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Aktuelle Rechtsthemen und was eine Großkanzlei sonst bewegt
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Arbeitszeitbetrug in der Raucherpause

Fr, 26.07.2024 - 06:43

Dem seit einigen Jahren zu beobachtenden gesamtgesellschaftlichen Trend einer sinkenden Raucherquote lässt sich die konstant steigende Zahl junger Raucher gegenüberstellen. Das Thema Rauchen ist daher weiterhin ein fester Bestandteil im Arbeitsleben. Viele Arbeitgeber stehen vor der Frage, wie sie mit dem Thema Rauchen und Raucherpausen umgehen sollen. Hat sich ein Arbeitgeber, gegebenenfalls auch unter Beteiligung des Betriebsrates, zu einer Arbeitszeiterfassung per Stempelkarte entschieden und besteht eine Pflicht, sich für Pausen auszustempeln, müssen sich Arbeitnehmer auch daran halten.

Erfassen Arbeitnehmer die Dauer ihrer Pause nicht, obwohl sie hierzu bspw. durch eine Betriebsvereinbarung verpflichtet sind, liegt regelmäßig ein Arbeitszeitbetrug vor, der grundsätzlich eine Kündigung rechtfertigen kann. Der Arbeitgeber wird über die Arbeitszeit getäuscht, wodurch er veranlasst wird, Entgelt zu zahlen, ohne die hierfür geschuldete Arbeitsleistung – die Hauptpflicht des Arbeitnehmers – erhalten zu haben. Abgesehen von einer etwaigen strafrechtlichen Relevanz kommt es arbeitsrechtlich auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch an. Immerhin bringt der Arbeitgeber den Arbeitnehmern, denen er es überlässt, ihre Arbeitszeit selbst zu dokumentieren, einen erheblichen Vertrauensvorschuss entgegen.

In zwei aktuellen Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Sachverhalten hat sich das Arbeitsgericht München (ArbG München 22. Januar 2024 – 3 Ca 7542/23 und 22. Januar 2024 – 3 Ca 7544/23) mit der Frage auseinandergesetzt, welche Konsequenzen Arbeitnehmern drohen, wenn sie ihre Pausenzeiten entgegen einer bestehenden Verpflichtung nicht erfassen.

Die Entscheidungen des Arbeitsgerichts München

Im Betrieb der beklagten Arbeitgeberin bestand eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit, nach der jeder Mitarbeiter eine codierte Chipkarte erhält und sich bei Betreten und Verlassen des Betriebs sowie für Pausen ein- bzw. ausstempeln muss. Lediglich Arbeitsunterbrechungen bei Toilettengängen sollten nicht erfasst werden. Über das Erfordernis des Ausstempelns bei Raucherpausen waren die Kläger durch eine Mitarbeiterversammlung, Schulungen sowie bereitgestelltes Material unterrichtet worden. Die beiden Kläger arbeiteten in der Produktion der Beklagten und machten nachweislich an drei bis vier aufeinanderfolgenden Tagen jeweils rund 15 Raucherpausen, ohne sich für diese Pausen ordnungsgemäß auszustempeln. Die Beklagte sprach nach Bekanntwerden dieses Umstands und ohne vorherige Abmahnungen außerordentlich fristlose (Tat-)Kündigungen gegenüber beiden Klägern aus. Die Kläger rechtfertigten das Nicht-Ausstempeln ihrer Raucherpausen damit, dass sie während des Rauchens Arbeitsgespräche geführt hätten.

Das Arbeitsgericht München stellte die Wirksamkeit der beiden außerordentlichen Kündigungen fest. Die beiden Kläger hätten die Beklagte vorsätzlich veranlasst, ihnen Entgelt zu zahlen, ohne im Gegenzug die geschuldete Arbeitsleitung erbracht zu haben. Die Erbringung der Arbeitsleistung stelle die Hauptpflicht eines Arbeitnehmers dar. Verstöße in diesem Bereich berührten daher den Kernbereich des gegenseitigen Austauschverhältnisses. Die Verletzung der Pflicht zur ordnungsgemäßen Arbeitszeiterfassung stelle einen wichtigen Grund an sich dar, der zu einer außerordentlichen Kündigung berechtige.

Eine vorherige Abmahnung der Kläger war entbehrlich. Die über das Erfordernis des Ausstempelns von Raucherpausen hinreichend unterrichteten Kläger hatten sich bewusst in einer Vielzahl an Pausen nicht ausgestempelt. Ein solches Verhalten begründe erhebliche Verstöße im Kernbereich des gegenseitigen Austauschverhältnisses, bei denen die Kläger nicht damit rechnen konnten, dass die Beklagte diese sanktionslos hinnehmen werde. Dies gelte insbesondere in Anbetracht der hohen Anzahl an Verstößen.

Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung ließ das Arbeitsgericht München die Belange der Beklagten überwiegen. Gerade das wiederholte Nicht-Ausstempeln stelle eine Täuschung mit finanziellen Folgen für die Beklagte dar, die eine außerordentliche Kündigung rechtfertige.

Ein Blick auf die bisherige Rechtsprechung zum Arbeitszeitbetrug

Die Entscheidungen des Arbeitsgerichts München reihen sich nahtlos in die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung ein. So geht das Bundesarbeitsgericht in mittlerweile gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen (vgl. BAG 26. September 2013 – 2 AZR 682/12; BAG 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18; BAG 9. Juni 2011 − 2 AZR 381/10). Berücksichtigt wird dabei im Besonderen der Umstand, dass Arbeitgeber die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter nur schwer selbst kontrollieren können. Vielmehr müssen sie auf die ordnungsgemäße Dokumentation der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmer vertrauen können. Falsche Arbeitszeiterfassung stellt daher einen schweren Vertrauensmissbrauch dar und erschüttert den Kernbereich des gegenseitigen Austauschverhältnisses (LAG Rheinland-Pfalz. 6. Mai 2010 – 10 Sa 712/09). In der Rechtsprechung ging es bisher häufig um Fälle, in denen Arbeitnehmer wiederholt Pausen erheblich überzogen oder beharrlich ihre Arbeitszeiten falsch dokumentiert haben und daher ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB an sich gegeben war (vgl. LAG Thüringen, 3. Mai 2022 – 1 Sa 18/21; LAG Hessen 24. November 2010 – 8 Sa 491/10). In diesen Fällen fiel die erforderliche Interessenabwägung zulasten der betroffenen Arbeitnehmer aus. Der mit der vorsätzlich falschen Erfassung der Arbeitszeiten einhergehende erhebliche Vertrauensverlust wiegt regelmäßig besonders schwer. Dies gilt selbst dann, wenn eine Wiederholungsgefahr durch Herausnahme des Arbeitnehmers aus der Gleitzeitregelung ausgeschlossen werden könnte (vgl. LAG Niedersachsen 18. Januar 2010 − 9 Sa 1913/08; BAG 9. Juni 2011 − 2 AZR 381/10).

Die Rechtsprechung hat in vielen Fällen eine vorherige Abmahnung der jeweiligen Arbeitnehmer bei vorsätzlichem Arbeitszeitbetrug für entbehrlich gehalten (vgl. BAG 9. Juni 2011 − 2 AZR 381/10; LAG Niedersachsen 18. Januar 2010 − 9 Sa 1913/08). Nur bei einmaligem Nichtausstempeln in der Pause für nur wenige Minuten und einer dadurch entstandenen Überzahlung an Arbeitsentgelt in Höhe von EUR 0,80 bei ansonsten beanstandungsfreiem Arbeitsverhältnis wurde allerdings eine vorherige Abmahnung für erforderlich gehalten (LAG Köln 13. April 2011 – 9 Sa 1320/10).

In einer Vielzahl an Konstellationen haben Arbeitnehmer vergeblich versucht, (bezahlte) Raucherpausen zu rechtfertigen: Es mag absurd klingen, aber es wurde entschieden, dass eine Nikotinabhängigkeit jedenfalls nicht für eine Exkulpation reicht, denn sie hindert nicht am Ausstempeln an sich. Der Arbeitgeber ist auch nicht verpflichtet, eine vorherige Nikotinentwöhnung anzubieten (vgl. LAG Rheinland-Pfalz 6. Mai 2010 – 10 Sa 712/09). Weder beim LAG Niedersachsen noch beim BAG verfing die Argumentation, ein Missbrauch bei der Arbeitszeiterfassung könne lediglich zu einem Herausfallen aus der gleitenden Arbeitszeit sowie der selbstständigen Zeiterfassung führen, aber keine Kündigung rechtfertigen (vgl. LAG Niedersachsen 18. Januar 2010 − 9 Sa 1913/08; BAG 9. Juni 2011 − 2 AZR 381/10). Teilweise argumentieren Arbeitnehmer außerdem vergeblich damit, dass sie während einer Pause, in der sie sich nicht ausgestempelt hatten, Arbeitsleistungen erbracht haben (ArbG München 22. Januar 2024 – 3 Ca 7542/23 und 22. Januar 2024 – 3 Ca 7544/23). Grundsätzlich möglich erscheinen hier beispielsweise interne Besprechungen sowie ein Austausch mit Kunden. Diese Umstände sind aber von den Arbeitnehmern darzulegen. Häufig kann eine solche Argumentation aber bereits aufgrund der Position und den Aufgaben des jeweiligen Arbeitnehmers ausgeschlossen sein – wie es auch in den Entscheidungen des Arbeitsgerichts München der Fall war.

Blick in die Praxis

In vielen Unternehmen kommt es zu Raucherpausen, die – vom Arbeitgeber unbemerkt – nicht als Arbeitszeit erfasst werden. Fällt das in der Belegschaft auf, werden sie häufig Gegenstand kontroverser Diskussionen und der Auslöser von Unmut bei den Kollegen. Um solche Diskussionen zu vermeiden und so letztlich die Zusammenarbeit aller zu fördern, besteht ein Interesse des Arbeitgebers an der Einhaltung und Durchsetzung der Erfassung solcher Pausen, die stichprobenartig kontrolliert werden kann. Eine korrekte Arbeitszeiterfassung ist darüber hinaus auch wichtig, um Konflikte und Reibungspunkte unter den Arbeitnehmern zu verhindern.

Wichtig ist zudem, dass Arbeitgeber klare Regelungen zur Arbeitszeiterfassung aufstellen. Nur so können Verstöße in letzter Konsequenz rechtssicher sanktioniert werden. Hinsichtlich möglicher Abmahnungen und Kündigungen sollte darauf geachtet werden, dass eine hinreichend substantiierte Darstellung des vorgeworfenen Verhaltens erfolgt – insbesondere hinsichtlich Zeit, Ort und der konkreten Umstände.

Lesenswert zum Thema Arbeitszeitbetrug auch unser Blogbeitrag: Jiggler & Co – Arbeitszeitbetrug im Homeoffice (cmshs-bloggt.de)

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Strategische Planung arbeitsrechtlicher Umstrukturierungen

Do, 25.07.2024 - 12:35

Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Situation sehen sich derzeit viele Unternehmen in Deutschland zu arbeitsrechtlichen Umstrukturierungen gezwungen. Gegenstand der Überlegungen sind dabei regelmäßig wesentliche organisatorische Änderungen auf Ebene mindestens eines Betriebs, teils auch mehrerer Betriebe oder des Unternehmens insgesamt. Personalabbaumaßnahmen gehören nach wie vor zu den erwogenen Maßnahmen, sind aber in jüngerer Zeit – insbesondere wegen des beinahe allgegenwärtigen Fachkräftemangels – etwas seltener geworden.

Eine solide strategische Planung ist bei solchen arbeitsrechtlichen Umstrukturierungen unerlässlich. Doch die Planung muss weit mehr berücksichtigen als nur rechtliche Aspekte, sondern ebenso die wirtschaftlichen und finanziellen, zeitlichen und psychologischen Faktoren umfassen. Die strategische Planung steht am Anfang jeder Umstrukturierung. Je mehr Zeit hier investiert wird, desto problemloser laufen erfahrungsgemäß die nachfolgenden Phasen (Kommunikations-, Beteiligungs- und Umsetzungsphase).

Businessentscheidung und Projektbeschreibung zu Beginn der arbeitsrechtlichen Unternehmensumstrukturierungen

Am Anfang der Planungsphase steht die grundlegende Businessentscheidung und eine darauf aufbauende Projektbeschreibung: Eine Umstrukturierung kann auf außerbetrieblichen Gründen (z.B. Umsatzrückgang) oder innerbetrieblichen Gründen (z.B. die Entscheidung der Anpassung der Personalstärke, Umverteilung des Arbeitsvolumens, Veränderung der Tätigkeitsbereiche, Prozessoptimierung) beruhen. Es ist von zentraler Bedeutung, die Ursachen herauszuarbeiten, auf denen die unternehmerische Entscheidung beruht:

  • Ein typischer (außerbetrieblicher) Auslöser sind Veränderungen des Markts, etwa der Nachfrage oder im Wettbewerbsumfeld, die eine Neuausrichtung der Geschäftsstrategie erforderlich machen – was wiederum zu Umstrukturierungen in verschiedenen Bereichen, zur Einführung neuer Technologien oder zur Änderung von Arbeitsprozessen führen kann. 
  • Ein häufiger (innerbetrieblicher) Grund von Umstrukturierungen ist die Entscheidung, dauerhaft (Personal-) Kosten zu reduzieren, um einen Betrieb/ein Unternehmen profitabler (oder überhaupt weiterhin profitabel) betreiben zu können. Das bedeutet nicht selten einen Personalabbau.
  • Unternehmenszusammenschlüsse oder -übernahmen sind ebenfalls häufige Ursachen für Umstrukturierungen, weil sie regelmäßig zu Überschneidungen in Prozessen, Personal und Ressourcen führen. In solchen Fällen dient eine Neustrukturierung regelmäßig dazu, Doppelungen abzubauen und Synergien zu nutzen. 
  • Schließlich erfordert auch die zunehmende Digitalisierung und der Wandel in der Technologielandschaft oftmals eine Anpassung in der Arbeitsweise, was (betriebliche oder arbeitstechnische) Änderungen, z.B. durch die Einführung neuer Softwarelösungen oder die Automatisierung bestimmter Prozesse, nach sich ziehen kann.

