vorgetragen werden, unterliegen aber der gleichen Verrechnungsbeschränkung. 

Verlustverrechnungsbeschränkung verfassungswidrig

Der Gesetzgeber begründet diese Ungleichbehandlung von Gewinnen und Verlusten aus Termingeschäften mit dem spekulativen Charakter dieser Geschäfte, der zu einer Begrenzung der Anlagevolumina und der damit verbundenen Risiken für die Anleger* führen soll.  

Initial hatte das Finanzgericht Rheinland-Pfalz in einem Beschluss vom 5. Dezember 2023 (Az. 1 V 1674/23) die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheids ausgesetzt, der die Verlustverrechnungsbeschränkung für Termingeschäfte anwendet. Allerdings hatte das Finanzamt Beschwerde gegen die Entscheidung zum Bundesfinanzhof eingelegt, welcher die Beschwerde als unbegründet zurückwies. 

Die Antragsteller, ein Ehepaar, hatten im Jahr 2021 hohe Gewinne und Verluste aus CFD-Investitionen erzielt, die das Finanzamt anstatt vollständig, nur in Höhe von EUR 20.000 verrechnet hatte. Die Steuerfestsetzung führte zu einer effektiven Steuer von über 100 % der tatsächlich erzielten Gewinne. Das Finanzgericht und der Bundesfinanzhof haben ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung geäußert, die zu einer Verletzung des Gleichheitssatzes und des Leistungsfähigkeitsprinzips führt. 

Update – Bei summarischer Prüfung verstößt die Norm gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)

Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers entbindet ihn nicht von der Verpflichtung, die Besteuerung innerhalb der Schedule der Kapitaleinkünfte folgerichtig, das heißt gleichheitsgerecht auszugestalten. Diese Verpflichtung beinhaltet auch, positive und negative Kapitalerträge innerhalb der Schedule folgerichtig zu besteuern. 

Die Ungleichbehandlung negativer Kapitalerträge aus Termingeschäften wird dadurch verschärft, dass die Vorschrift entgegen den Vorgaben des objektiven Nettoprinzips zu einer asymmetrischen Besteuerung von Gewinnen und Verlusten aus Termingeschäften auch innerhalb des Verlustverrechnungskreis führt. Diese Asymmetrie bewirkt, dass in einem Verlustentstehungsjahr wirtschaftlich nicht erzielte Gewinne aus Termingeschäften besteuert werden können, sofern die Differenz von Gewinnen und Verlusten aus Termingeschäften den Betrag in Höhe von EUR 20.000 im Verlustentstehungsjahr übersteigt. 

Anlegerschutz ist nicht Aufgabe des Steuergesetzgebers

Das Finanzgericht und der Bundesfinanzhof schließen sich damit der herrschenden Literaturmeinung an, welche die sofortige Besteuerung von Gewinnen und die verzögerte Anerkennung von Verlusten aus Termingeschäften kritisiert. Die Gerichte findet keinen sachlichen Grund für den Eingriff in die Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit, die durch die Verlustverrechnungsbeschränkung beeinträchtigt wird. 

Das Finanzgericht wies darauf hin, dass dies zu einem unverhältnismäßigen und widersinnigen Ergebnis führe, da die Steuerpflichtigen im Extremfall eine Steuer auf einen negativen Gesamtertrag aus Termingeschäften zahlen müssten. Es lehnte auch die Begründung des Gesetzgebers ab, der die Regelung mit dem Schutz der Anleger vor spekulativen und risikoreichen Finanzgeschäften rechtfertigen wollte. Es stehe dem Gesetzgeber nicht frei, durch entsprechende Regelungen spekulative Finanzgeschäfte einzudämmen, wenn dies zu einer Verletzung des objektiven Nettoprinzips führe, das besagt, dass Gewinne und Verluste steuerlich gleichbehandelt werden müssen.

Parallelen zu Aktienverlusten

Schließlich kann nicht im Wege einer typisierenden Betrachtung von einem vollständigen Ausgleich von Verlusten aus Termingeschäften in der Totalperiode ausgegangen werden. Auch wenn die doppelte Begrenzung des Verlustausgleichs und der Verlustverrechnung zu einer zeitlichen Streckung der Verrechnung von Verlusten aus Termingeschäften führt, die verfassungsrechtlich nur dann nicht zu beanstanden ist, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Verlustausgleich in der Totalperiode seines Lebens gänzlich ausgeschlossen ist

Das Gericht verweist zudem auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 12. Januar 2021 (Az. VIII R 11/18), welche die Verfassungsmäßigkeit der Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungen nach § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG in Frage stellt. Diese Regelung ist ähnlich wie die für Termingeschäfte, nur dass die Verlustverrechnung auf Gewinne aus Aktienveräußerungen beschränkt ist. Der Bundesfinanzhof hat diese Regelung dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt (Az. 2 BvL 3/21). Es bestehen nach Ansicht der Gerichte gewisse Parallelen, sodass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch Auswirkungen auf die Regelung für Termingeschäfte haben könnte.

Auswirkungen für betroffene Anleger

Der Beschluss des Bundesfinanzhofs ist für betroffene Anleger von großer Bedeutung, da er ihnen die Möglichkeit eröffnet, gegen die Besteuerung ihrer Termingeschäfte vorzugehen und ggf. eine Aussetzung der Vollziehung zu beantragen, sodass es zunächst nicht zu einer Steuerzahlung kommt. 

Anleger sollten sich auf ein langwieriges Verfahren einstellen, da die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der Verlustverrechnungsbeschränkungen mehrere Jahre dauern wird. CMS unterstützt Mandanten bei der Prüfung, welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, sowie der Durchsetzung, sei es in einem eigenen Klageverfahren oder zur Wahrung der verfahrensrechtlichen Position, um von einer positiven Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu profitieren.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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KI und Metaverse

Do, 27.06.2024 - 12:14

Die Vorstellung der Apple Vision Pro hat die Themen Metaverse, Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, nachdem das vergangene Jahr ganz im Zeichen der Künstlichen Intelligenz (KI) stand. Trotz des starken Fokus auf KI ist die Idee hinter dem Metaverse nicht tot. Vielmehr werden auch die neueren Generationen VR-/AR-Brillen dazu beitragen, dass sich Menschen vermehrt in virtuellen Welten aufhalten werden. Der Einsatz von KI kann hier ein weiterer entscheidender Treiber sein.

Schaffung digitaler Welten und Avatare durch KI

Zunächst müssen die virtuellen Welten, in denen sich die Besucher* aufhalten sollen, geschaffen werden. Soweit hierbei KI zum Einsatz kommt, müssen diese mehrere Disziplinen beherrschen, um eine überzeugende, virtuelle Realität erstellen zu können: Die Erzeugung von dreidimensionalen Modellen, von Texturen und einer realistischen Geräuschkulisse. 

Der unschätzbare Vorteil von KI ist, dass sie in der Lage ist, ansonsten räumlich begrenzte virtuelle Räume selbständig immer weiter zu vergrößern, so dass diese schließlich kein festgelegtes Ende haben müssen. Darüber hinaus setzen viele Anbieter virtueller Welten darauf, dass ihre jeweilige Umgebung von den Nutzern weiterentwickelt und fortgeschrieben wird. Hier können diese Anbieter ihren Nutzern KI-basierte Werkzeuge an die Hand geben, mit denen auch Laien mit begrenzten Ressourcen die Welten weiterentwickeln können. 

Durch KI autonom handelende Avatare

Diese Welten müssen wiederum bevölkert werden. Auch hier kann KI eine wichtige Rolle spielen. Denkbar sind KI-gestützte autonome Avatare, die sich völlig selbstständig in den virtuellen Welten bewegen und mit anderen Avataren in Kontakt treten. Solche Avatare sind aus dem Spielebereich als „non-playable character“ (NPC) bekannt. Marktstudien sagen voraus, dass es 2030 mehr Avatare als Menschen auf der Welt geben wird. 