Die wirtschaftliche und finanzielle Analyse ist hierbei essenziell. Wie hierbei unser CMS Advisory Team helfen kann, haben wir bereits in unserer Serie erläutert. Ausgehend von dem Analyseergebnis ist eine Ist- /Sollbetrachtung zu erstellen und damit das unternehmerische und betriebliche Zielbild zu konkretisieren. Diese stellt damit die Projektbeschreibung dar und sollte insbesondere

  • die konkreten Auswirkungen auf einzelne Arbeitsplätze (Wegfall / Verlagerung / Veränderung) und
  • den zeitlichen Ablauf (Wann soll der Wegfall erfolgen? / Wie soll die Umsetzung bis dahin aussehen? / Was geschieht bei vorzeitigem Ausscheiden von Mitarbeitern? / Welches Personal wird bis zu welchem Zeitpunkt zwingend benötigt?)

umfassen.

Im arbeitsrechtlichen Transformationsprozess immer wieder unterschätzt: Bereitstellung genügender Ressourcen

Zur strategischen Vorbereitung gehört auch die Planung der Ressourcen. Zu den erforderlichen personellen Ressourcen zählen insbesondere

  • die Personalabteilung, die verfügbar sein muss, etwa um Mitarbeiterdaten zusammenzustellen und ggf. Dokumente zu produzieren und zu versenden,
  • das Verhandlungsteam, welches für die Verhandlung mit Arbeitnehmervertretern zusammengestellt werden muss, und
  • das Kommunikationsteam, das zur Planung und Umsetzung der inner- und außerbetrieblichen Kommunikation dient. 

Zur Unterstützung der personellen Ressourcen kann es sich – abhängig vom Umfang der Umstrukturierung – anbieten, auf spezialisierte technische Lösungen zurückzugreifen, etwa auf Legal Tech Tools wie den CMS Restrukturierungsmanager.

Handlungsoptionen erarbeiten und bewerten

Auf Basis der unternehmerischen Entscheidung und ausgehend von der Projektbeschreibung (= Zielbild) können dann die verschiedenen Handlungsoptionen erarbeitet werden. Hierbei sind die rechtlichen, zeitlichen und finanziellen Rahmenbedingungen und Einschränkungen zu berücksichtigen. 

Zu den möglichen Handlungsoptionen gehören insbesondere:

Arbeitsrechtliche Umsetzbarkeit und Prüfung der Beteiligungspflichten 

Eine zentrale Fragestellung ist dabei: Sind die jeweiligen Optionen (arbeits-)rechtlich umsetzbar, oder, besser gefragt, unter welchen Voraussetzungen ist das der Fall? Je nach der arbeitsrechtlichen Landschaft müssen dabei neben tarifrechtlichen Fragestellungen insbesondere die Pflichten des Arbeitgebers zur Beteiligung von Arbeitnehmervertretungsgremien* analysiert werden. In Frage kommen dabei regelmäßig

  • bei Betriebsänderungen die Beteiligung des Betriebsrats gem. §§ 111 ff. BetrVG in Form der Verhandlung eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans sowie ggf. zusätzlich einer Betriebsvereinbarung zur Umsetzung weiterer Maßnahmen, die aus Rechtsgründen nicht im Sozialplan geregelt werden sollten (Beispiel: Freiwilligenprogramm),
  • bei Personalabbau ggf. das Konsultationsverfahren gem. § 17 KSchG,
  • beim Ausspruch von (Änderungs-)Kündigungen die Anhörung des Betriebsrats gem. § 102 BetrVG,
  • bei Versetzungen die Anhörung des Betriebsrats gem. § 99 BetrVG,
  • bei der Entlassung schwerbehinderter Personen die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung (§ 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX) und des Inklusionsamtes (§§ 168 ff. SGB IX) sowie
  • bei umwandlungsrechtlichen Vorgängen die Zuleitung der Umwandlungsvereinbarungen an den zuständigen Betriebsrat (§§ 5 Abs. 3, 126 Abs. 3, 194 Abs. 2 UmwG).

Beachtet werden müssen auch echte „Show-Stopper“, wie Kündigungsverbote und dergleichen.

Zuständigkeiten auf Betriebsratsseite prüfen

In diesem Zusammenhang sind zunächst die Zuständigkeiten zu klären: Ist der örtliche Betriebsrat zuständig, der Gesamtbetriebsrat oder sogar der Konzernbetriebsrat? Diese Frage mag womöglich nicht als wichtig ins Auge springen, und häufig haben Arbeitgeber insoweit schon aus praktischen Gründen bestimmte Präferenzen. Allerdings stecken hier besondere rechtliche Risiken: Wird das falsche Gremium beteiligt, drohen – je nach Gerichtsbezirk – gar Unterlassungsverfügungen, die das (vermeintlich) richtige Gremium beantragt sowie später finanzielle Schäden durch Nachteilsausgleichsansprüche von Arbeitnehmern.

Dabei gilt im BetrVG der allgemeine Grundsatz, dass jeweils der (örtliche) Betriebsrat zuständig ist. Nur im rechtlichen Ausnahmefall sind der Gesamtbetriebsrat oder der Konzernbetriebsrat zuständig. Nach § 50 Abs. 1 BetrVG ist für die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats erforderlich, dass die Angelegenheit (kumulativ)

  • das Gesamtunternehmen oder zumindest mehrere Betriebe des Unternehmens betrifft und
  • nicht durch die einzelnen Betriebsräte innerhalb ihrer Betriebe geregelt werden können.

Zu beachten ist außerdem, dass für ein und dieselbe Betriebsänderung verschiedene Gremien zu beteiligen sein können. Selbst bei übergreifenden Projekten, bei denen der Gesamtbetriebsrat für die Verhandlung des Interessenausgleichs zuständig ist, wird für die Verhandlungen über einen Sozialplan in der Regel der (lokale) Betriebsrat zuständig sein. 

Budgetierung der arbeitsrechtlichen Umstrukturierung im Blick behalten

Natürlich darf bei alledem die Budgetierung, d. h. die Kalkulation der Kosten für die jeweilige Handlungsoption, nicht fehlen. Die wesentlichen Kostenblöcke bei einem Personalabbau sind 

  • die Personalkosten bis zur Umsetzung der Maßnahme gemäß Zeitplan, 
  • etwaige Retention-Boni zur Sicherung des ordnungsgemäßen Betriebsablaufs, 
  • Leistungen zur Milderung der mit dem Arbeitsplatzverlust verbundenen Nachteile (insbesondere Abfindungen)
  • sowie ggf. weitere Kosten, etwa für Outplacement-Leistungen, eine Transfergesellschaft, den Ausgleich von Vergütungsdifferenzen und dergleichen.

Erfahrungsgemäß wird die Abfindungshöhe neben tariflichen Vorgaben vor allem durch die bisherige Praxis (d. h. in der Vergangenheit im Unternehmen eingesetzte Abfindungsfaktoren) sowie die Branchenüblichkeit, regionale Besonderheiten, und die aktuelle Arbeitsmarktlage bestimmt. Gute Anhaltspunkte bietet hier die CMS Sozialplanstudie

Zeit- und Ablaufplan

Die Handlungsoptionen sind auch nach ihrer zeitlichen Umsetzbarkeit zu bewerten. Nicht nur für die Planung, sondern insbesondere auch für die Beteiligung der verschiedenen Gremien ist ausreichend Zeit einzuplanen. Das kann etwa einen – ggf. mitbestimmten – Aufsichtsrat betreffen, vor allem aber das zuständige Betriebsratsgremium bei einer etwaig erforderlichen Beteiligung in Bezug auf eine vorliegende Betriebsänderung.

Liegt eine Betriebsänderung vor, sind regelmäßig Interessenausgleich und Sozialplan zu verhandeln. Hierfür sollten mindestens drei bis vier Monate eingeplant werden, je nach Umfang der Umstrukturierung können die Verhandlungen aber auch mehr Zeit benötigen. Das gilt insbesondere, wenn der zuständige Betriebsrat „auf Zeit spielt“ und versucht, die Verhandlungen zu verzögern. Bewusste Verzögerungen können dabei unserer Erfahrung nach am besten durch eine transparente und vertrauensvolle Zusammenarbeit verhindert werden.

Vorbereitung der arbeitsrechtlich relevanten Dokumente

Zu den arbeitsrechtlich relevanten Dokumenten, die vorbereitet werden sollten, können insbesondere zählen: 

  • der Interessenausgleich,
  • der Sozialplan,
  • eine begleitende Betriebsvereinbarung,
  • eine oder mehrerer Massenentlassungsanzeigen,
  • Betriebsratsanhörungsschreiben,
  • Kündigungs- und Versetzungsschreiben, sowie
  • Aufhebungsverträge und Abwicklungsverträge.

Zum Inhalt von Interessenausgleich und Sozialplan werden wir in einem gesonderten Beitrag unserer Blogreihe berichten.

Last but not least: Die richtige Kommunikation

Die Kommunikationsplanung ist bei arbeitsrechtlichen Umstrukturierungen von zentraler Bedeutung, da sie maßgeblich zur Akzeptanz und zum Erfolg der Maßnahmen beiträgt. Wohlüberlegt sollte sein, 

  • wann
  • wo / durch wen und
  • wie, d.h. mit welchen Mitteln/Kommunikationskanälen, 

die beabsichtigte Umstrukturierung bekanntgegeben wird. 

Eine klare, offene und zeitgerechte Kommunikation hilft, Unsicherheiten und Ängste bei den Mitarbeitenden zu reduzieren und Gerüchte zu vermeiden. Sie fördert das Verständnis für die Notwendigkeit der Veränderungen und kann die Unterstützung der Belegschaft sichern. Zudem trägt eine gut durchdachte Kommunikationsstrategie dazu bei, das Vertrauen in das Management zu stärken und die Unternehmenskultur auch in schwierigen Zeiten zu bewahren. Dadurch wird nicht nur die rechtliche und soziale Akzeptanz der Umstrukturierung erhöht, sondern auch die Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung und eine positive zukünftige Entwicklung des Unternehmens gelegt. 

Checkliste einer arbeitsrechtlichen Transformation im Unternehmen

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass gute Planung Zeit, Geld und Nerven spart. Die wichtigsten Planungsschritte sind, zusammengefasst:

  • Begründung der Maßnahme, Erstellung der Projektbeschreibung,
  • Aufstellung der Ressourcen,
  • Erarbeitung der Handlungsoptionen,
  • Prüfung der (arbeits-)rechtliche Umsetzbarkeit, insbesondere der Beteiligungspflichten,
  • Budgetierung,
  • Erstellung eines Zeit- und Ablaufplans,
  • Vorbereitung der wesentlichen Dokumente und
  • Erstellung eines Kommunikationsplans.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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UPC: Erste Hauptsacheentscheidung der Lokalkammer Düsseldorf klärt Fragen materiellen Rechts

Do, 25.07.2024 - 06:46

In der ersten Hauptsacheentscheidung hat sich die Lokalkammer Düsseldorf des Gerichts erster Instanz des Einheitlichen Patentgerichts (Unified Patent Court, UPC) u.a. zum Vorbenutzungsrecht geäußert und ein europäisches Vorbenutzungsrecht abgelehnt.

Das UPC hat Wort gehalten: Das Gericht hatte in Ziff. 7 Satz 1 der Präambel der Verfahrensordnung(VerfO) anvisiert, dass die letzte mündliche Verhandlung zur Verletzung und zur Rechtsgültigkeit in der ersten Instanz innerhalb eines Jahres nach Klageeinreichung stattfinden soll. Im vorliegenden Fall wurde die Verletzungsklage am 1. Juni 2023 eingereicht und die mündliche Verhandlung fand am 16. Mai 2024 statt. Ob dieser Zeitplan auch bei weiter steigenden Fallzahlen durchzuhalten ist, wird sich zeigen müssen. Personell hat das UPC zuletzt jedenfalls deutlich zugelegt und etwa bei der Lokalkammer in München einen zweiten Spruchkörper eröffnet sowie Zuwachs von Richtern deutscher Landes- und Oberlandesgerichte erhalten.

Die Entscheidung der Lokalkammer Düsseldorf vom 3. Juli 2024 – Verfahrensgegenstand und Anträge

Die allererste Hauptsacheentscheidung des UPC setzt sich gleich mit mehreren materiell-rechtlichen und prozessualen Fragestellungen auseinander. Gegenstand des Verfahrens ist eine Verletzungsklage i.S.d. Art. 32 Abs. 1 lit. a) des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) und eine Nichtigkeitswiderklage i.S.d. Art. 32 Abs. 1 lit. e) EPGÜ. Die Klägerin, eine deutsche Anbieterin hochwertiger Badobjekte aus Stahl-Email, hatte sich mit ihrer Verletzungsklage vom 1. Juni 2023 gegen das Anbieten und den Vertrieb von Duschwannen durch die deutsche Beklagte in Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Österreich gewandt. Die Beklagte greift mit ihrer Nichtigkeitswiderklage den Rechtsbestand des Klagepatents – Europäisches Patent (EP) 3 375 337 B1 (Titel: „Sanitärwanneneinrichtung“) – an. Außergerichtlich hatte die Klägerin der Beklagten eine Berechtigungsanfrage zukommen lassen. In ihrer Antwort war die Beklagte dem Verletzungsvorwurf nicht entgegengetreten, sondern hatte auf das von ihr gehaltene deutsche Patent DE 10 2017 105 180 verwiesen, das die Beklagte drei Tage vor der Prioritätsanmeldung  des Klagepatents angemeldet hatte. Im weiteren Verlauf hatte die Klägerin die Beklagte erfolglos abgemahnt.

Die Klägerin greift zwei Ausführungsformen an, die von der Beklagten in den vorgenannten Ländern angeboten bzw. vertrieben werden. Die Klägerin stützt ihre Verletzungsklage vor allem auf eine unmittelbare Verletzung des Anspruchs 1 des Klagepatents durch die erste angegriffene Ausführungsform sowie auf eine mittelbare Verletzung des Anspruchs 1 des Klagepatents durch die zweite angegriffene Ausführungsform. Die Klägerin begehrt u.a. Unterlassung, Auskunft, Rückruf, die endgültige Entfernung aus den Vertriebswegen, die Festsetzung von Zwangsgeld und die Zahlung von (vorläufigem) Schadensersatz.

Tatsächliche und rechtliche Streitpunkte

Schlagwortartig zusammengefasst sind insbesondere folgende tatsächliche und rechtliche Aspekte zwischen den Parteien streitig:

  • Zulässigkeit des Antrags auf Offenlegung der Bücher bereits in einem Verletzungsverfahren;
  • Fortsetzung des Vertriebs der angegriffenen Produkte durch die Beklagte an Online-Händler;
  • Vorbenutzungsrecht zugunsten der Beklagten und dessen sachlicher sowie territorialer Umfang;
  • Neuheit und erfinderische Tätigkeit bzgl. des Gegenstands des Klagepatents.
Entscheidungsgründe der Lokalkammer Düsseldorf

Nach der Lokalkammer Düsseldorf ist die zulässige Klage begründet und die zulässige Widerklage teilweise begründet.

Mit Anordnung vom 1. Dezember 2023 hatte die Lokalkammer nach Art. 33 Abs. 3 lit. a) EPGÜ beschlossen, die Verletzungsklage und die Nichtigkeitswiderklage gemeinsam zu verhandeln.

Zu Beginn der Entscheidungsgründe schließt sich die Lokalkammer ausdrücklich der Rechtsprechung des Berufungsgerichts an, nach der die Grundsätze zur Auslegung eines Anspruchs eines EP nach Art. 69 des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) i.V.m. mit dem Protokoll über die Auslegung des Art. 69 EPÜ gleichermaßen für die Beurteilung der Verletzung und des Rechtsbestands eines EP gelten.

Im weiteren Verlauf der Entscheidungsgründe stellt die Lokalkammer nach umfassenden Ausführungen zur Auslegung einzelner Merkmale des Hauptanspruchs des Klagepatents fest, dass der erteilte Hauptanspruch des Klagepatents nicht rechtsbeständig sei. Das Klagepatent sei allerdings in der Fassung des Hilfsantrags rechtsbeständig.

Nach der Prüfung des Rechtsbestands führt die Lokalkammer aus, dass die Verletzungsklage auch in der Sache begründet sei, da die Beklagte das Klagepatent mittelbar und unmittelbar verletze und sich nicht auf ein Vorbenutzungsrecht berufen könne.

Zur Frage der Patentverletzung führt die Lokalkammer nur knapp aus und stellt fest, dass diese hinsichtlich beider Ausführungsformen unstreitig sei.

Es folgen Ausführungen zum von der Beklagten geltend gemachten Vorbenutzungsrecht, dessen Bestehen die Lokalkammer jedenfalls in Bezug auf die streitgegenständlichen Vertragsmitgliedsstaaten als nicht gegeben ansieht. Das Vorbenutzungsrecht ist in Art. 28 EPGÜ geregelt. Dieser lautet:

„Wer in einem Vertragsmitgliedstaat ein Vorbenutzungsrecht oder ein persönliches Besitzrecht an einer Erfindung erworben hätte, wenn ein nationales Patent für diese Erfindung erteilt worden wäre, hat in diesem Vertragsmitgliedstaat die gleichen Rechte auch in Bezug auf ein Patent, das diese Erfindung zum Gegenstand hat.“

Die Lokalkammer hält wegen des engen Wortlauts der Vorschrift fest, dass der Nutzer der erfindungsgemäßen Technologie sich nur auf die Rechte berufen könne, die ihm die jeweiligen nationalen Regelungen der jeweiligen Vertragsmitgliedstaaten zubilligen. Das Bestehen eines Vorbenutzungsrechts müsse für jeden der geschützten Vertragsmitgliedstaaten unter dessen Bedingungen vorgetragen werden. Die Norm sehe gerade kein europäisches Vorbenutzungsrecht vor, sondern es handele sich um eine gleitende Verweisung auf das jeweilige nationale Recht. Für diese Auslegung der Norm spreche, dass ein unionsweites Vorbenutzungsrecht den effektiven europäischen Patentschutz über Gebühr einschränken könnte. Nach der Ansicht der Lokalkammer habe die Beklagte nur zum Erfindungsbesitz und dessen Betätigung innerhalb Deutschlands vorgetragen, nicht jedoch zu den im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Vertragsmitgliedsstaaten.

In der Folge setzt sich die Lokalkammer noch mit den einzelnen Verletzungshandlungen der unmittelbaren Patentverletzung i.S.d. Art. 25 lit. a) EPGÜ sowie denjenigen der mittelbaren Patentverletzung i.S.d. Art. 26 Abs. 1 EPGÜ auseinander. Für eine unmittelbare Patentverletzung i.S.d. Art. 25 lit. a) EPGÜ genüge ein Inverkehrbringen über Zwischenhändler, sofern die Beklagte als Lieferantin konkrete Anhaltspunkte für eine Weiterlieferung hat, wovon im vorliegenden Fall mangels anderweitigen Vortrags der Beklagten auszugehen sei. Da die Beklagte die angegriffenen Produkte anbietet und in Verkehr bringt, bestehe eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie die angegriffenen Produkte ebenfalls gebraucht bzw. zu den Zwecken des Anbietens, Inverkehrbringens oder Gebrauchens einführt oder besitzt.

Bei der mittelbaren Patentverletzung i.S.d. Art. 26 Abs. 1 EPGÜ sei ein doppelter Hoheitsgebietsbezug zu verlangen. Das bedeute, dass Angebot und/oder Lieferung zum einen im Hoheitsgebiet erfolgen und zum anderen auch zur Benutzung der Erfindung im Hoheitsgebiet dienen müssen. Fraglich ist, ob es für die Erfüllung des doppelten Hoheitsgebietsbezugs bei einem europäischen (Bündel-)Patent, also einem „klassischen“ EP, ausreicht, dass das Anbieten bzw. Liefern in einem der streitgegenständlichen Vertragsmitgliedsstaaten erfolgt und zur unmittelbaren Benutzung der Erfindung in den anderen geschützten Vertragsmitgliedsstaaten gedacht ist oder ob bei einem „klassischen“ EP zu verlangen ist, dass die unerlaubte Handlung auf denselben Vertragsmitgliedsstaat zielen muss, in dem durch die Lieferung die unmittelbare Patentverletzung verwirklicht wird. Die Frage musste von der Lokalkammer im konkreten Fall nicht entschieden werden, da die Beklagte auch nach der engeren, letztgenannten Auffassung den objektiven Tatbestand der mittelbaren Patentverletzung erfüllt. Auch der subjektive Tatbestand der mittelbaren Patentverletzung sei gegeben.

Auf der Rechtsfolgenseite hat die Lokalkammer bzgl. der unmittelbaren Patentverletzung das Recht zur Untersagung einer Fortsetzung der Verletzung nach Art. 63 Abs. 1 EPGÜ ausgesprochen. Ferner stehe der Klägerin ein Recht auf Auskunft nach Art. 67 EPGÜ zu. Den Antrag auf Offenlegung der Bücher nach Art. 68 Abs. 1 EPGÜ hatte die Klägerin nach einem Hinweis der Lokalkammer zurückgenommen. Einen solchen hätte die Lokalkammer auch nicht zugesprochen, da er dem Verfahren zur Festsetzung der Höhe des Schadensersatzes vorbehalten ist. Der Klägerin steht nach der Lokalkammer allerdings ein Recht auf Übermittlung von Informationen, die die Klägerin zum Zwecke ihrer Rechtsverfolgung vernünftigerweise benötigt, gem. Art. 68 Abs. 3 EPGÜ zu. Zudem hat die Lokalkammer ein Zwangsgeld nach Art. 63 Abs. 2 EPGÜ für den Fall eines Verstoßes gegen das Unterlassungsgebot angedroht. Die Androhung für die Maßnahmen der Auskunft, Information, Rückruf und Entfernung aus den Vertriebswegen finden in Art. 82 Abs. 1, Abs. 4 EPGÜ i.V.m. Regel 354.3 VerfO ihre Grundlage. Zudem hat die Lokalkammer der Klägerin das Recht auf vorläufigen Schadensersatz nach Art. 68 Abs. 1 EPGÜ zugesprochen und festgestellt, dass Schadensersatz dem Grunde nach zu leisten ist. Die Rechtsfolgen bzgl. der mittelbaren Patentverletzung entsprechen im Wesentlichen den soeben dargelegten Rechtsfolgen, die sich aus der unmittelbaren Patentverletzung ergeben.

Ferner hat die Lokalkammer eine Kostengrundentscheidung nach Art. 69 Abs. 2 EPGÜ i.V.m. Regel 118.5 VerfO getroffen, wobei sie aufgrund des teilweisen Obsiegens und Unterliegens der Parteien die Kosten nach Billigkeit verteilt hat. Eine Sicherheitsleistung i.S.d. Art. 82 Abs. 2 EPGÜ i.V.m. Regel 118.8 S. 2 VerfO hat die Lokalkammer nicht festgesetzt, da kein erhebliches Schadensrisiko erkennbar sei, dessen Absicherung es bedurft hätte.

Fazit: Darlegungslast für das Vorbenutzungsrecht, getrennter Höheprozess und weitere Erkenntnisse

Die erste Entscheidung in der Hauptsache des UPC war mit Spannung erwartet worden, u.a. auch deshalb, weil die Art. 56 ff. EPGÜ (Kapitel IV des EPGÜ, Überschrift: „Befugnisse des Gerichts“) die Rechtsfolgen in das Ermessen des UPC stellen und sich damit vom deutschen Leitbild des Anspruchs und des damit verbundenen quasi-automatischen Unterlassungsanspruchs (vgl. § 139 Abs. 1 PatG[VS13] ) unterscheiden. Wie die Entscheidung der Lokalkammer Düsseldorf gezeigt hat, dürften die Unterschiede in der Praxis indes regelmäßig gering ausfallen bzw. faktisch nicht vorhanden sein, insbesondere wenn die Beklagtenseite nicht zur vermeintlichen Unverhältnismäßigkeit der Rechtsfolgen vorträgt.

Berufen sich Beklagte auf ein Vorbenutzungsrecht, müssen sie zum Bestehen der Tatbestandsvoraussetzungen eines solchen Vorbenutzungsrechts für jeden der geschützten Vertragsmitgliedsstaaten vortragen, was angesichts unterschiedlicher nationaler Regelungen des Vorbenutzungsrechts entsprechende Anforderungen an das Anwaltsteam stellt.

Eine Verpflichtung zur Offenlegung der Bücher im Verletzungsverfahren scheidet aus, da ein solcher Antrag Teil des Verfahrens zur Festsetzung der Höhe des angeordneten Schadensersatzes ist. Der Antrag auf Offenlegung der Bücher geht ggf. dem bezifferten Schadensersatzanspruch voraus.

Bereits im Verletzungsverfahren können hingegen solche Informationen verlangt werden, die die Klägerseite benötigt, um von der Beklagtenseite erteilte Auskünfte auf Stichhaltigkeit überprüfen zu können und Anhaltspunkte für ihre Schadensberechnung zu erlangen (etwa Kostenfaktoren, die von der Beklagtenseite dem Verletzergewinn entgegengehalten werden). Daneben kann die Klägerseite Belege für die Auskünfte verlangen, namentlich Rechnungen oder hilfsweise Lieferscheine.

Die endgültige Entfernung aus den Vertriebswegen ist eine eigenständige, vom Rückruf zu trennende Maßnahme. Eine solche Entfernung kommt nur in Betracht, wenn der Verletzer hierzu die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten hat.