Es liegt auf der Hand, dass sich bereits bei diesen beiden Beispielen des Zusammenspiels von KI und virtueller Realität verschiedene rechtliche Fragen stellen. Es besteht auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die rein virtuelle Umgebung die mit dem Einsatz von KI verbundenen – rechtlichen – Risiken verstärkt. 

Mögliche Verletzung Rechter Dritter bei der Erstellung von virtuellen Welten und Avataren 

Wie bereits kurz skizziert, stellt die Erstellung virtueller Welten ein Paradebeispiel für die Anwendung generativer KI dar, bei der sich deren Stärken voll entfalten können. Dies gilt spiegelbildlich auch für die Risiken, die mit dem Einsatz generativer KI verbunden sind, etwa die Verletzung von Rechten des Geistigen Eigentums durch den Output der KI.

Auch wenn die bekannten generativen KI-Systeme nach Angaben der Anbieter die Werke, mit denen sie trainiert wurden, gerade nicht reproduzieren sollen, bleiben Urheberrechtsverletzungen durch den generierten Output möglich. Das Risiko von Urheberrechtsverletzungen erhöht sich noch, wenn die Nutzer der virtuellen Welten zu deren Erschaffung beitragen und durch ihre Eingabeaufforderungen – wenn auch vielleicht unbewusst – die Verletzung von Schutzrechten Dritter provozieren, etwa durch den Wunsch, eine Harry-Potter- oder Star-Wars-Welt zu erschaffen. 

Denkbar ist auch, dass, wenn eine wirklichkeitsgetreue Nachbildung der realen Welt geschaffen werden soll, bekannte Marken oder Designs aus der realen Welt zu finden sind, etwa an der Fassade eines virtuellen Hauses. 

Darüber hinaus wird generative KI auch bei der Erstellung von Avataren eine entscheidende Rolle spielen. Hier ist es denkbar, dass dem Nutzer völlig freie Hand bei der Gestaltung seines oder seiner Avatare gegeben wird. Die KI bietet hier die Möglichkeit, durch einfache Eingaben oder Sprachsteuerung die Avatare ganz nach dem eigenen Geschmack zu gestalten. Gleiches gilt für digitale Assets wie Schuhe, Kleidung, Accessoires, die der Avatar in der virtuellen Welt tragen soll. Hier sind marken- und designrechtliche Probleme vorprogrammiert. 

Schließlich bieten generative KI-Systeme nahezu unendliche Möglichkeiten im Hinblick auf Storytelling oder Gamification in der virtuellen Welt. Gerade beim Storytelling besteht die große Gefahr, dass es sich gegebenenfalls an bestehenden urheberrechtlich geschützten Werken orientiert.

Kein urheberrechtlicher Schutz für virtuell erstelle Welten 

Umgekehrt ist zu beachten, dass nach derzeitiger Rechtslage – zumindest dem Grundsatz nach – keine Urheber- oder Leistungsschutzrechte an den durch KI geschaffenen Welten entstehen, unabhängig wieviel Zeit und Aufwand der Ersteller hierein gesteckt hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er selbst nicht schöpferisch eingreift, sondern die KI – ggf. auch unter detaillierter Anleitung (sog. Prompts) – selbständig arbeiten lässt. Es bleibt möglich, den Output der KI gegebenenfalls als Design zu schützen. Denkbar ist zudem, dass in der virtuellen Welt geschaffene Marken als solche bei den Markenämtern (in der realen Welt) für virtuelle Güter und darüber hinaus angemeldet werden.

Rechtliche Hürden beim Einsatz autonomer Avatare

Auch  beim Einsatz autonomer Avatare sind diverse rechtliche Fallstricke zu beachten. So stellt sich bereits die Frage, ob ein Unternehmen, das einen autonom handelnden Avatar mit Hilfe von KI einsetzt, für diesen und seine Handlungen rechtlich verantwortlich ist. In einem Rechtsstreit in Kanada hatte sich eine Fluggesellschaft darauf berufen, ein von ihr eingesetzter Chatbot sei eine „separate legal entity that is responsible for its own actions“. Eine falsche Beratung eines Kunden durch den Chatbot auf der Website der Airline sei daher nicht der Airline zuzurechnen. Dieses Argument hat das kanadische Gericht zu Recht zurückgewiesen. Hauptargument ist, dass die Airline für alle Funktionen auf ihrer Webseite, also auch für den Chatbot, verantwortlich ist.

Diese Entscheidung gibt zwar einen Fingerzeig, kann aber nicht ohne weiteres auf die virtuellen Welten des Metaverse übertragen werden. Hier ist es denkbar, dass ein autonomer Avatar – die Interoperabilität zwischen den einzelnen virtuellen Welten vorausgesetzt – zwischen den einzelnen Welten hin und her wandert, ohne dass z.B. über die Website eine Zurechnung zum „Geschäftsherrn“ des Avatars erfolgen kann. Hier sind also weitere Anknüpfungspunkte zu finden. 

KI-Verordnung erfasst auch KI-basierte Avatare 

Einen solchen bietet die KI-Verordnung der Europäischen Union (EU), der zu entnehmen ist, dass derjenige für das KI-System haftet, wer es für sich nutzt, sei es als Anbieter des KI-Systems oder als Verwender. Die KI-Verordnung legt dabei neben den Regularien für sog. Hochrisiko-Systeme in Art. 52 auch Transparenzpflichten für „minimal risk“-KI-Systeme fest. Dabei müssen Nutzer darüber informiert werden, dass sie mit einer KI zu tun haben. 

Geltung haben diese Pflichten für bestimmte Gruppen von KI-Systemen. Besonders relevant im Zusammenhang mit den Avataren (NPC) dürfte die Gruppe der „mit Menschen interagierenden KI-Systeme“ sein. Sind doch NPC im Metaverse gerade dazu da, die spielergesteuerten Avatare durch virtuelle Räume zu leiten, Fragen zu beantworten und Informationen zu vermitteln.

Auch Avatare müssen sich an das UWG halten

Ähnliche Transparenzpflichten können sich auch aus dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) ergeben, das gegebenenfalls beim Einsatz eines autonomen Avatars in eigenen Marketingaktivitäten zu beachten ist. Insbesondere die Frage des anwendbaren Rechts ist in virtuellen Welten ohne Ländergrenzen bekanntlich nicht einfach zu beachten, insbesondere wenn die Avatare durch KI-Tools in der Lage sind, jede Sprache der Welt zu sprechen. Damit entfällt eines der klassischen Anknüpfungskriterien, da es mitunter an einer klaren Ausrichtung auf eine/mehrere Sprache(n) fehlt. 

Die Anwendbarkeit des UWG vorausgesetzt, muss bereits jetzt die Werbung mit Avataren nach § 5a Abs. 4 UWG als solche gekennzeichnet werden. Das heißt, es muss für den Gesprächspartner klar erkennbar sein, dass der Avatar in kommerzieller Absicht interagiert. Ob sich der Avatar zudem offenbaren muss, dass es sich bei ihm nicht um eine natürliche Person handelt, hängt davon ab, ob man dieses Faktum als wesentliche Information im Sinne von § 5a Abs. 4 UWG ansieht, die der Verwender der KI/des Avatars offenbaren muss. 

Ferner ist darauf zu achten, dass die von Avataren zur Verfügung gestellten Informationen zutreffend und nicht irreführend sind, um Verstöße gegen § 5 UWG zu vermeiden. Zumindest denkbar ist auch, dass die Kontaktaufnahme durch Avatare als unzumutbare Belästigung in den Schutzbereich des § 7 UWG fällt. In die gleiche Richtung zielt § 4a UWG, der aggressive geschäftliche Handlungen verbietet. Unternehmen müssten sicherstellen, dass ihre Avatare Kunden nicht unter Druck setzen, hier wird wieder das erhöhte Risiko virulent, das mit einer virtuellen Welt und dem Eintauchen in sie einhergeht. Anders als einem Chatbot auf einer Website kann man sich einem Avatar in einer virtuellen Welt nur schwer entziehen. Auch sind Konstellationen denkbar, in denen man von einem Avatar in einer besonders sensiblen Situation angesprochen wird. Hier werden sich gegebenenfalls eigene Fallgruppen für das Metaverse herausbilden.