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BVerfG: Immer schön langsam mit dem Eilrechtsschutz

Mi, 24.07.2024 - 12:39

Landen gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten vor Gericht, ist häufig eine zügige Entscheidung geboten. Folglich kommt dem Eilrechtsschutz in der gesellschaftsrechtlichen Praxis eine hohe Bedeutung zu. Ein häufig auftretendes Beispiel ist der Gesellschafter, der sich gegen seine Abberufung als Geschäftsführer oder seinen Ausschluss aus der Gesellschaft zur Wehr setzen muss.

Solche Fälle stellen das befasste Gericht vor große Herausforderungen, nicht zuletzt aus verfassungsrechtlichen Gründen: Einerseits ist eine schnelle Entscheidung für einen effektiven Rechtsschutz des Antragstellers unerlässlich. Zugleich gebieten die Prozessgrundrechte des Antragsgegners, dass die Entscheidungsfindung nicht überstürzt erfolgt.

Vor diesem Hintergrund dürfte eine jüngst getroffene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 12. März 2024 – 1 BvR 605/24) auch im Gesellschaftsrecht große Beachtung finden. Die Verfassungshüter nahmen eine presserechtliche Auseinandersetzung zum Anlass, um sich mit grundlegenden Anforderungen an die mündliche Verhandlung im Eilrechtsschutz zu beschäftigen.

Der Weg zum BVerfG

Ausgangspunkt des Verfahrens war der Erlass einer einstweiligen Verfügung durch das Landgericht Hamburg, mit der einer Presseverlegerin die Bebilderung zweier Artikel untersagt wurde. Die Antragstellerin reichte den Verfügungsantrag am 24. Januar 2024 bei dem LG Hamburg ein, jedoch war dieser bereits auf den 15. Januar 2024 datiert und inhaltlich nahezu gleichlautend mit einer außergerichtlichen Abmahnung an die Presseverlegerin vom 2. Januar 2024. Die Presseverlegerin beantragte in ihrer Erwiderung vom 30. Januar 2024, den Antrag zurückzuweisen. Schon am Folgetag erließ das LG Hamburg die beantragte einstweilige Verfügung durch Beschluss (324 O 38/24). Der Beschluss erging ohne mündliche Verhandlung, ohne dass das LG Hamburg näher ausführte, warum es einer mündlichen Verhandlung nicht bedurft hätte.

Gegen diese einstweilige Verfügung zog die Presseverlegerin im Wege der Verfassungsbeschwerde vor das BVerfG und stellte ihrerseits einen Eilantrag nach § 32 Abs. 1 BVerfGG mit dem Ziel, die einstweilige Verfügung des LG Hamburg einstweilen außer Vollzug setzen zu lassen. Sie stützte ihre Verfassungsbeschwerde unter anderem auf eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf prozessuale Waffengleichheit: Zum einen hätte eine mündliche Verhandlung stattfinden müssen, zum anderen hätte das Absehen von der mündlichen Verhandlung begründet werden müssen.

Das Recht auf prozessuale Waffengleichheit

In seiner Entscheidung befasste sich das BVerfG insbesondere mit der Frage, ob die einstweilige Verfügung eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf prozessuale Waffengleichheit darstellt.

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess. Er dient der verfassungsrechtlichen Sicherung der Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Demnach muss das Gericht „den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbstständig geltend zu machen″.

Verfassungsrechtliche Gebotenheit einer mündlichen Verhandlung?

Ausgehend von diesen Grundsätzen stellte sich dem BVerfG die Frage, welche Vorgaben aus dem Recht auf prozessuale Waffengleichheit für die mündliche Verhandlung im Eilrechtsschutz folgen.

Das BVerfG betont, dass das Recht auf prozessuale Waffengleichheit ebenso wenig wie der Gehörsgrundsatz (Art. 103 Abs. 1 GG) einen uneingeschränkten Anspruch auf eine mündliche Verhandlung begründet. Folglich gestatte § 937 Abs. 2 ZPO den Erlass einer einstweiligen Verfügung in „dringenden Fällen“ ohne mündliche Verhandlung. Die Fachgerichte hätten einen weiten Wertungsrahmen für die Beurteilung des Vorliegens eines „dringenden Falls“ im Sinne von § 937 Abs. 2 ZPO. Anders ausgedrückt kann in Fällen besonderer Dringlichkeit über eine einstweilige Verfügung auch ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Als verfassungsrechtliches Minimum sehe der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit in solchen Fällen vor, dass die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern – im zu entscheidenden Fall durch die schriftliche Erwiderung der Presseverlegerin vom 30. Januar 2024.

Sodann weisen die Verfassungshüter aber darauf hin, dass selbst im Eilrechtsschutz das Absehen von einer mündlichen Verhandlung die Ausnahme darzustellen hat. Im Regelfall solle eine mündliche Verhandlung stattfinden. Zudem setze die Annahme einer gesteigerten Dringlichkeit im Sinne von § 937 Abs. 2 ZPO sowohl seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine entsprechende zügige Verfahrensführung voraus. Wenn deutlich werde, dass eine unverzügliche Entscheidung anders als zunächst vorgesehen nicht zeitnah ergehen muss oder kann, so sei das Gericht dazu angehalten, die Frage nach der Dringlichkeit erneut zu überdenken und gegebenenfalls eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, auf deren Grundlage dann zu entscheiden ist.

Verletzung durch das LG Hamburg

Unter Zugrundelegung dessen kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die einstweilige Verfügung des LG Hamburg das Recht auf prozessuale Waffengleichheit der Presseverlegerin offenkundig verletzt.

Der Entscheidung des LG Hamburg sei nicht zu entnehmen, weshalb es von einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe, obwohl eine solche auch im Eilrechtsschutz die Regel sei. Des Weiteren habe das LG Hamburg in Ermangelung jeglicher Ausführungen zu § 937 Abs. 2 ZPO nicht erkennen lassen, ob es sich in seiner Verfahrenshandhabung überhaupt vom einschlägigen einfachen Recht hatte leiten lassen, und bleibe selbst hinter einer nur formelhaft begründeten Verfahrenshandhabung zurück, was unlängst vom BVerfG in einem ähnlich gelagerten Fall als verfassungswidrig eingestuft wurde. Darin sieht das Bundesverfassungsgericht ein bewusstes und systematisches Übergehen des Prozessrechts.

Folgen für die Praxis

Für die gesellschaftsrechtliche Praxis sind vor allem zwei Aspekte von Bedeutung: Wenn eine einstweilige Verfügung derart dringend erforderlich ist, dass eine solche ohne mündliche Verhandlung ergehen soll, muss auch die Verfahrensführung möglichst zügig erfolgen, um keine Zweifel an der nach § 937 Abs. 2 ZPO erforderlichen gesteigerten Dringlichkeit aufkommen zu lassen. Mit anderen Worten: Erhält ein Gesellschafter eine Ladung zu einer Gesellschafterversammlung, an deren Ende etwa seine Abberufung oder sein Ausschluss aus der Gesellschaft erfolgen soll, so muss er umgehend hiergegen eine einstweilige Verfügung beantragen. Er sollte nicht bis wenige Tage vor der Versammlung zuwarten.

Umgekehrt kann die Gesellschaft in Fällen, in denen eine einstweilige Verfügung gegen sie ohne mündliche Verhandlung erlassen und dies nicht näher begründet wurde, direkt vor das BVerfG ziehen. Dort kann sie beantragen, dass die einstweilige Verfügung wegen eines Verstoßes gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit einstweilen außer Vollzug gesetzt wird.

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Interne Untersuchungen & Arbeitsrecht: How to prepare best

Di, 23.07.2024 - 12:33

Unternehmen sehen sich regelmäßig mit dem Erfordernis konfrontiert, interne Ermittlungen durchführen zu müssen. Sei es, weil Meldungen über ein Hinweisgebersystem eingehen oder dem Arbeitgeber* auf anderem Wege individuelle Pflichtverletzungen zur Kenntnis gelangen. In jedem Fall sollte der Arbeitgeber bei nicht offensichtlich haltlosen Hinweisen tätig werden und die erhobenen Vorwürfe prüfen. Dazu ist er im Falle von Straftaten oder sonstigen Rechtsverstößen durch Arbeitnehmer auch verpflichtet, wie etwa im Falle des Verdachts auf sexuelle Belästigung.

Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Compliance (DICO) aus dem Jahr 2022 führen Unternehmen interne Ermittlungen in der Regel eigenständig durch.

Bei umfangreichen und komplexen Untersuchungen wird jedoch externe Unterstützung eingebunden. Dies ist insbesondere in sensiblen Fällen – etwa bei strafrechtlich relevanten Sachverhalten oder Ermittlungen gegen Mitglieder der Führungsebene – sinnvoll. Nicht nur verfügen externe Experten in aller Regel über größere Kapazitäten und umfangreiche Erfahrungen in verschiedensten Ermittlungssachverhalten; sie sind insbesondere nicht durch interne Dynamiken oder persönliche Beziehungen beeinflusst sind. Aber auch wenn Untersuchungen – jedenfalls zunächst – intern durchgeführt werden, sind Unternehmen gut beraten, wenn für solche Fälle bereits ein Fahrplan vorliegt. Erfahrungsgemäß sind interne Untersuchungen aufgrund der Beweissicherung sowie der im Arbeitsrecht geltenden Kündigungserklärungsfrist häufig besonders zeitkritisch.

Gute Vorbereitung ist das A und O

Die Durchführung interner Untersuchungen erfordert indes eine gewisse Vorbereitung, und zwar idealerweise, bevor eine solche Untersuchung überhaupt angestoßen werden muss. Die einzelnen Untersuchungsschritte sollten vorab aufeinander abgestimmt und Verantwortlichkeiten festgelegt werden. So kann ein reibungsloser Ablauf sichergestellt und ein etwaiger Zeitverlust vermieden werden. Letzterem kommt insbesondere dann Bedeutung zu, wenn als Konsequenz einer internen Untersuchung arbeitsrechtliche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Dies betrifft insbesondere den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung, bei der die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist aus § 626 Abs. 2 BGB einzuhalten ist. Eine gute Vorbereitung sichert aber auch eine bestimmte Qualität der Untersuchungsergebnisse und bietet einen Rahmen für ein durchdachtes und planvolles Vorgehen, statt unkoordiniertem Aktionismus.

Keine gesetzlichen Vorgaben

Es existieren keine gesetzlichen Vorgaben zum Ablauf einer internen Untersuchung. Allerdings können einzelne Maßnahmen im Rahmen einer internen Untersuchung gesetzlichen Vorgaben, insbesondere aus dem Hinweisgeberschutzgesetz und dem Datenschutzrecht unterliegen. Sofern ein Betriebsrat besteht, sind auch dessen Beteiligungsrechte zu berücksichtigen.

How to prepare best

Selbstverständlich ist es nicht möglich, jede Eventualität einer internen Untersuchung vorherzusehen und für jede Situation schon die passende Lösung in der Schublade zu haben. Dennoch können Unternehmen im Vorfeld einige grundlegende Maßnahmen ergreifen, um einen möglichst reibungslosen Ablauf einer internen Untersuchung zu gewährleisten.

Klare Zuständigkeiten

Ein absolutes Muss ist die Festlegung klarer Zuständigkeiten. Es sollte unbedingt bereits im Vorhinein geklärt werden, welche Abteilung – gegebenenfalls auch abhängig vom Untersuchungsgegenstand – die interne Untersuchung durchführen soll. Denkbar wäre z.B. die Zuständigkeit der Compliance- oder Rechtsabteilung, der Geschäftsleitung oder der Revision. Dabei versteht sich von selbst, dass es im Rahmen laufender Untersuchungen zu Fragestellungen kommen kann, bei denen die jeweilige Fachabteilung, z.B. die Steuer- oder IT-Abteilung hinzugezogen werden muss.

Bei der Zusammensetzung der „Untersuchungsgruppe“ muss aus arbeitsrechtlicher Sicht insbesondere die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB im Blick behalten werden. Denn obwohl Maßnahmen des Unternehmens zur Aufklärung des Sachverhalts den Ablauf der Kündigungserklärungsfrist hemmen können, bleibt für die Berechnung der Zwei-Wochen-Frist und damit für den fristgerechten Ausspruch einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung grundsätzlich die Kenntnis des Kündigungsberechtigten von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen maßgeblich. Liegt die Zuständigkeit für die Durchführung interner Untersuchungen (auch) bei einem Kündigungsberechtigten, ist dessen Kenntnis für den Beginn der Kündigungserklärungsfrist maßgeblich. Es kann sich daher anbieten, die Ermittlungen von Personen durchzuführen zu lassen, die nicht kündigungsberechtigt sind. Denn die Kenntnis von Personen, die selbst keine Kündigung erklären können, muss sich der Arbeitgeber nur ausnahmsweise zurechnen lassen (so LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 3. November 2021 – 10 Sa 7/21).

Fristenmanagement

Hand in Hand mit der Frage der Zuständigkeit geht die Aufstellung eines funktionierenden Fristenmanagements einher. Es ist wichtig sicherzustellen, dass alle relevanten Fristen wie beispielsweise die Kündigungserklärungsfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB oder die Stellungnahmefrist des Betriebsrats nach § 102 BetrVG sowie die einwöchige Frist zur Anhörung eines Arbeitnehmers im Rahmen einer möglichen Verdachtskündigung einkalkuliert werden. Ebenso müssen behördliche Äußerungsfristen bzw. Meldefristen, beispielsweise nach Art. 33 DSGVO, notiert, überwacht und eingehalten werden.