Schließlich sind über den Tatbestand des § 3 UWG hinaus weitere gesetzliche Vorgaben zu beachten, wie z.B. das AGG sowie die Vorgaben des BGB z.B. im Hinblick auf personalisierte Preise. Au0erdem muss der Einsatz von Avataren der unternehmerischen Sorgfalt entsprechen und darf nicht zu einer unzulässigen Beeinflussung der Kundenentscheidung führen (gem. §3 UWG). 

Zumindest derzeit enthält das UWG keine KI-/Avatar-spezifischen Regelungen. Es ist denkbar, dass sich dies in Zukunft ändert, etwa indem besonders verwerfliche und gehäuft auftretende Wettbewerbshandlungen durch Avatare in die sog. „Blacklist“  des UWG aufgenommen werden. 

Insgesamt ist entscheidend, dass sich Unternehmen, die autonome Avatare zur Kundenansprache und zu Werbezwecken einsetzen, bewusst sind, dass verbraucherschützende Vorschriften auch in der virtuellen Welt Anwendung finden. Hinzu kommen KI-spezifische rechtliche Anforderungen. Es ist nicht auszuschließen, dass es in Zukunft einen eigenen Metaverse-Act der EU geben wird. Entsprechende Bestrebungen bestehen immer wieder. Die Einhaltung all dieser rechtlichen Vorgaben ist nicht nur wichtig, um Haftungsrisiken für den Avatar zu vermeiden, sondern auch, um das Vertrauen der Kunden zu erhalten und langfristig in virtuellen Welten erfolgreich zu sein.

Hören Sie zu dem Thema gerne unseren Podcast CMS To Go: Virtuelle Welten, Metaverse, KI – rechtliche Fragestellungen. Diese und weitere Themen rund um KI und Metaverse behandelt wir in unseren gleichnamigen Blog-Serien.

In unserem CMS-Blog informieren wir Sie im Rahmen unserer Blog-Serie „Metaverse“ fortlaufend mit aktuellen Beiträgen zum Metaversum. Nach einer Einführung in das „Metaverse“ sind wir bereits eingegangen auf Healthcare Metaverse, Arbeit im Metaverse, auf Rechtsberatung im Metaverse und geben einen Überblick über Steuern im Metaverse sowie über die Umsatzsteuer bei der Vermietung von virtuellem Land im Metaverse. Darüber hinaus haben wir uns mit dem Markenschutz für Blockchain- und andere Krypto-Projekte, dem Markenschutz vs. Kunstfreiheit bei mit NFTs verlinkten Medien sowie mit dem Markenschutz für digitale Produkte im „Metaverse“ und den EUIPO-Leitlinien zur Eintragung virtueller Waren und NFTs beschäftigt. Außerdem prüfen wir, welche rechtlichen Anforderungen bei dem Einsatz von Wearables bestehen, ob das Markenrecht bereit für das Metaverse ist und schauen uns die Grundlagen von VR/AR und Datenschutz an.

Darüber hinaus halten wir Sie auf unserer Insight-Seite zum Metaverse auf dem Laufenden!

Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Arbeitsrechtliche Aspekte im Rahmen einer Sanierung nach dem StaRUG

Do, 27.06.2024 - 06:07

Das Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen,kurz „StaRUG″ ist zum 1. Januar 2021 in Kraft getreten und setzt die sog. Restrukturierungsrichtlinie (Richtlinie [EU] 2019/1023) um.

Vor Inkrafttreten des StaRUG existierten im deutschen Recht keine speziellen Regelungen für die Durchführung und Umsetzung von Sanierungen im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens. Diese Lücke wurde durch das StaRUG geschlossen, dass den Unternehmen in Krisensituationen verschiedene Instrumente zur Unterstützung der Sanierung außerhalt eines Insolvenzverfahrens bietet. Die Instrumente dieses sog. präventiven Restrukturierungsrahmens dienen der Durchführung und Umsetzung eines Sanierungskonzepts durch den Schuldner* mit dem Ziel, ein Insolvenzverfahren zu vermeiden. Der Vorteil gegenüber der außergerichtlichen Sanierung besteht insbesondere darin, Sanierungsmaßnahmen mit den Beteiligten abzustimmen und umzusetzen, ohne dass es zwingend der Herstellung eines Konsenses unter den Betroffenen bedarf oder einzelne Beteiligte das Vorhaben blockieren können. Es ermöglicht deutschen Unternehmen also, die Problematik des sogenannten „Hold-Out″ zu überwinden. Das heißt, dass einzelne Gläubiger eine Unternehmenssanierung blockieren können.

Restrukturierungsplan als Kernstück des StaRUG

Kernstück des Verfahrens nach dem StaRUG ist der zwischen Schuldner und Gläubigern auszuhandelnde Restrukturierungsplan (§§ 5 ff. StaRUG), der alle erforderlichen Maßnahmen und Beiträge zur Erreichung des Sanierungsziels zu-sammenfasst. Im sog. gestaltenden Teil des Restrukturierungsplans wird nach § 7 Abs. 1 StaRUG festgelegt, wie die „Rechtsbeziehungen″ zwischen Schuldner und Gläubigern neu geregelt werden. Die „Planbetroffenen″ stimmen über diesen Plan ab, wobei die Planbetroffenen hierfür in Gruppen eingeteilt werden.

Für die Annahme des Restrukturierungsplans ist gemäß § 25 Abs. 1 StaRUG grundsätzlich erforderlich, dass in jeder Gruppe auf die dem Plan zustimmenden Gruppenmitglieder mindestens 75 % der Stimmrechte in dieser Gruppe entfallen. Es ist aber auch möglich, dass die Zustimmung einzelner Gruppen ersetzt wird, insbesondere dann, wenn die Mehrheit der abstimmenden Gruppen dem Plan mit den erforderlichen Mehrheiten zugestimmt hat (§§ 26-28 StaRUG). Der Restrukturierungsplan kann also gerade auch gegen den Willen einzelner Gläubiger umgesetzt werden. 

Keine Einschränkung der Arbeitnehmerrechte nach dem StaRUG

Im Rahmen eines Sanierungsverfahrens nach dem StaRUG ist eine Einschränkung der Arbeitnehmerrecht, anders als im Insolvenzverfahren (§§ 108, 113, 120 ff. InsO) ausgeschlossen. Demzufolge können Forderungen von Arbeitnehmern aus oder im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis einschließlich der Rechte aus Zusagen auf betriebliche Altersversorgung gemäß § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG nicht im Restrukturierungsplan geregelt werden. Arbeitnehmer können daher nicht „planbetroffen″ sein. Sie bilden keine Gruppe im Rahmen des Restrukturierungsplans. Zudem unterfallen Arbeitnehmerforderungen nicht der Vollstreckungs- und Verwertungssperre nach § 49 Abs. 2 Satz 1 StaRUG. Arbeitnehmer können ihre Forderungen daher auch im Rahmen des vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens weiterhin vollstrecken. 

Die Restrukturierungsrichtlinie hätte Ausnahmen zugelassen, sofern das nationale Recht ein hinreichendes Schutzniveau nach Maßgabe der Insolvenzschutzrichtlinie (Richtlinie 2008/94/EG ) bietet. Solche Ausnahmen wurden im deutschen Recht aber nicht umgesetzt. Der Arbeitgeber kann sich also auch dann nicht gegen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen von Arbeitnehmern wehren, wenn dieser für den entsprechenden Zeitraum durch Insolvenzgeld nach § 165 SGB III abgesichert ist.