Prüfung bestehender Beteiligungsrechte des Betriebsrats

Wenngleich eine interne Untersuchung an sich keine Beteiligungsrechte des Betriebsrats auslöst, können einzelne Ermittlungsmaßnahmen durchaus eine Beteiligung des Betriebsrats erforderlich machen. Häufig werden Spind- und/oder Taschenkontrollen vorgesehen, das Büro oder der Schreibtisch durchsucht, Mitarbeiter befragt, PC-Daten ausgewertet, E-Mails und Geschäftsunterlagen durchgesehen oder Testeinkäufe durchgeführt. In all diesen Fällen können Beteiligungsrechte des Betriebsrats (BAG, Urteil v. 13. Dezember 2007 – 2 AZR 537/06) bestehen, die es im Einzelfall zu beachten gilt. 

Nicht selten ähneln sich Ermittlungsmaßnahmen. Denkbar ist es daher, für bestimmte (in aller Regel) wiederkehrende Ermittlungsmaßnahmen mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung abzuschließen, die z.B. Verfahrensregelungen wie die Hinzuziehung von Zeugen oder die Abfassung eines schriftlichen Protokolls für die konkrete Ermittlungsmaßnahme vorsieht. Da im Rahmen von internen Untersuchungen durchaus Eile geboten sein kann, können die Betriebsparteien in einer Betriebsvereinbarungen auch festlegen, dass dem Arbeitgeber in Not- und Eilfällen bestimmte Handlungsspielräume zugestanden werden, um einseitig und ohne Genehmigung des Betriebsrates tätig zu werden (BAG, Beschluss v. 23. März 2021 – 1 ABR 31/19).

Erstellung von Mustern

Schließlich kann es sich anbieten, für bestimmte Situationen Muster zu erstellen und vorzuhalten. Hier ist z.B. an die Einladung zu einem Personalgespräch oder zur Anhörung eines Arbeitnehmers zur Vorbereitung einer Verdachtskündigung zu denken. Auch ein Grundmuster für eine Anhörung des Betriebsrats vor Ausspruch einer Kündigung nach § 102 BetrVG kann bereits im Vorfeld entworfen werden. Der Sachverhalt und die Ermittlungsergebnisse sind dann nach Abschluss der Ermittlungen zwar noch zu ergänzen. Ein solches Muster kann aber helfen, im Ernstfall und unter Zeitdruck Flüchtigkeitsfehler insbesondere mit Blick auf die zwingend im Anhörungsschreiben zu machenden Angaben zu vermeiden. 

Schließlich können Muster zur Dokumentation der Ermittlungsergebnisse, z.B. Protokoll einer Mitarbeiterbefragung oder einer Taschenkontrolle vorbereitet werden. Eine solche Dokumentation ist für das Unternehmen von enormer Bedeutung, vor allem, wenn die interne Untersuchung zum Ausspruch einer Kündigung führt. Denn in diesem Fall trifft den Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen des Kündigungsgrundes.

Vorbereitung ist die halbe Miete

Interne Untersuchungen sind nicht selten zeitaufwändig und können im Einzelfall durchaus komplex sein. Wichtig ist es, nicht in einen unkoordinierten Aktionismus zu verfallen. Es sollten daher bereits im Vorfeld strukturierte Prozesse aufgesetzt und Vorbereitungen getroffen werden. So können gerade bei Zeitdruck oder emotional aufgeladenen Situationen Fehler vermieden werden. Außerdem bleibt bei einer guten Vorbereitung ausreichend Zeit und Ressourcen mit Unvorhergesehenem umzugehen. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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BMAS-Empfehlungen für hybride Bildschirmarbeit – eine Einordnung

Di, 23.07.2024 - 06:55
Ausgangslage: Politikwerkstatt „Mobile Arbeit“ zu Herausforderungen und Möglichkeiten hybrider Arbeit

Wer den neuen Anforderungen von Beschäftigten an einen „modernen“ Arbeitsplatz als Arbeitgeber gerecht werden will, darf die Herausforderungen auf der Ebene des Arbeitsschutzes nicht unterschätzen. Aber auch die Beschäftigten sind gefordert, denn hybride Arbeit verlangt ein vergleichsweise hohes Maß an Disziplin, Selbstorganisation und Mitwirkung. Klare Strukturen und transparente Regelungen sind daher unerlässlich. Vor diesem Hintergrund und dem im Koalitionsvertrag formulierten Auftrag, „zur gesunden Gestaltung des Homeoffice im Dialog mit allen Beteiligten sachgerechte und flexible Lösungen zu erarbeiten“, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) von September 2022 bis Oktober 2023 den Austausch in der Politikwerkstatt „Mobile Arbeit“ geführt. Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen, insbesondere aus Wirtschaft und Wissenschaft, diskutierten hierbei über Ansätze, um die hybride mobile Arbeit hinsichtlich ihrer Herausforderungen und Möglichkeiten differenzierter einzuordnen.

Es lohnt sich daher, einen Blick darauf zu werfen, welche konkreten Maßnahmen und Schritte das BMAS für besonders wichtig hält und inwiefern diese Empfehlungen die vielfältigen Erscheinungsformen hybrider Bildschirmarbeit ausreichend berücksichtigen.

Besonderheiten hinsichtlich des Arbeitsschutzes bei mobiler Arbeit

Dabei stellen sich bei der Einführung mobiler Arbeitsformen ganz unterschiedliche Fragen zum Thema Arbeitsschutz. Anders als für den Bereich der Telearbeit, für die der Gesetzgeber über die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) die Anforderung des Arbeitsschutzes näher konkretisiert hat, fehlt im Bereich der mobilen Arbeit bislang ein vergleichbar ausdifferenziertes Regelungswerk. Dies führt aber nicht dazu, dass im Bereich der mobilen Arbeit eine Auseinandersetzung mit dem Arbeitsschutz obsolet ist. Denn auch wenn mobile Arbeit ihrem Wesen nach außerhalb der Arbeitsstätte stattfindet, folgt bereits aus § 618 BGB und den Vorschriften in §§ 3 ff. ArbSchG, dass es sich hierbei nicht etwa um einen regelungsfreien Raum handelt. Vielmehr gilt der gesetzliche Arbeitsschutz weiterhin und ist somit auch zwingend von dem Arbeitgeber zu berücksichtigen. Insofern besteht auch bei mobiler Arbeit die arbeitgeberseitige Pflicht, erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen und die mobile Beschäftigungsform so auszugestalten, dass physische und psychische Gesundheitsgefährdungen im Einklang mit § 4 ArbSchG so gut es geht vermieden werden. Hier muss der Arbeitgeber auch im Bereich mobile Arbeit präventiv tätig werden.

Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, dass der für eine Tätigkeit in der Betriebsstätte einschlägige Arbeitsschutz ohne weiteres auf die mobile Arbeit zu übertragen ist. Die zahlreichen Besonderheiten, die eine ortswechselnde Arbeitsweise mit sich bringt und die die „Natur der Dienstleistung“ bzw. die „Art der Tätigkeit“ modifizieren und somit zu unterschiedlichen Grundvoraussetzungen führen, müssen bei der Ausgestaltung des Arbeitsschutzes berücksichtigt werden, als dass diese. Ein starres Festhalten an der bisherigen, auf eine stationäre Tätigkeit bezogenen betrieblichen Praxis verbietet sich angesichts der Ortsunabhängigkeit.

Dies bedeutet, dass die typischen Instrumente des Arbeitsschutzes, wie beispielsweise die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung sowie die Ergreifung angemessener Schutzmaßnahmen (§ 5 Abs. 1 ArbSchG), aber auch die ausreichende Unterweisung der Beschäftigten (§ 12 Abs. 1 ArbSchG), auch für den mobilen Bereich relevant, allerdings unter Berücksichtigung der sich hier in tatsächlicher Hinsicht ergebenden Besonderheiten und Grenzen anzuwenden sind.

Erkenntnisse der Politikwerkstatt: „modifizierte″ Gefährdungsbeurteilung auch für hybride Arbeitsmodelle?

Die Diskussion in der Politikwerkstatt „Mobile Arbeit“ war vor allem von der Idee geprägt, eine Balance zwischen angemessenen arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen im mobilen Bereich und einer möglichst unkomplizierten Ausgestaltung hybrider Arbeitsmodelle zu finden. Mobile Arbeit soll auf der einen Seite sicher und frei von vermeidbaren Gesundheitsgefährdungen umgesetzt werden, auf der anderen Seite aber auch flexibel und individuell ausgestaltbar sein. Nur wenn dies gewährleistet ist, ist mobile Arbeit eine attraktive Beschäftigungsform mit Zukunft. Auch, aber nicht nur vor dem Hintergrund der arbeitsschutzrechtlichen Perspektive hat das BMAS auf Grundlage der Erkenntnisse der Politikwerkstatt „Empfehlungen für eine gute hybride Bildschirmarbeit“ erlassen.

Über die konkrete Frage des Arbeitsschutzes hinaus, kommt das BMAS zu dem Ergebnis, dass ein gemeinsames Verständnis und Klarheit über die Reichweite mobiler Arbeit hilfreich seien. Das gilt nicht nur mit Blick auf die zu treffenden Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch hinsichtlich der Einordnung, welche Tätigkeiten mobil tatsächlich sinnvoll ausgeübt werden können. Darüber hinaus ist nach den Empfehlungen des BMAS Handlungssicherheit für den Aspekt des zeitlichen Anteils der hybriden Bildschirmarbeit im Verhältnis zum Arbeiten im Betrieb erstrebenswert sowie hinsichtlich der Frage, wer welche Kosten in welchem Umfang trägt.

Mit Blick auf den Themenbereich des Arbeitsschutzes folgert das BMAS, dass eine Gefährdungsbeurteilung auch für hybride Arbeitsmodelle die Grundlage für „sichere, gesunde, motivierende und produktive Arbeitsbedingungen“ darstellt. Konsequent ist hierbei zunächst die Feststellung, dass die Beschäftigten mitwirken und den Arbeitgeber beispielsweise durch das Ausfüllen von Checklisten in die Lage versetzen müssen, die Arbeitsbedingungen im „Mobile Office“ einzuschätzen und zu bewerten und ausgehend hiervon erforderliche Schutzmaßnahmen abzuleiten. Darüber hinaus sind die Beschäftigten in geeigneter Weise über ihre Mitwirkungspflichten bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu unterrichten, nicht zuletzt, um sie zu einem eigenverantwortlichen und sich selbst schützenden Umgang mit den Belastungen in einer mobilen Arbeitswelt zu befähigen. Zuletzt bedarf es der regelmäßigen Überprüfung und – bei Bedarf – auch der kontinuierlichen Anpassung von Arbeitsschutzmaßnahmen durch den Arbeitgeber, um effektiven Arbeitsschutz auch auf Ebene der hybriden mobilen Arbeit zu gewährleisten.

Auswirkungen auf und Relevanz für die mobile Arbeitswelt

Die Erkenntnisse der Politikwerkstatt sowie die hierauf basierenden Empfehlungen des BMAS tragen dazu bei, das in gesetzlicher Hinsicht nur im Ansatz reglementierte Feld des Arbeitsschutzes bei der mobilen Arbeit zu konkretisieren und Arbeitgebern sinnvolle sowie praxisorientierte Tipps an die Hand zu geben. Die Ergebnisse der Initiative bestätigen: Betriebliche oder tarifliche Regelungen zur Ausgestaltung mobiler Arbeit können Handlungssicherheit für die Beteiligten schaffen, indem geordnete Grundstrukturen zur Verfügung gestellt werden. Das Bedürfnis nach einem ausdifferenzierten Regelungssystem wächst dabei mit dem Stellenwert und der Relevanz, die dem Modell der hybriden Arbeit im Unternehmen zukommt. Hier sind die Ergebnisse richtig und stehen im Einklang mit den oben beschriebenen und unabhängig hiervon geltenden gesetzlichen Arbeitsschutzanforderungen.

Im Bereich der „echten“ mobilen Arbeit hat die Initiative dagegen versäumt, für mehr Klarheit zu sorgen. Da sich die Arbeit der Politikwerkstatt und die hieran anknüpfenden Empfehlungen des BMAS (ganz bewusst nur) auf die ortsfeste Bildschirmarbeit beschränken, lassen sich hieraus nur begrenzt Schlüsse für das Feld der Arbeit ohne festen Bildschirm ziehen. Dabei wurde diese Beschränkung bereits im Kreis der Expertinnen und Experten nicht nur lebhaft diskutiert, sondern vor allem auch von Arbeitgebern erheblich kritisiert. Die Empfehlungen des BMAS zielen vor allem auf die ortsfeste Arbeit „in den eigenen vier Wänden“ sowie eigens für die mobile Arbeit vorgesehene Co-Working-Spaces ab. Bildschirmarbeit im Zug, im Café oder auch in einem Ferienhaus im Ausland wurde dabei schon bei der Begriffsbestimmung explizit ausgeklammert. Hier stellen sich zwar aus arbeitsschutzrechtlicher Perspektive grundsätzlich ähnliche Fragestellungen mit vergleichbaren Ableitungen. Zu beachten sind jedoch die nahezu endlosen Möglichkeiten von Arbeitsplätzen ohne festen Bildschirm, die besondere praktische Probleme aufwerfen können und einer Klärung bedürfen. Bis dahin sind Arbeitgeber gut beraten, den Arbeitsschutz pragmatisch auszugestalten.