Sofern der Arbeitgeber demnach arbeitsrechtliche Ansprüche modifizieren möchte, gelten die „normalen″ arbeitsrechtlichen Grundsätze außerhalb der Insolvenz. Dies führt zum einen dazu, dass die Beschränkungen im Arbeitnehmerschutz nach §§ 113 ff. InsO gerade nicht gelten und auch im Falle eines (Teil)Betriebsübergangs die oftmals ein Sanierungshindernis darstellenden Regelungen des § 613a BGB unverändert zur Anwendung kommen. Es bedarf hier stets der umfassenden arbeitsrechtlichen Analyse, welche Veränderungen überhaupt und ggf. auch noch kurzfristig umsetzbar sind. Ein umfassender Restrukturierungsplan kann aber jedenfalls helfen, den Handlungsbedarf zu verdeutlichen und bietet insoweit auch die Chance für das Verhandeln von einvernehmlichen Lösungen.    

Kein eigenes Beteiligungsverfahren für Arbeitnehmervertreter im StaRUG

Auch im Hinblick auf die sonstigen Beteiligungsrechte der Arbeitnehmervertretungen bestehen bei einem vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren keine Änderungen gegenüber dem „normalen″ Arbeitsrecht, sondern finden nach § 92 StaRUG uneingeschränkt Berücksichtigung. Eine fehlerhafte Beteiligung der Arbeitnehmervertreter kann zu einer gerichtlichen Versagung der Planbestätigung nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG führen. 

Im Übrigen löst der Beschluss über die Inanspruchnahme des vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens keine Beteiligungsrechte des Betriebsrats aus, da es sich nicht um eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG handelt.

Vertretung der Arbeitnehmer im Gläubigerbeirat möglich

Nach § 93 Abs. 1 Satz 1 StaRUG kann ein Gläubigerbeirat durch das Gericht eingesetzt werden, wenn grundsätzlich die Forderungen aller Gläubiger durch den Restrukturierungsplan gestaltet werden sollen und die „Restrukturierungssache gesamtverfahrensartige Züge″ aufweist. In diesem Fall entscheidet das Restrukturierungsgericht über die Einsetzung und Auswahl der Gläubigerbeiratsmitglieder.

Über den Verweis auf die Regelungen der Insolvenzordnung ergibt sich, dass der Gläubigerbeirat als Mitglieder Inhaber von Absonderungsanwartschaften, die Restrukturierungsgläubiger mit den höchsten Forderungen sowie Kleingläubiger umfassen soll. Es können auch nicht planbetroffene Gläubiger und daher auch Arbeitnehmer im Beirat vertreten sein.

Ursprünglich war die Einsetzung eines Gläubigerbeirats im Regierungsentwurf des Gesetzes nicht vorgesehen gewesen. Die Norm wurde unter anderem auf Druck der IG Metall durch den Rechtsausschuss in den finalen Gesetzesentwurf aufgenommen.

Finanzielle Restrukturierung im Fokus des StaRUG

Das StaRUG eignet sich vornehmlich für die finanzielle Restrukturierung von Unternehmen, wie z. B. einen Schuldenschnitt. Arbeitsrechtliche Erleichterungen sieht es nicht vor. 

Steht also die personelle Restrukturierung im Vordergrund, hat das Unternehmen auf die herkömmlichen Instrumente – wie sie auch außerhalb einer Insolvenz zur Anwendung kommen – zurückzugreifen.

Der Beitrag ist Teil unserer Blogreihe zur Unternehmensrestrukturierung nach dem StaRUG. Es erschienen bereits zahlreiche Beiträge zur europäischen Restrukturierungsrichtlinie, u.a. ein Beitrag zu den Moratorien und zu den Restrukturierungsplänen. Anschließend haben wir uns mit den Pflichten der Unternehmensleitung, dem Schutz von Finanzierungen und Finanzierungsgebern sowie den Restrukturierungsbeauftragten und Verwaltern befasst. Weiter sind wir auf die Entschuldung insolventer Unternehmerarbeitsrechtliche Aspekte der Restrukturierungs-Richtlinie, das Dutch Scheme als Vorbild für den Restrukturierungsrahmen sowie eine Sanierung außerhalb der Insolvenz eingegangen.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Die Sanierung eines Fußballvereins in der Krise

Mi, 26.06.2024 - 12:44

Fußballvereine müssen sich nicht nur auf dem Platz behaupten, sondern sich als Unternehmen auch marktwirtschaftlichen Herausforderungen stellen. Sie sind im Profibereich rechtlich unterschiedlich organisiert als GmbH & Co. KGaA oder GmbH, aber teilweise auch noch als e. V. In diesem Beitrag sollen unter „(Fußball)-Verein“ sämtliche Rechtsformen verstanden werden. Stellt sich der spielerische Erfolg nicht ein und fehlen dann Sponsoren-, Prämien für Spiele im internationalen Umfeld und Fernsehgelder oder/und hat sich der Verein durch Missmanagement in eine tiefe wirtschaftliche Krise entwickelt, treffen ihre Organe dieselben insolvenzrechtlichen Antragspflichten wie andere Unternehmen auch. 

Im Falle der drohenden Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO (24-monatige Liquiditätsprognose) kann bereits durch die Vereinsführung ein Insolvenzantrag gestellt werden, spätestens im Falle der Überschuldung nach § 19 InsO (bilanzielle Überschuldung und fehlende positive Fortbestehensprognose für 12 Monate) oder der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 InsO (Dreiwochenzeitraum Liquiditätsprognose) muss ein Insolvenzantrag gestellt werden. Erfolgt dies nicht, drohen der Vereinsführung persönliche zivil- und strafrechtliche Konsequenzen (§§ 15a, 15b InsO). So haftet der Geschäftsleiter nach Eintritt der Insolvenzreife (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) für ausgelöste Zahlungen persönlich, wenn diese nicht unmittelbar zur Aufrechterhaltung des Betriebes zwingend erforderlich sind. Selbst der Vorstand des e.V. haftet für Vorsatz und Fahrlässigkeit im Rahmen der Haftungserleichterung des § 42 Abs. 2 BGB. Beim „Millionenbusiness Fußball“ eine schnell existenzbedrohende Frage. 

Sanierungsoptionen im Insolvenzverfahren

Für die Sanierung des Fußballvereines stehen mehrere Sanierungsoptionen zur Verfügung. Wegweiser ist dabei nach den gesetzlichen Vorgaben grundsätzlich die Maxime der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung*. Abgewichen werden kann hiervon im Insolvenzplan, wenn die Gläubiger dem zustimmen. Elementar ist die Analyse, auf welchem Weg der Verein zukünftig wieder wirtschaftlich und damit auch sportlich und damit wiederum wirtschaftlich agieren kann. 

Dieses Ziel kann durch eine Liquidation des Vereins (und Beendigung des Spielbetriebes) nicht erreicht werden. Die Fußballvereine verfügen häufig über wenige Assets, die durch einen Verkauf zu Geld zu machen sind. Häufig sind die betreffenden insolventen Spielgesellschaften nicht mehr Eigentümerinnen des Spielgeländes, wesentliches (bilanzierbares) Asset sind die Spielerverträge und die Spiellizenzen für die jeweilige Liga. Schwieriger zu beziffern sind Assets wie z.B. Fan-Loyalität und das konstante Geschäftsmodell (feste Spielzeiten). 

Diese Assets haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind nur werthaltig, wenn das „Unternehmen“ Fußballverein fortgeführt wird. Somit liegt eine Fortführung und ein „Überleben“ des Vereins im Interesse aller Stakeholder, auch der Gläubiger. Als Fortführungsoptionen gibt es in der Regel zwei Wege: Die „Übertragene Sanierung“ des Geschäftsbetriebes vom insolventen auf einen neuen Rechtsträger oder den Erhalt des bestehenden Rechtsträgers durch einen gerichtlich geleiteten Vergleich mit den Stakeholdern („Insolvenzplan“). 

Irrelevanz der „Übertragenen Sanierung“, des klassischen Regelverfahrens und des Insolvenzgeldes

Die „Übertragene Sanierung“ spielt bei der Sanierung von Fußballvereinen nur eine untergeordnete Rolle. Diese hat den Nachteil, dass geschlossene Verträge des insolventen Rechtsträgers nicht ohne Weiteres auf den neuen Rechtsträger übergehen. Insbesondere der Lizenzgeber für den Ligaspielbetrieb muss dem Übergang zustimmen. DFL und DFB haben bei der Lizenzvergabe bestimmte wirtschaftliche Voraussetzungen der Lizenznehmer zu prüfen: Diese Prüfung kann bei einem frisch gegründeten Rechtsträger durchaus auch in zeitlicher Hinsicht problematisch werden. Ein reibungsloser Übergang kann nicht garantiert werden, da dieser von einem Dritten (DFL bzw. DFB) abhängig ist. So ist neben der sicheren Finanzierung auch die 50 plus 1 Regel bei dem übernehmenden Rechtsträger, die den mehrheitlichen Mitgliedereinfluss des Muttervereines sichert, zu berücksichtigen. 

Ebenso ist die Regelinsolvenz, bei welcher ein Insolvenzverwalter ab Insolvenzverfahrenseröffnung die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gem. § 80 InsO übernimmt, zumindest in den Profiligen von geringer Relevanz. Der Wunsch nach Kontinuität und Einfluss der Vereinsorgane und Mitglieder ist im emotionalen Fußballgeschäft erheblich. In einer komplexen Vereinssanierung sind die Fachexpertise und das Netzwerk (insbesondere zu DLF und DFB) der eingespielten Geschäftsleiter von außerordentlicher Bedeutung und können für den Sanierungserfolg entscheidend sein. Daher wird hier regelmäßig das Mittel der Wahl das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO sein. Der Verein muss seine Verfügungsbefugnis nicht an einen Insolvenzverwalter abgeben, sondern wird nur von einem Sachwalter in seinen Handlungen überwacht. Allerdings tut der Verein gut daran, einen Sanierungsexperten in die weitere Geschäftsführung (als Organ oder als Handlungsgeneralbevollmächtigten) zu berufen, um verloren gegangenes Vertrauen bei den Stakeholdern wieder wettzumachen und vor allem insolvenzrechtliche Expertise auch zur Haftungsvermeidung einzubringen. 

Schlussendlich ist die (in sonstigen Insolvenzverfahren so wichtige) Vorfinanzierung des Insolvenzausfallgeldes in der Sanierung eines Profifußballclubs von untergeordneter Bedeutung. Grundsätzlich sind im Falle der Insolvenzverfahrenseröffnung (oder im Falle der Abweisung mangels Masse) für drei Monate die Löhne und Gehälter der Mitarbeiter über die Agentur für Arbeit abgesichert. Dieser Anspruch kann über Banken vorfinanziert werden, so dass das Insolvenzgeld, welches sonst erst nach der Verfahrenseröffnung gezahlt würde, bereits zu den normalen Lohn- und Gehaltsfälligkeiten ausgezahlt werden kann. Dieser Auszahlungsanspruch ist jedoch auf die Beitragsbemessungsgrenze von derzeit EUR 90.600 Einkommen pro Jahr begrenzt, weshalb hier eher Mitarbeiter des Vereines außerhalb der Spieler und Trainer abgesichert werden können. Ob Spieler oder Trainer, die häufig monatliche Gehälter im sechsstelligen Bereich (oder darüber) erzielen, mit dem limitierten Insolvenzgeld zum Verbleib und zur sportlichen Leistung animiert werden können, ist fraglich. Aus diesem Grund wird in der Regel mit Eigeninsolvenzantragstellung eines Vereins eine zeitnah wirksame Sanierungslösung präsentiert, eine längere Betriebsfortführung mittels Insolvenzgeldvorfinanzierung ist eher unwahrscheinlich.

Insolvenzplan: Gestaltungsmittel der Wahl im Insolvenzszenario des Vereins

Der Insolvenzplan bietet die Möglichkeit, die wesentlichen Probleme der „Übertragenen Sanierung“ zu vermeiden. Der Verein wird durch eine Restrukturierung der Verbindlichkeiten aufgrund eines Vergleiches mit allen Gläubigern erhalten und entschuldet. Das Besondere: Einzelne Gläubiger können überstimmt und somit zum Vergleich „gezwungen“ werden, ferner greift der Vergleich auch für solche Gläubiger, welche an der Abstimmung über den Insolvenzplan überhaupt nicht teilgenommen haben. 

Durch die Sanierung und den Erhalt des Rechtsträgers stellen sich keine Probleme aufgrund der 50 plus 1-Regel, ebenso kann die bereits vorhandene DFL/DFB-Lizenz weitergenutzt werden. Allerdings lassen sich durch einen Insolvenzplan nicht alle Probleme beseitigen: Mit Insolvenzverfahrenseröffnung erhalten Arbeitgeber und Arbeitnehmer (=Spieler) eine Sonderkündigungsmöglichkeit zur Vertragsbeendigung nach § 113 InsO. Unzufriedene Spieler, welche nur aufgrund der mitunter hohen Ablösesummen (=Entschädigungssumme zur Aufhebung eines befristeten und somit eigentlich unkündbaren Arbeitsvertrages) beim Verein geblieben sind, können innerhalb von drei Monaten ablösefrei kündigen und den Verein wechseln. Allerdings setzt dies ein Timing mit der Transferperiode voraus, welches aufgrund der dreimonatigen Frist nicht immer einfach ist. 

Sanktionen der DFL und des DFB

Die jeweiligen Lizenzgeber DFL (1. und 2. Bundesliga) sowie der DFB sehen Strafen für Vereine vor, die in ein Insolvenzszenario geraten. Bei einem selbst gestellten Insolvenzantrag wird bereits auf diesen abgestellt, bei einem durch einen Gläubiger gestellten Insolvenzantrag auf die Insolvenzverfahrenseröffnung bzw. die Abweisung des Insolvenzantrages wegen des Mangels an einer die Verfahrenskosten deckenden Masse. Die DFL sowie der DFB in den oberen Ligen bestrafen in diesem Fall mit einem 9-Punkteabzug, darunter (teilweise) sogar mit einem Klassenabstieg. Hintergrund ist der wirtschaftliche Vorteil, den ein Verein durch die Sanierung seines Unternehmens erlangt. 

Kritiker sehen hierin einen Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers, welcher mit der Insolvenzordnung ein Unternehmen mittels eines Insolvenzverfahrens gerade „fit für die Zukunft“ machen wolle. Stattdessen sehe sich der sanierte Verein dadurch unter Umständen einem erneut existenzbedrohenden Ereignis (Einnahmeverlust durch Abstieg) gegenüber. 

Manchen Befürwortern geht diese Regel nicht weit genug: Das Risiko einer „taktischen Insolvenz“ drohe, sobald das Saisonziel (Aufstieg/Klassenerhalt) mit einem 9-Punkte-Vorsprung erreicht sei. Taktik in diesem Sinne sei eine Interpretation der Fortbestehensprognose je nach Bedarf im Rahmen der Prüfung einer Antragspflicht (Überschuldungsprüfung, § 19 InsO). 

Mindester gemeinsamer Nenner der Kritiker ist wohl der Bedarf der Anpassung der regionalen Unterschiede in den niedrigeren Klassen (teilweise Abzug, teilweise Zwangsabstieg) und eine individuelle Strafpunktebestimmung in den jeweiligen Ligen. Denn in kleineren Ligen kann ein pauschaler 9-Punkte-Abzug wesentlich mehr Schaden als in größeren Ligen (mit einem höheren Punktepotenzial) anrichten. 

Realistische Alternative zum Insolvenzplan: Das StaRUG-Verfahren (?)

Für den aufmerksamen Beobachter stellt sich heraus, dass im Insolvenzszenario das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung eine Sanierung mittels eines Insolvenzplanes in aller Regel den „Königsweg“ darstellt. Dieser wurde beispielsweise im Jahr 2020 vom 1. FC Kaiserslautern beschritten. 