Fazit: weitreichendere Handlungsempfehlungen des BMAS wären wünschenswert

Die Empfehlungen des BMAS zur Umsetzung des Arbeitsschutzes bei hybrider mobiler Arbeit sind richtig und wichtig. Sie liefern (erste) notwendige Klarstellungen zu den verschiedenen Einwirkungs- bzw. Mitwirkungsbereichen. Wünschenswert wäre allerdings gewesen, den Begriff der mobilen Arbeit weiter zu fassen, um dem Bedürfnis nach Handlungssicherheit in der betrieblichen Praxis auch bei „echter“ mobiler Arbeit und damit noch besser gerecht werden zu können.

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Umsatzsteuerliche Besonderheiten im Insolvenzverfahren

Mo, 22.07.2024 - 20:08

Im Insolvenz(-antrags)verfahren stellt die Behandlung von Umsatzsteuerforderungen einen wesentlich Aspekt dar. Die Umsatzsteuer ist nicht allein deshalb zu beachten, weil die monatlichen Abgabenpflichten und -fristen im eröffneten, aber auch im vorläufigen, Insolvenzverfahren einzuhalten sind, sondern es gibt auch unzählige Entscheidungen der Finanzgerichte, welche Auswirkungen auf einzelne Maßnahmen des (vorläufigen) Insolvenzverwalters (oder – in der Eigenverwaltung – des Sachwalters) haben. Aus den vielen Sachverhalten, die für die umsatzsteuerliche Beurteilung in der Insolvenz relevant sind, wie z.B. Insolvenzanfechtung, insolvenzrechtliche Aufrechnungsvorschriften, Abschlagszahlungen auf Insolvenzforderungen, Verwertung von Sicherheiten sollen an dieser Stelle lediglich die Korrekturen und Rückkorrekturen nach §17 UStG sowie die Verwertung von Sicherheiten im eröffneten Verfahren beleuchtet werden.

Die Korrekturen und Rückkorrekturen nach § 17 UStG

Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Unternehmers geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Unternehmensvermögen auf den Insolvenzverwalter über.

Die erste Berichtigung

Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens werden sämtliche Entgeltforderungen und Entgeltverbindlichkeiten des Unternehmers im Sinne des § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG als uneinbringlich behandelt. Dies führt dazu, dass bei Unternehmern, die der Soll-Besteuerung unterliegen, sämtliche Entgeltverbindlichkeiten und -forderungen auf null zu berichtigen sind. Der BFH begründet dies mit dem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter gem. § 80 Abs. 1 InsO: Aus der Sicht des Insolvenzschuldners werden die Entgeltforderungen uneinbringlich, weil die Vereinnahmung fortan Sache des Insolvenzverwalters ist. Wesentliche weitere Frage ist die der Einordnung nach Masseverbindlichkeit oder Insolvenzforderung. Eine aus der Berichtigung einer Entgeltverbindlichkeit resultierende Umsatzsteuerschuld ist grundsätzlich eine Insolvenzverbindlichkeit bzw. eine Umsatzsteuer-Forderung eine Insolvenzforderung. Für die Eigenverwaltung gelten dieselben Grundsätze wie für das Regelinsolvenzverfahren. Eine wichtige Ausnahme von diesem Grundsatz stellen im vorläufigen Insolvenzverfahren nach Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters/Sachwalters begründet worden sind. Diese gelten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten, § 55 Abs. 4 InsO).

Die zweite Berichtigung

Sodann folgt die zweite Berichtigung, die abhängig ist von der Vertragsposition und Leistungsart.

Fällt ein zur Sachleistung verpflichteter Unternehmer vor Vertragserfüllung in Insolvenz, hat das Erfüllungswahlrecht des Insolvenzverwalters folgende Konsequenzen:

  • Wählt er die Vertragserfüllung, gilt: Der Umsatz ist nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausgeführt. Die Umsatzsteuer ist Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO.
  • Wählt er keine Vertragserfüllung, gilt: Die Umsatzsteuer auf diese vorinsolvenzrechtlich erbrachten Leistungen ist Insolvenzverbindlichkeit nach § 38 InsO.

Fällt ein zur Geldleistung verpflichteter Unternehmer vor Vertragserfüllung – Zahlung – in Insolvenz, kann der Insolvenzverwalter im Rahmen der Erfüllungswahl die Begleichung der Forderung gegen den Insolvenzschuldner wählen. Die spätere Erfüllung (Zahlung) durch den Insolvenzverwalter löst eine erneute Berichtigung gem. § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG aus.

Die Verwertung von beweglichen Sachen bei Nichtausübung des Verwertungsrechts: Zweifachumsatz

Macht der Insolvenzverwalter ausnahmsweise nicht von seinem Verwertungsrecht nach § 166 Abs. 1 InsO Gebrauch, sondern veräußert er stattdessen das Sicherungsgut im Namen des Sicherungsnehmers und Gläubigers, liegt ein Doppelumsatz vor. Der Insolvenzverwalter liefert das Sicherungsgut im Zeitpunkt der Verwertung an den Sicherungsnehmer und Gläubiger. Der Sicherungsnehmer/Gläubiger liefert das Sicherungsgut an den Erwerber.

Die Verwertung von beweglichen Sachen bei Ausübung des Verwertungsrechts: Vom Zweifach zum Dreifachumsatz

Verwertet hingegen der Insolvenzverwalter die einem Absonderungsrecht unterliegende bewegliche Sache selbst, so findet ein Dreifachumsatz statt.

Es gilt:

1. Umsatz: Da der Insolvenzverwalter bei der eigentlichen Lieferung des Sicherungsgutes an den Erwerber aufgrund seiner Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 InsO für die Insolvenzmasse handelt, ist diese Lieferung der Insolvenzmasse zuzurechnen. Der Insolvenzverwalter erbringt den Umsatz wie ein Kommissionär für Rechnung des Sicherungsnehmers/Gläubigers, weil durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens Verwertungsreife und die Befugnis des Insolvenzverwalters nach § 166 InsO zur Verwertung von Absonderungsgut eingetreten ist.

2. Umsatz: Der Lieferung an den Erwerber ist über § 3 Abs. 3 UStG eine fiktive Lieferung des Sicherungsnehmers/Gläubigers als Kommittent an die Insolvenzmasse vorgeschaltet. Der Sicherungsnehmer bzw. Gläubiger kann das Sicherungsgut jedoch nur dann an die Insolvenzmasse liefern, wenn er selbst hieran Verfügungsmacht erhalten hat.

3. Umsatz: Dies bedingt, dass die Sicherungsübereignung im Zeitpunkt der Verwertung zu einer Lieferung der Insolvenzmasse an den Sicherungsnehmer/Gläubiger geführt hat.

Andere Regelungen gelten für die Verwertung von unbeweglichen Gegenständen wie Grundstücken und grundstücksgleichen Rechten. Bei einer freihändigen Veräußerung einer grundpfandrechtsbelasteten Immobilie durch den Insolvenzverwalter aufgrund einer mit dem Grundpfandgläubiger getroffenen Vereinbarung liegt – neben der Lieferung der Immobilie durch die Masse an den Erwerber – eine steuerpflichtige entgeltliche Geschäftsbesorgungsleistung der Masse an den Grundpfandgläubiger vor, wenn der Insolvenzverwalter vom Verwertungserlös einen bestimmten Betrag für die Masse einbehalten darf. Die Illustration der Komplexität im Umsatzsteuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren ließe sich beliebig mit weiteren Beispielen fortsetzen. Es ist daher ratsam, auch vor den Hintergrund von Haftungsrisiken, die Maßnahmen und Handlungen im Insolvenzverfahren vor Ausführung der Maßnahmen umsatzsteuerlich zu bewerten und wenn erforderlich in den Voranmeldungen oder Erklärungen ausreichend zu beschreiben und deren steuerliche Wertung offenzulegen.

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Russland-Sanktionen: Compliance-Pflichten für Nicht-EU-Tochtergesellschaften

Mo, 22.07.2024 - 07:07

Am 24. Juni 2024 verabschiedete die EU das 14. Sanktionspaket gegen Russland, das neue Beschränkungen für Waren und Dienstleistungen und Listungen weiterer natürlicher und juristischer Personen vorsieht. In der Praxis noch relevanter sind vor allem die neuen Bestimmungen, die „Umgehungen“ vermeiden sollen und Compliance-Pflichten für EU-Akteure einführen, insbesondere in Bezug auf das Verhalten ihrer Nicht-EU-Tochtergesellschaften.

Neben diesen neuen Compliance-Pflichten, auf die wir uns in diesem Artikel konzentrieren, bringt das 14. Sanktionspaket insbesondere die folgenden wesentlichen Änderungen mit sich:

  • Sektorale Sanktionen gegen den russischen LNG-Sektor, einschließlich Beschränkungen in Bezug auf Infrastruktur, Investitionen und Transport, jedoch ohne Verbot von Einfuhren in die EU.
  • Zusätzliche sektorale Beschränkungen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, einschließlich Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen insbesondere betreffend weitere Advanced Technology-Güter sowie eine Ausweitung der Sanktionen gegen den Transport- und Verkehrssektor (d.h. Schifffahrt-, Luft- und Straßenverkehr).
  • Zusätzliche Listungen von 116 natürlichen und juristischen Personen, deren Vermögenswerte nun eingefroren werden und gegenüber denen es verboten ist, Gelder und wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
  • Ein Verbot für EU-Banken, das System zur Übermittlung von Finanzmitteilungen (das russische Äquivalent zu SWIFT) zu nutzen, sowie ein Transaktionsverbot gegenüber Drittlands-Organisationen, die dieses System nutzen.
  • Möglichkeit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen aufgrund einer Entscheidung nach russischem Recht, Vermögenswerte von Investoren, die mit „unfreundlichen“ Staaten in Verbindung stehen, unter vorläufige Verwaltung zu stellen, sowie von Personen oder Einrichtungen, die von einer solchen Entscheidung profitieren.

Für die meisten der neuen Beschränkungen sind zeitliche Übergangsregelungen sowie Ausnahme- und Genehmigungstatbestände vorgesehen.

Wichtige bestehende Ausnahmeregelungen wurden verlängert, unter anderem:

  • Die Ausnahmeregelung für die Erbringung bestimmter Dienstleistungen, die ansonsten gemäß Art. 5n für russische Tochtergesellschaften, die im Eigentum oder unter der Kontrolle von EU-Unternehmen stehen, verboten wären, wurde bis zum 30. September 2024 verlängert.
  • Die Genehmigungsmöglichkeiten für den Abzug von EU-Unternehmen aus Russland in Art. 12b sind erneut bis zum 31. Dezember 2024 verlängert worden.
Neue Verpflichtung zur Vermeidung von Sanktionsuntergrabung durch Tochtergesellschaften

Während bisher EU-Sanktionen nur für juristische Personen galten, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründet oder eingetragen wurden, führt das 14. Sanktionspaket eine neue Verpflichtung in Artikel 8a ein, wonach EU-Personen sich

„nach besten Kräften [bemühen], sicherzustellen, dass sich außerhalb der Union niedergelassene juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die sich in ihrem Eigentum oder unter ihrer Kontrolle befinden, nicht an Handlungen beteiligen, die die restriktiven Maßnahmen gemäß [der Russland Sanktionsverordnung] untergraben.“

Auch wenn der genaue Begriff der „besten Kräfte“ noch entwickelt werden muss, kann die Regelung im Wesentlichen in der Weise verstanden werden, dass EU-Unternehmen ihre Nicht-EU-Tochtergesellschaften anweisen müssen, die EU-Sanktionen einzuhalten, als wären sie EU-Unternehmen. Auch wenn es einige Rechtfertigungsgründe für die Nichteinhaltung der EU-Sanktionen durch Nicht-EU-Tochtergesellschaften geben mag, stellt die Einführung der neuen Regelung eine gravierende Abkehr von dem (früheren) Grundsatz dar, dass EU-Vorschriften keine extraterritorialen Wirkungen haben sollten.

Das Konzept von „Eigentum oder Kontrolle“ setzt weiterhin voraus, dass EU-Unternehmen einen „maßgeblichen Einfluss“ auf ihre Nicht-EU-Tochtergesellschaften haben. Neu ist jedoch, dass „Eigentum“ in den Erwägungsgründen nun als Halten von 50 % oder mehr der Anteile definiert wird. Im Einklang mit dem von den USA verfolgten Ansatz ist somit eine Mehrheitsbeteiligung nicht mehr erforderlich. Es bleibt abzuwarten, ob dieser scheinbar neue Begriff des Eigentums in allen EU-Sanktionsregimen Anwendung finden wird. Die Frage könnte besonders relevant werden bei der Beurteilung, ob Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen einem nicht-gelisteten Unternehmen, das „im Eigentum“ einer gelisteten Person steht, zur Verfügung gestellt werden können.

Neue Compliance-Standards und Mindestsorgfaltspflichten?