Allerdings stellt sich vor dem Hintergrund der empfindlichen Punktestrafen von DFL und DFB die Frage, ob diese durch die gänzliche „Umgehung“ eines Insolvenzverfahrens vermieden werden können. Der Gesetzgeber hat im Jahr 2021 das Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG eingeführt. Motivation war primär die Vermeidung des Stigmas „Insolvenz“ und Förderung früher Sanierungsabsichten. Dessen Kern ist der Restrukturierungsplan, welcher sich in seiner Grundidee am Insolvenzplan orientiert. Ein Restrukturierungsverfahren kann bei drohender Zahlungsunfähigkeit initiiert werden, ab Eintritt der zwingenden Insolvenzgründe (Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung) ist dies nicht mehr möglich. Dementsprechend beläuft sich das Fenster zur Initiierung des Restrukturierungsverfahrens auf 24 bis 12 Monate vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des zu restrukturierenden Unternehmens. Zwar können im Restrukturierungsverfahren keine operativen Sanierungstools wie die Kündigung unliebsamer Verträge (§§103f. InsO) oder die Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes genutzt werden, jedoch ist im Restrukturierungsplan als Vergleich über die Verbindlichkeiten des zu restrukturierenden Unternehmens auch die Überstimmung ablehnender Gläubiger möglich. Der Rechtsträger bleibt somit erhalten, was gerade für die Beibehaltung der Spiellizenz wichtig ist. 

Wesentliche Besonderheit des Restrukturierungsplanes ist, dass dieser teilkollektivistisch ausgestaltet ist (nicht alle Gläubiger müssen durch den Restrukturierungsplan betroffen sein) und nicht zwangsläufig öffentlich sein muss (Vermeidung von Imageschäden). Allerdings haben auch hier DFB und DFL nachgezogen: Ein 9-Punkteabzug erfolgt, wenn im Restrukturierungsverfahren die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung angezeigt wird. Die Anzeige ist nach dem StaRUG erforderlich, sobald der Insolvenzgrund eingetreten ist. Daraus folgt jedoch, dass kein Punkteabzug nach DFL/DFB-Regularien erfolgt, solange kein zwingender Insolvenzgrund eingetreten ist.

Da es bei der Sanierung des Fußballvereins im Wesentlichen um die Restrukturierung der Passivaseite geht und eine Insolvenzgeldvorfinanzierung nur von untergeordneter Bedeutung ist, stellt sich die Frage, warum bisher so wenige (keine?) Restrukturierungsverfahren in Bezug auf Fußballvereine bekannt geworden sind. Zum einen ist die Antwort soeben gegeben worden: Das Verfahren ist „im Stillen“ durchführbar (obwohl fraglich ist, ob bei Einbindung der Fans/Vereinsmitglieder mit einer „Stille“ zu rechnen ist). Zum anderen kann vermutet werden, dass eine Sanierung ohne Zwang eines Insolvenzgrundes gegenüber so vielen Stakeholdern nur schwer zu vermitteln ist: Erst bei Vorliegen eines zwingenden Insolvenzgrundes ist der Geschäftsleiter frei von den Weisungen seiner Gesellschafter zur Stellung eines Insolvenzantrages befugt und kann den Gordischen Knoten des Gesellschafterstreits bezüglich einer Antragstellung zerschneiden. Hoch umstritten ist hingegen die Frage, ob dies auch bei der Initiierung eines Restrukturierungsverfahrens möglich ist. Dies hängt unter anderem davon ab, in welcher Rechtsform der zu restrukturierende Verein organisiert ist und ob bei Nichtinitiierung das Insolvenzverfahren die einzige Alternative darstellt. Jedenfalls muss gegenwärtig regelmäßig noch empfohlen werden, die Zustimmung der Gesellschafter zur Initiierung des Restrukturierungsverfahrens einzuholen. Ob diese durch die Mitglieder (50 plus 1-Regel, s.o.), welche in der Regel nur mit geringem wirtschaftlichen, aber enormen emotionalen Interesse involviert und je nach Verein Kummer gewohnt sind, gegeben wird, ist wohl eher zweifelhaft („Prinzip Hoffnung“).

„Early Bird“: Die außergerichtliche Sanierung

Unerwähnt bleiben soll darüber hinaus auch nicht die Möglichkeit einer außergerichtlichen Sanierung. Hier können Gläubiger jedoch nicht zu einem Vergleich über ihre Forderungen gezwungen werden, ein Ergebnis kann nur konsensual gefunden werden. Denkbar sind neben einem Schuldenschnitt oder einem Debt-Equity-Swap (Umwandlung von Verbindlichkeiten in Vereinsanteile, aber Beachtung der 50 plus 1-Regel) jedoch auch weitere, weniger einschneidende Maßnahmen wie zum Beispiel Stundungsvereinbarungen oder Rangrücktrittserklärungen. 

Da dem beratenen Gläubiger bekannt ist, dass dem Verein im Insolvenzfall zumindest erhebliche DFL/DFB-Strafen blühen, hat der Verein dabei jedoch eine eher schwache Verhandlungsposition. Allenfalls eine optionale Sanierung mittels Restrukturierungsverfahren, bei welchem der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung vermieden werden kann, ermöglicht eine Drohkulisse zugunsten des Vereins. Spätestens mit Eintritt eines zwingenden Insolvenzgrundes ist die Chance auf eine außergerichtliche Sanierung vertan. Während der Anwendungsmöglichkeit des Restrukturierungsverfahrens (24-monatige Liquiditätsprognose) stellt die außergerichtliche Sanierung mangels konkreter Druckmittel in aller Regel die unattraktivere Sanierungsoption im Verhältnis zum Restrukturierungsverfahren dar. Realistisches Sanierungsmittel bleibt sie somit in aller Regel für den Zeitraum davor.

Sanierung des Fußballvereins in der Krise: Es kommt auf den Einzelfall an

Es kann festgehalten werden, dass eine wirtschaftliche Schieflage eines Vereins noch längst nicht dessen Ende bedeuten muss. Durch eine individuelle Bewertung des Einzelfalls kann eine maßgeschneiderte Sanierung (in der Regel durch außergerichtliches Sanierungsverfahren, Restrukturierungsverfahren oder Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung unter Zuhilfenahme eines Insolvenzplanes) erarbeitet, durchgeführt und kommuniziert werden. Eine präzise Restrukturierung kann somit die „schlechte Saison“ des Vereins nachhaltig beenden und diesen zu neuem (wirtschaftlichen) Erfolg führen. Wesentlich ist hierfür die rechtzeitige Einbeziehung kundiger Berater.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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BGH zur Dauertestamentsvollstreckung am Kommanditanteil

Mi, 26.06.2024 - 06:31

Bei Gestaltung und Umsetzung der Nachfolgeplanung von Unternehmerfamilien stellte sich zur Vererbung von Kommanditanteilen bislang regelmäßig die Frage, ob einem Mitgesellschafter* ein Kommanditanteil mit der Anordnung einer Dauertestamentsvollstreckung vererbt werden kann. Hierzu bestand bis zur Entscheidung des BGH (Beschluss v. 12. März 2024 – II ZB 4/23) Unsicherheit.

Hintergrund: Die Einheitlichkeit der Mitgliedschaft in Personengesellschaften 

Grund für die Unsicherheit war die Struktur der Personengesellschaft und der für Personengesellschaften geltenden Grundsatz der „Einheitlichkeit der Mitgliedschaft“. Demnach kann jeder Gesellschafter nur einen „Anteil“ halten, der an seine Person geknüpft und durch die Höhe der Beteiligung am Gesellschaftsvermögen näher definiert ist. Es kann aber, anders als bei der Kapitalgesellschaft (GmbH, AG), nicht eine Person mehrere Anteile oder Mitgliedschaften innehaben. Erwirbt also der Gesellschafter einer Personengesellschaft einen weiteren Anteil hinzu, vereinigen sich grundsätzlich der ursprüngliche und der neu erworbene Anteil zu einem einheitlichen Anteil mit entsprechend höherem Beteiligungswert. Dies gilt unabhängig davon, ob der Gesellschafter den weiteren Anteil entgeltlich oder unentgeltlich aufgrund eines Geschäfts unter Lebenden oder von Todes wegen (durch Erbschaft oder Vermächtnis) erwirbt. 

Aus der Einheitlichkeit der Mitgliedschaft folgt auch, dass die Stimmrechte aus der Beteiligung an einer Personengesellschaft grundsätzlich nur einheitlich ausgeübt werden können. Dies gilt selbst dann, wenn sich die Stimmrechte nicht nach Köpfen, sondern nach den Beteiligungsverhältnissen richten und damit ein Gesellschafter mehr als eine Stimme hat. 

Erbte ein Gesellschafter also zusätzlich zu seiner Beteiligung einen Anteil, der mit einer Dauertestamentsvollstreckung belastet ist, stellte sich die Frage, ob und wie sich die Testamentsvollstreckung an dem ererbten Teil der Beteiligung umsetzen lässt. Vereinigen sich die bisherige und die neue Beteiligung unter Aufgabe der Dauertestamentsvollstreckung? Erstreckt sich die Dauertestamentsvollstreckung möglicherweise auf die bereits vorhandene Beteiligung des Erwerbers? Oder kommt es trotz der Einheitlichkeit der Mitgliedschaft zu einer Aufspaltung der Gesellschafterrechte, so dass ein Teil der Mitgliedschaftsrechte durch den Testamentsvollstrecker und der andere Teil durch den Gesellschafter selbst auszuüben ist? Die gleichen Fragen stellten sich in dem umgekehrten Fall, dass der Erbe oder Vermächtnisnehmer eines der Dauertestamentsvollstreckung unterliegenden Kommanditanteils einen weiteren Kommanditanteil hinzuerwerben wollte, der nicht der Testamentsvollstreckung unterliegt und der ihm damit unbeschränkte Mitgliedschaftsrechte vermittelte. 

Bisher in der Praxis nur Behelfslösungen zur Umsetzung der Testamentsvollstreckung

Angesichts der dargelegten Rechtsunsicherheiten bediente sich die anwaltliche Gestaltungspraxis bislang verschiedener Hilfskonstrukte, um den Willen des Erblassers umsetzen zu können. 

Teilweise wurde durch eine Vereinbarung der Gesellschafter mit dem Testamentsvollstrecker eine Aufspaltung der Beteiligung zur Abbildung der Testamentsvollstreckung vertraglich fingiert. Mit anderen Worten einigten sich alle Beteiligten darauf, dass der nicht mit der Testamentsvollstreckung belastete Teil der Mitgliedschaft und der mit der Testamentsvollstreckung belastete Teil wie zwei separate Beteiligungen behandelt werden. Eine solche Regelung war und ist aber nur mit Zustimmung aller Gesellschafter, des Erben und des Testamentsvollstreckers möglich. 

Um dem Problem Herr zu werden, wollten andere den der Testamentsvollstreckung unterliegenden Teil der Beteiligung für die Dauer der Testamentsvollstreckung vom Erben auf den Testamentsvollstrecker übertragen (sog. Treuhandlösung). Mit Ende der Testamentsvollstreckung war der Testamentsvollstrecker verpflichtet, die Beteiligung auf den Erben zurückzuübertragen.

Der Beschluss des BGH: Sondervermögen trotz Einheitlichkeit der Mitgliedschaft 

Mit seinem Beschluss vom 12. März 2024 gab der BGH Antwort auf diese lang diskutierte Frage in der Nachfolgeplanung der Gesellschafter von Personengesellschaften und bringt so mehr Rechtssicherheit zur Dauertestamentsvollstreckung am Kommanditanteil. 

Der Entscheidung lag der Sachverhalt zugrunde, dass drei Kommanditisten (Kläger und zwei Beklagte) über die Gültigkeit von Gesellschafterbeschlüssen bei einer GmbH & Co. KG stritten. Einer der beklagten Kommanditisten, die Beklagte zu 2, war jedoch während des laufenden Verfahrens verstorben und von dem Kläger beerbt worden. Über ihren Kommanditanteil hatte die verstorbene Beklagte Dauertestamentsvollstreckung (§ 2209 BGB) angeordnet. Nach ihrem Tod stellte sich die Frage, ob der Prozess fortgeführt werden könne, weil der Kommanditanteil des Klägers und der Kommanditanteil der verstorbenen beklagten Kommanditistin zusammengefallen sein könnten und ein und dieselbe Person nicht gleichzeitig Kläger und Beklagter im selben Rechtsstreit sein kann. 

Der BGH entschied nun, dass der einer Testamentsvollstreckung unterliegende Kommanditanteil als abspaltbares Sondervermögen anzusehen ist. Ein im Wege der Sonderrechtsnachfolge übergegangener Kommanditanteil unterliege daher auch dann der Dauertestamentsvollstreckung, wenn der Erbe bereits vorher Gesellschafter war. Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Mitgliedschaft stehe dem nicht entgegen, weil sich der der Testamentsvollstreckung unterliegende Gesellschaftsanteil angesichts der materiell-rechtlichen Verfügungsbefugnis des Testamentsvollstreckers über die im Gesellschaftsanteil verkörperten Rechte nicht uneingeschränkt mit einem bereits zuvor gehaltenen Gesellschaftsanteil des Erben vereinigt. Da dementsprechend alle Verwaltungs- und Vermögensrechte betreffend den vererbten Kommanditanteil von dem Testamentsvollstrecker ausgeübt werden, sei der Testamentsvollstrecker auch prozessführungsbefugt. So konnte der Testamentsvollstrecker den Prozess für die verstorbene Beklagte fortführen.

Damit liegt die Entscheidung des BGH auch auf Linie mit der im Schrifttum bislang überwiegend vertretenen Auffassung zu den Wirkungen der Dauertestamentsvollstreckung über einen Kommanditanteil.

Erleichterung für die Gestaltungspraxis bei Nachfolgeplanung mit Testamentsvollstreckung

Für die Gestaltungspraxis ist die Entscheidung erfreulich, da sie für den Hinzuerwerb eines mit Testamentsvollstreckung belasteten Kommanditanteils durch einen Mitgesellschafter-Erben und Mitgesellschafter-Vermächtnisnehmer Rechtssicherheit bringt.

Auch der umgekehrte Fall, in dem ein Mitgesellschafter-Erbe, dessen Kommanditanteil unter Testamentsvollstreckung steht, einen weiteren Anteil hinzuerwirbt, ist nun geklärt. Die bislang bemühten Behelfslösungen braucht es hier nicht mehr. Ob sich aber die Entscheidung des BGH auf andere Konstellationen, beispielsweise den Hinzuerwerb einer Gesellschaftsbeteiligung, die mit einem Nießbrauch belastet ist, übertragen lässt, bleibt unsicher. 

Der Beschluss des BGH spricht einmal mehr dafür, eine Dauertestamentsvollstreckung über einen Kommanditanteil auch im Handelsregister eintragen zu lassen, um die wirtschaftliche und rechtliche Trennung im Rechtsverkehr sichtbar zu machen. Auch nach der Entscheidung des BGH gilt, dass letztwillige Verfügungen und Gesellschaftsverträge von Personengesellschaften optimal aufeinander abgestimmt sein müssen, damit ein Testamentsvollstrecker die Gesellschafterrechte aus einer seiner Verwaltung unterliegendem Personengesellschaftsbeteiligung wahrnehmen und die Nachfolgeplanung effektiv, praxistauglich und vor allem dem Erblasserwillen entsprechend umgesetzt werden kann. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Entlastung von Aktiengesellschaften geplant

Di, 25.06.2024 - 16:14

Die Bundesregierung hat am 19. Juni 2024 eine vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) vorgelegte Formulierungshilfezur Ergänzung des Regierungsentwurfs für das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) beschlossen. Mit diesem werden weitere Maßnahmen zum Abbau überflüssiger Bürokratie für das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz vorgeschlagen, darunter auch Neuerungen zur Entlastung von Aktiengesellschaften. Über das BEG IV wird derzeit im Deutschen Bundestag beraten.