Es ist seit langem ein etablierter Grundsatz, dass EU-Personen nicht haftbar gemacht werden sollten, auch nicht strafrechtlich, wenn sie nicht wussten und keinen vernünftigen Grund zu der Annahme hatten, dass sie mit ihrem Handeln gegen EU-Sanktionen verstoßen (Artikel 10).

In vielen Mitgliedstaaten wurde Art. 10 so verstanden, dass die Wirtschaftsteilnehmer nicht verpflichtet sind, aktiv nachzuforschen, aber die Augen vor dem Offensichtlichen nicht verschließen dürfen. Das Vorhandensein von „Red Flags“ löste dabei zusätzliche Sorgfaltsmaßnahmen und -anforderungen aus.

Etwas versteckt in Erwägungsgrund 36 scheint die Verordnung (EU) 2024/1745 nun einen neuen Mindeststandard einzuführen, der es den Betreibern verwehrt, sich auf die Haftungsausschlussklausel zu berufen, wenn sie keine „einfachen Kontrollen oder Überprüfungen“ durchgeführt haben. Es bleibt abzuwarten, wie die nationalen Behörden und Gerichte diese potenziell weitreichende Einführung eines Mindestmaßes an die Sorgfaltspflicht auslegen werden.

Neue „No Russia“-Klauseln

Zusätzlich zu der bekannten Verpflichtung, bei der Ausfuhr bestimmter Produkte in nicht-privilegierte Länder vertraglich „no Russia“-Klauseln vorzusehen, hat Brüssel nun in Art. 12ga eine vergleichbare Klausel für vorrangige Güter (sog. common high priority items), die für die Kriegsführung Russlands kritisch sind, eingeführt. Die Klausel betrifft insofern die Lizenzierungen und andere Vereinbarungen im Zusammenhang mit geistigem Eigentum und verbietet deren Nutzung in Bezug auf vorrangige Güter, die zur Lieferung nach oder Verwendung in Russland bestimmt sind.

Darüber hinaus verpflichtet Art. 12gb EU-Ausführern von für Russlands Kriegsführung wichtigen vorrangigen Gütern ausdrücklich zur Umsetzung bestimmter Mindestsorgfaltsvorkehrungen, insbesondere Risikobewertungen, Dokumentationen, Strategien, Kontrollen und Verfahren sowie Managementmaßnahmen, um die Ausfuhr oder Wiederausfuhr dieser Güter nach Russland oder zur Verwendung in Russland zu verhindern. Diese Maßnahmen müssen ab dem 26. Dezember 2024 auch von Nicht-EU-Tochtergesellschaften umgesetzt werden.

Aktualisierung des Umgehungsverbots

Das bekannte Umgehungsverbot in Artikel. 12, der die „wissentliche und vorsätzliche“ Teilnahme an Umgehungsaktivitäten verbietet, wurde geändert, um auch solche Fälle zu erfassen, „wenn mit der Beteiligung an solchen Tätigkeiten dieser Zweck oder diese Wirkung nicht absichtlich angestrebt wird, es aber für möglich gehalten wird, dass sie diesen Zweck oder diese Wirkung hat und diese Möglichkeit billigend in Kauf genommen wird.“ Diese Änderung spiegelt lediglich die Auslegung dieses Verbots durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wider.

Auswirkungen auf alle Wirtschaftsbeteiligten

Mit dem 14. Sanktionspaket wurden neue Vorschriften für bestimmte Wirtschaftssektoren eingeführt, und obwohl diese Vorschriften vor allem Akteure in diesen Sektoren betreffen werden, müssen alle Wirtschaftsbeteiligten prüfen, inwieweit sich diese Vorschriften auf ihre Unternehmen auswirken werden. Noch wichtiger ist, dass jeder Wirtschaftsbeteiligte in der EU, der entscheidenden Einfluss auf Nicht-EU-Unternehmen hat, nun überdenken muss, wie er diese Unternehmen zur Einhaltung der EU-Sanktionen anweist und kontrolliert. Gut möglich ist, dass EU-Unternehmen ihre allgemeinen Compliance-Strukturen neu ausrichten müssen, um den Sorgfaltsanforderungen gerecht zu werden, die das 14. Sanktionspaket eingeführt hat.

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KI und Jobtransformation: Rechtliche Fragen bei Änderung des Tätigkeitsprofils

Fr, 19.07.2024 - 06:17

Die rasante Entwicklung von KI revolutioniert zahlreiche Tätigkeiten in der Arbeitswelt. Bereits heute automatisieren KI-Systeme repetitive Aufgaben, verbessern Entscheidungsprozesse und optimieren Betriebsabläufe in Unternehmen. Es ist damit zu rechnen, dass die fortschreitende Integration von KI in verschiedene Branchen sowie den einzelnen Betriebsabläufen zukünftig noch tiefgreifendere Auswirkungen auf die Tätigkeit von Arbeitnehmern haben wird.

Diese Entwicklungen haben zur Folge, dass traditionelle Rollen neu definiert und zusätzliche Qualifikationen erforderlich werden. Während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses kann der Einsatz von KI insoweit auch zu wesentlichen Veränderungen der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit des Arbeitnehmers führen, so dass Arbeitgeber prüfen müssen, ob eine Tätigkeitsänderung von ihrem Weisungsrecht überhaupt gedeckt ist.

Inwieweit der Einfluss von KI-Systemen den Arbeitgeber zum Ergreifen von individualvertraglichen als auch kollektivrechtlichen Maßnahmen in Bezug auf die Änderung der geschuldeten Tätigkeit verpflichtet, um die Tätigkeitsveränderung rechtswirksam zu gestalten, beleuchtet dieser Blogbeitrag.

Konkretisierung der geschuldeten Arbeitsleistung 

Der Arbeitgeber bestimmt durch sein Direktionsrecht die Einzelheiten der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers, einschließlich Ort, Zeit und Inhalt (§ 106 Abs. 1 S. 1 GewO). Dieses Recht kann durch Arbeitsvertrag, Gesetz, Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen eingeschränkt werden. Der Arbeitsvertrag beschränkt in der Regel das Direktionsrecht hinsichtlich des Inhalts der Arbeitsleistung. Eine einseitige Zuweisung einer anderen Tätigkeit muss daher den rechtlichen Schranken entsprechen. Eine wirksame Versetzungsklausel erlaubt dem Arbeitgeber, dem Arbeitnehmer eine gleichwertige andere Tätigkeit zuzuweisen. Die Gleichwertigkeit richtet sich nach der betrieblichen Verkehrsauffassung und dem sozialen Bild (BAG, Urteil v. 30. August 1995 – 1 AZR 47/95). Kriterien dafür sind unter anderem die Anzahl der unterstellten Mitarbeiter und Entscheidungsbefugnisse. Entscheidend ist eine Gesamtabwägung der Umstände im Einzelfall (LAG Köln, Urteil v. 11. Dezember 2009 – 10 Sa 328/09).

Fehlende Gleichwertigkeit durch den Einsatz von KI

Führt der KI-Einsatz dazu, dass sich ein traditionelles Stellenprofil während eines laufenden Arbeitsverhältnisses neu definiert, kann es an der Gleichwertigkeit der neuen Tätigkeit fehlen, so dass diese Veränderung nicht mehr vom Direktions- und Weisungsrecht des Arbeitgebers gedeckt ist. In diesem Fall kann eine Änderung der Arbeitsleistung durch eine einvernehmliche Änderungsvereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer herbeigeführt werden. Scheitert die Tätigkeitsänderung mit Hilfe des Direktions- und Weisungsrechts des Arbeitgebers an der Gleichwertigkeit, und ist auch eine einvernehmliche Lösung nicht erzielbar, kommt als Ultima Ratio eine Änderungskündigung in Betracht. Auch für die Wirksamkeit einer solchen Änderungskündigung ist es jedoch erforderlich, dass diese sozial gerechtfertigt ist (vgl. § 1 KSchG).

Die folgenden Beispiele verdeutlichen, wie KI in diesem Sinne die Arbeitsplätze der Zukunft transformieren kann:

  • Automatisierung repetitiver Aufgaben: 
    Die Hauptaufgabe eines Sachbearbeiters in der Buchhaltung ist die manuelle Eingabe und Überprüfung von Daten ist. Diese Aufgaben kann eine KI automatisch und fehlerfrei erledigen. Dadurch würde die Rolle des Sachbearbeiters erheblich abgewertet, da die Kernkompetenzen und Verantwortlichkeiten entfallen.
  • Veränderung der Entscheidungsprozesse:
    In einem Produktionsbetrieb könnte eine KI-basierte Software die Planung und Steuerung der Produktionsprozesse übernehmen, wodurch die Entscheidungsbefugnisse des Produktionsleiters erheblich eingeschränkt werden. Dies würde zu einer Veränderung des Sozialbildes im Betrieb und der wahrgenommenen Wertigkeit der Tätigkeit führen.
  • Veränderung der kreativen Prozesse:
    In der Werbe- oder Marketingbranche könnte eine KI zur Erstellung von Werbetexten und Grafiken eingesetzt werden. Die Rolle eines Kreativdirektors oder Designers würde sich dadurch von der aktiven Gestaltung hin zur Überwachung und Feinabstimmung der von der KI erstellten Inhalte verschieben. Dies könnte als Abwertung der ursprünglichen kreativen Tätigkeiten durch die Verkehrsanschauung wahrgenommen werden.

Die Auswirkungen des Einsatzes von KI auf traditionelle Rollenbilder sind vielseitig. So kann eine Veränderung der Arbeitsaufgabe qualitativ sein, indem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer durch den Einsatz von KI eine andere Art von Arbeit überträgt, die entweder anspruchsvoller oder weniger anspruchsvoll ist. Sie kann aber auch quantitativ erfolgen, indem sie durch den KI-Einsatz das Arbeitsvolumen deutlich erweitert.

Arbeitgeber sollten sich daher hinreichend bewusst machen, dass ein Arbeitnehmer auch von seinem Arbeitgeber verlangen kann, entsprechend der arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit beschäftigt zu werden. Denn der Arbeitnehmer kann seinen konkreten Beschäftigungsanspruch aus dem Arbeitsvertrag auch gerichtlich durchsetzen. Insoweit genießt das Arbeitsverhältnis Bestandsschutz. Dies führt dazu, dass der Einsatz von KI auch unmittelbar verhindert werden könnte, wenn eine Gesamtabwägung gegen die Gleichwertigkeit einer Tätigkeit unter Einsatz von KI spricht.

Zustimmungserfordernis bei Versetzungen

Unabhängig davon, ob die Änderung durch das Direktionsrecht des Arbeitgebers zulässig ist, muss der Arbeitgeber den Betriebsrat bei personellen Maßnahmen, einschließlich Versetzungen, informieren und dessen Zustimmung einholen (§ 99 BetrVG).

Eine Versetzung liegt vor, wenn ein anderer Arbeitsbereich zugewiesen wird, der über einen Monat dauert oder erhebliche Änderungen der Arbeitsumstände mit sich bringt (§ 95 Abs. 3 BetrVG).

Wenn der Einsatz von KI einen neuen Tätigkeitsbereich schafft oder die Aufgaben erheblich verändert, kann dies eine Versetzung in diesem Sinne darstellen. Ein anderer Arbeitsbereich liegt nur vor, wenn die Änderungen durch KI wesentlich sind, z.B. durch die Erweiterung oder den Entzug von etwa 20 % der ursprünglichen Arbeitsleistung oder den Wegfall und die Übertragung von Aufgaben durch KI-Software. Indikatoren für wesentliche Änderungen sind verlängerte Einarbeitungszeiten oder erhebliche Abweichungen von der ursprünglichen Stellenausschreibung.

Frühzeitige Bewertung der Auswirkungen des KI-Einsatzes auf Tätigkeitsprofile

Der zunehmende Einsatz von KI macht eine kontinuierliche Überprüfung und Anpassung der Stellenprofile erforderlich, um den neuen Anforderungen durch den Einsatz von KI gerecht zu werden. Dies bedeutet, dass Arbeitgeber regelmäßig evaluieren sollten, wie sich ein technologischer Fortschritt auf die Aufgaben und Fähigkeiten der Arbeitnehmer auswirkt. So können Arbeitgeber flexibel und agil bleiben, um die Vorteile der KI-Technologien am Arbeitsplatz rechtlich wirksam und effizient zu nutzen.

Um eine rasche und reibungslose Implementierung von KI in die Arbeitsprozesse zu ermöglichen, können Arbeitgeber proaktiv Maßnahmen zur Konfliktlösung ergreifen, falls es an einer gleichwertigen Tätigkeit fehlt. Zudem können Arbeitgeber Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen anbieten, um die Arbeitnehmer auf neue Anforderungen vorzubereiten und ihre Bereitschaft zu einer schnellen einvernehmlichen Anpassung der Arbeitsaufgaben zu erhöhen.

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JStG II – Mitteilungspflicht für innerstaatliche Steuergestaltungen erneut ante portas?

Do, 18.07.2024 - 16:57

Während das aktuelle Jahressteuergesetz-E 2024 auf die Stellungnahme des Bundesrats nach der Sommerpause wartet, hat das Bundesministerium der Finanzen (BMF) mit Bearbeitungsstand vom 10. Juli 2024 den Referentenentwurf eines zweiten Jahressteuergesetzes 2024 (JStG II) mit kurzer Frist zur Stellungnahme an die Verbände geschickt.