Entschlackung der HV-Einberufung börsennotierter Gesellschaften – Internetveröffentlichung statt Bundesanzeigerbekanntmachung von Vergütungsunterlagen

Mit dem BEG IV sollen börsennotierte Gesellschaften bei der Einberufung ihrer Hauptversammlungen entlastet werden:

Für Hauptversammlungsbeschlüsse über das Vergütungssystem für die Vorstandsmitglieder (§ 120a Abs. 1 AktG), die Vergütung des Aufsichtsrats nach § 113 Abs. 3 AktG (mit Ausnahme einer damit verbundenen Satzungsänderung) oder den Vergütungsbericht (§ 120a Abs. 4 AktG) soll es künftig ausreichen, wenn die Unterlagen zu den jeweiligen Beschlussgegenständen im Rahmen der Einberufung der Hauptversammlung allein auf der Internetseite der Gesellschaft zugänglich gemacht werden; die derzeit geltende Pflicht zur Bekanntmachung der Vergütungsunterlagen (Vergütungssystem, Vergütungsbericht) im Bundesanzeiger – als Bestandteil der HV-Einberufung – soll entfallen. Gleiches soll auch künftig für den Vergütungsbericht von börsennotierten kleinen und mittelgroßen Gesellschaften (KMUs) gelten, wenn dieser gemäß § 120a Abs. 5 AktG als eigener Tagesordnungspunkt in der Hauptversammlung zur Erörterung vorlegt wird. Im Falle eines (einheitlichen) Hauptversammlungsbeschlusses nach § 113 Abs. 3 AktG über das (abstrakte) Vergütungssystem und die (konkrete) Festsetzung der Aufsichtsratsvergütung in der Satzung bleibt es hingegen dabei, dass der Wortlaut der Satzungsänderung (auch) im Bundesanzeiger bekanntzumachen ist, und zwar dann neben der Zugänglichmachung der Vergütungsunterlage auf der Internetseite der Gesellschaft.  

Die entsprechende Änderung der aktienrechtlichen Vorschriften (§§ 124, 124a AktG) durch das BEG IV würde in der Praxis bei börsennotierten Gesellschaften zu einer deutlichen Reduzierung des Umfangs der Einberufungsbekanntmachung im Bundesanzeiger führen, ohne dass damit ein Informationsdefizit für die Aktionäre verbunden wäre. 

Der Zeit-, und insbesondere der Kostenaufwand für die Vorbereitung der HV-Einberufung würde sich verringern. Auch die in der Praxis nicht selten zu beobachtenden (Übertragungs-)Fehler bei der Bundesanzeigerbekanntmachung von Vergütungsunterlagen, etwa bei vergütungsbezogenen Grafiken oder Schaubildern, die in aller Regel Anlass zu einer entsprechenden Berichtigung oder Korrektur der HV-Einberufung im Bundesanzeiger geben, würden nicht mehr auftreten.

Weitere Digitalisierung im Aktienrecht – Beteiligungsmitteilungen in Text- statt in Schriftform

Ein Unternehmen, das mehr als 25 % des Kapitals einer nichtbörsennotierten Aktiengesellschaft hält oder über die Kapital- bzw. Stimmrechtsmehrheit verfügt, ist verpflichtet, dies der Aktiengesellschaft mitzuteilen; nach geltendem Recht hat die Mitteilung schriftlich zu erfolgen (vgl. § 20 Abs. 1 bzw. Abs. 4 AktG). Durch das BEG IV soll das Schriftformerfordernis künftig auf die Textform herabgestuft werden, um insbesondere auch Mitteilungen per E-Mail zu ermöglichen. Da Aktiengesellschaften bereits de lege lata verpflichtet sind, entsprechende Mitteilungen digital über die Veröffentlichungsplattform des Bundesanzeigers bekanntzumachen, könnte der Mitteilungs- und Veröffentlichungsprozess künftig vollständig auf digitalem Wege erfolgen. Gleiches soll nach dem BEG IV künftig auch für die Mitteilung und Veröffentlichung einer wesentlichen Beteilung gelten, die einer Aktiengesellschaft an einer anderen Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland gehört (vgl. § 21 AktG).

Zusätzliche Erleichterung bei der Bundesanzeigerbekanntmachung von HV-pflichtigen Verträgen noch wünschenswert

Es wäre wünschenswert, dass der Gesetzgeber im Zuge der geplanten Gesetzesänderung noch die Bundesanzeigerbekanntmachung von hauptversammlungspflichtigen Verträgen erleichtert, indem der neue Wortlaut des § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG i.d.F. des BEG IV noch um das Wort „zumindest“ wie folgt ergänzt wird:

Soll die Hauptversammlung über eine Satzungsänderung oder über einen Vertrag beschließen, der nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam wird, so ist bei einer Satzungsänderung der Wortlaut der Satzungsänderung und bei einem vorbezeichneten Vertrag zumindest dessen wesentlicher Inhalt bekanntzumachen.

Denn mit einer solchen Gesetzesänderung würde die Rechtsunsicherheit beseitigt, ob die bloße Wiedergabe des vollständigen Wortlauts des Vertrags bzw. Vertragsentwurfs (z.B. eines Ergebnisabführungsvertrags) dem Erfordernis des § 124 Abs. 2 S. 3 AktG genügt, wonach der wesentliche Inhalt bekanntzumachen ist. Die Auffassung, die eine bloße Wiedergabe des Vertragstextes nicht als ausreichend erachtet, sieht den Zweck der Angabe des wesentlichen Inhalts darin, dem Aktionär die Entscheidung zu überlassen, ob er den zugänglich zu machenden Vertragstext einsehen oder von der Einsichtnahme absehen möchte. Die Aktionäre müssten entscheiden können, ob sie den (gesamten) Vertragstext lesen wollen, und sie müssten darüber informiert werden, was die Verwaltung selbst als wesentlichen Regelungsgehalt ansieht. 

Ein derart weitreichendes Informationsbedürfnis der Aktionäre, das einem Anspruch auf Zusammenfassung des wesentlichen Vertragsinhalts gleichkäme, ist jedoch nach hier vertretener Auffassung nicht zu rechtfertigen, zumal es den Aktionären unbenommen bleibt, den Vorstand in der Hauptversammlung zu fragen, welche Regelungen des Vertrages er als wesentlich erachtet. 

Um den Unternehmen in der Praxis die einfache (1:1) Wiedergabe des Vertrags im Rahmen der Bundesanzeigerbekanntmachung rechtssicher zu ermöglichen, wäre die oben vorgeschlagene Ergänzung des § 124 Abs. 2 S. 3 AktG i.d.F. des BEG IV zu begrüßen. Ein Informationsdefizit für die Aktionäre wäre damit nicht verbunden.

Inkrafttreten des BEG IV voraussichtlich noch in 2024

Das BEG IV wird derzeit im Deutschen Bundestag beraten. Ob das Gesetz noch vor der parlamentarischen Sommerpause Anfang Juli 2024 verabschiedet werden kann, erscheint eher fraglich. 

Sollte das BEG IV nach der Sommerpause im September 2024 verabschiedet und verkündet werden, würden die aktienrechtlichen Neuerungen noch in diesem Jahr in Kraft treten: Nach den Übergangsvorschriften wären die Beteiligungsmitteilungen dann ab dem 1. Oktober 2024 in Textform möglich (Inkrafttreten am ersten Tag des auf die Verkündung folgenden Quartals) und die Erleichterungen bei der Einberufung von Hauptversammlungen börsennotierter Gesellschaften mit Say-on-Pay-Beschlüssen würden erstmals für Hauptversammlungen gelten, die ab dem 1. Dezember 2024 einberufen werden.

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