Zum mittlerweile veröffentlichten Referentenentwurf des JStG II führt das BMF erklärend aus, man habe bei der Kabinettbefassung zum Entwurf des Jahressteuergesetzes 2024 am 5. Juni 2024 festgestellt, dass man sich der vielfältigen Herausforderungen bewusst sei, die mit den im Jahressteuergesetz 2024 enthaltenen Maßnahmen noch nicht bewältigt werden könnten. Dem soll das JStG II abhelfen. Mit dem weiteren JStG sollen dann u.a. auch bisher noch offene Aufträge10 aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt werden. Dazu gehören die Überführung der Steuerklassen III und V in das Faktorverfahren, Anpassungen bei den Regelungen zur Gemeinnützigkeit und – Überraschung – die Mitteilungspflicht über innerstaatliche Steuergestaltungen.

Mitteilungspflichten für innerstaatliche  Steuergestaltungen sollen im Vergleich zum letzten Entwurf weitgehend unverändert implementiert werden

Nachdem das Vorhaben, die Mitteilungspflichten für innerstaatliche Steuergestaltungen einzuführen, zuletzt im Vermittlungsausschuss zum Wachstumschancengesetz gescheitert ist, nimmt der Gesetzgeber mit dem JStG II neuen Anlauf und setzt – entgegen aller vorangegangenen Kritik – seinen „Koalitionsvertragsauftrag″ fort, dieses Bürokratie-Dickschiff doch noch zu implementieren.

Inhaltlich entsprechen die im JStG II geplanten Regelungen der §§ 138l bis 138n AO-E dabei im Wesentlichen den im Gesetzgebungsverfahren des Wachstumschancengesetz vorgesehenen, hier ausführlich dargestellten Regelungen:  DAC 6 Reloaded – Mitteilungspflichten für innerstaatliche Steuergestaltungen geplant – CMS Blog  und Wachstumschancengesetz – Mitteilungspflichten für innerstaatliche Steuergestaltungen geplant – Update #1 – CMS Blog).

BMF Schreiben soll den erstmaligen Anwendungszeitpunkt der Mitteilungspflichten bestimmen

Das JStG II sieht eine Ermächtigung des BMF vor, den erstmaligen Anwendungszeitpunkt (Stichtag) der neuen Mitteilungspflichten durch ein im Bundesgesetzblatt Teil I bekanntzumachendes Schreiben zu bestimmen. Durch eine Zeitspanne von mindestens einem Jahr zwischen dem Tag der Bekanntmachung der Anwendungsbestimmung im Bundesgesetzblatt Teil I und dem erstmaligen Anwendungszeitpunkt soll allen Beteiligten dabei hinreichend Zeit gegeben werden, die zur Anwendung der Regelungen der §§ 138l bis 138n AO erforderliche IT-Infrastruktur einzurichten. Sofern das Bundesministerium der Finanzen von seiner Ermächtigung keinen Gebrauch machen sollte, sieht der derzeitige Gesetzesentwurf vor, dass die Mitteilungspflichten spätestens nach Ablauf von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres des Inkrafttretens der Neuregelung anzuwenden sind. Das bedeutet, würde das JStG II noch 2024 in Kraft treten, wäre der 31. Dezember 2028 der späteste Stichtag für die neuen Mitteilungspflichten.

Verstöße sollen mit Bußgeld, bis EUR 10.000 pro Tat geahndet werden

Wie ursprünglich schon im Wachstumschancengesetz vorgesehen, sollen vorsätzliche oder leichtfertige Verstöße gegen die Mitteilungspflicht jeweils als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld von bis zu EUR 10.000 belegt werden können. Demgegenüber drohen für Verstöße gegen die Mitteilungspflichten bei grenzüberschreitenden Steuergestaltungen bekanntermaßen bis zu EUR 25.000 pro Tat. Den niedrigeren Rahmen hält der Gesetzgeber an dieser Stelle allerdings für geboten, da die Sachverhaltsaufklärung bei grenzüberschreitenden Steuergestaltungen gegenüber rein innerstaatlichen Steuergestaltungen deutlich erschwert sei. Ein höheres Bußgeld zur Ahndung von Verstößen gegen die Mitteilungspflicht über innerstaatliche Steuergestaltungen wäre aus der Sicht des Gesetzgebers daher nicht verhältnismäßig.

Wie geht’s weiter?

Wie aussichtsreich sich das Vorhaben zur Einführung der Mitteilungspflichten für innerstaatliche Steuergestaltungen diesmal gestaltet, ist in dieser frühen Phase des Gesetzgebungsverfahrens offen. Nach dem Scheitern zuletzt im Vermittlungsausschuss zum Wachstumschancengesetz ist nicht auszuschließen, dass es an den Mitteilungspflichten auch diesmal – dieselbe – Kritik hageln dürfte. Gleichwohl sollte das Thema ernst genommen und das Gesetzgebungsverfahren zum JStG II gerade von Intermediären aufmerksam verfolgt werden, um rechtzeitig auf die Compliance-Erfordernisse der möglichen weiteren Mitteilungspflichten reagieren zu können.

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Wirtschaftliche Ermittlung und Planung notwendiger arbeitsrechtlicher Umstrukturierungen

Do, 18.07.2024 - 12:46

Die deutsche Wirtschaft steht vor vielfältigen Herausforderungen. Die Folgen aus Inflation, nachhaltig gestiegenen (Vor-)Materialkosten und kritischen Verfügbarkeiten, Energiepreisen, Kapital- und Personalkosten führen zu einer gesamtwirtschaftlichen Abkühlung und einem zunehmendem Ergebnisdruck. Branchenübergreifend und in allen Größenklassen stellen Unternehmen den Standort Deutschland auf den Prüfstand. Der darüber hinaus bestehende Investitionsbedarf in die notwendige Digitalisierung und Transformation bestehender Geschäftsmodelle belastet den finanziellen Spielraum vieler Unternehmen weiter.

Aktuelle Konjunkturprognosen versprechen auch kurz- und mittelfristig keinen substantiellen „Rückenwind vom Markt“, der zu einer Erholung der Situation führen könnte. Vielmehr haben sich viele Rahmenbedingungen nachhaltig verschärft und die Finanzierung der zukunfts- und wettbewerbsfähigen Ausrichtung des eigenen Geschäftsmodells steht auch bei solide aufgestellten Unternehmen unter Druck. 

Geschäftsführer und Management sehen daher immer häufiger die Notwendigkeit zu nachhaltig wirkenden Maßnahmenprogrammen, bei denen Personalabbau und die damit einhergehende Realisierung von Effizienzsteigerungspotentialen oftmals einen Kern des Transformationsprozesses darstellen. Die Beschreibung dieses Prozesses sowie die für die Zielerreichung notwendigen Maßnahmen in einem ganzheitlichen Strategie- und Transformationskonzept ist dabei unerlässlich. Ausgangspunkt der Überlegungen muss immer die strukturierte Analyse der finanziellen, leistungswirtschaftlichen und organisatorischen Ausgangssituation sowie die Erwartungen an die Marktbedingungen sein. Auf dieser Basis kann ein Transformationskonzept Handlungsoptionen für das Management transparent aufzeigen und die strategische Entscheidungsfindung belastbar unterstützen.

Kapazitative Ableitungen

Im Rahmen der finanziellen und leistungswirtschaftlichen Analyse werden bestehende Umsatz- und Kostenstrukturen überprüft und transparent aufgezeigt. Die Ermittlung der Profitabilität von einzelnen Geschäftsbereichen, Sparten, Produktgruppen und Märkten ist ein unerlässlicher Schritt der eigenen Standortbestimmung. In den Analysen identifizierte Verlusttreiber sind dabei erste Ansatzpunkte zur Optimierung der Wertschöpfungsstrategie. Welche Produkte möchte ich in Zukunft anbieten? Wo möchte ich die Produkte herstellen? An welchen Märkten möchte ich künftig tätig sein? 

Die mannigfaltigen Instrumente zur Neuausrichtung der eigenen Wertschöpfung orientieren sich an der zukünftigen Ausrichtung des Unternehmens und sind im Rahmen der ganzheitlichen Unternehmensstrategie in den unterschiedlichen Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dabei hat die zukünftige Wertschöpfungsstruktur erhebliche Auswirkungen auf die notwenige personelle Ausstattung des Unternehmens. Typische Themenfelder sind (nicht abschließend):

  • Fokussierung von strategischen Zielkunden und Zielmärkten bei gleichzeitigem Abschneiden von C-Kunden
  • Make-or-Buy Entscheidungen und Variabilisierung von Fixkostenstrukturen
  • Verlagerung von bisherigen wertschöpfenden und administrativen Prozessen an eigene Standorte mit Kostenvorteilen
  • Schließung von Geschäftsfeldern und Sparten

Daneben ist auch die Analyse der aktuellen und zukünftigen Marktbedingungen sowie der Trends und Entwicklungen der jeweiligen Branche integraler Bestandteil des strategischen Transformationsprozesses. Ausgehend von strukturierten Wettbewerbsanalysen, Untersuchungen der Kunden- und Beschaffungsmärkte, politischen, technologischen und regulatorischen Rahmenbedingungen sowie dem bisherigen wertorientierten Kundennutzen ist die eigene Marktposition transparent zu ermitteln und kritisch zu hinterfragen. Nur wer die Marktanforderungen von morgen kennt, kann sein Unternehmen bereits heute organisatorisch darauf ausrichten. 

Inwiefern mit Blick auf geänderte Wertschöpfungsstrukturen und Markterwartungen ein Personalabbau erforderlich wird, lässt sich anhand der zukünftig notwendigen Produktions- und Administrationskapazitäten ableiten. Überkapazitäten werden an dem Abgleich mit einer schlanken und effizienten Zielstruktur gemessen. 

Prozessuale Ableitungen

Zur Identifikation von bestehenden personellen Kapazitätsüberhängen und Produktivitätspotentialen, die sich unabhängig von zukünftigen Ausrichtungen und Markterwartungen ergeben, ist zwingend die Aufbau- und Ablauforganisation aller wesentlichen Funktionsbereiche (Produktion, Vertrieb, Einkauf, Administration, etc.) zu untersuchen.

Möglicherweise redundante Positionen werden durch die kritische Würdigung der arbeitsnotwendigen Prozesse und deren Abfolge sowie Interviews mit ausgewählten Mitarbeitern* der entsprechenden Abteilungen identifiziert. Daneben ist der Benchmark von wesentlichen KPIs auf Funktionsebene mit vergleichbaren Marktbegleitern oder auch branchenfremden „Best-In-Class-Unternehmen“ eine geeignete Methode, um Potentiale aufzudecken. Mögliche Themenfelder sind (nicht abschließend):

  • Personaleffizienz und Produktivität in den direkten Bereichen
  • Einkaufsvolumen/Lieferanten pro Mitarbeiter im Einkauf, Umsatz/Key Accounts pro Mitarbeiter im Vertrieb, betreute Mitarbeiter pro Mitarbeiter im Personalwesen, etc.
  • Verantwortlichkeiten und Führungsspannen

In den Jahren des Wachstums wurde häufig die Optimierung von Produktions- und Fertigungsabläufen in den Fokus gestellt. Viele, auch kleinere und mittelständische Unternehmen, haben moderne Methoden aus dem Lean Management in den Produktions- und Fertigungsablauf integriert. Während hier in der Breite ein relativ hoher Professionalisierungsgrad zu beobachten ist, bestehen aus unserer Beratungserfahrung häufig ungenutzte Potentiale in den klassischen Overhead-Bereichen. Der Effizienzdruck auf die indirekten Bereiche wird im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung und den heute schon bestehenden Möglichkeiten mit KI perspektivisch weiter steigen.

Darüber hinaus erleben wir eine zunehmende Veränderungsbereitschaft im Management, langjährige Organisationsstrukturen aufzubrechen. Der Wunsch, ein agiler, effizienter und moderner Arbeitgeber zu sein, kann ebenfalls zu Veränderungen in der Organisation und damit einhergehend Veränderungen in Personalstrukturen führen.

Zur Bestimmung von Personalmaßnahmen, die sich an den prozessualen Abläufen orientieren, ist eine exakte Untersuchung der unternehmensnotwendigen Prozesse zwingende Voraussetzung. Aus unserer Beratungserfahrung sind insbesondere solche Maßnahmen von einer guten Kommunikation und der Akzeptanz innerhalb der Belegschaft abhängig.

Operationalisierung der Erkenntnisse

Die Analyseerkenntnisse, Erwartungen an den Markt und die strategische Ausrichtung werden mittels einer integrierten Unternehmensplanung in Gewinn- und Verlustrechnung, Bilanz und Liquidität abgebildet. Nur durch die transparente Darstellung der erwarteten Kosten der Transformation, aber auch der zukünftig erwarteten Renditen, kann das Management die notwendigen Maßnahmen beschließen und den Transformationsprozess einleiten, umsetzen und stringent nachhalten. Dabei ist der Personalabbau konkret zu budgetieren und die Kosten für etwaige Abfindungen, Auslauflöhne oder potentielle Produktivitätsverluste während der Transformationsphase auf der Zeitachse zu bewerten.

Nach der oftmals noch abstrakten Ermittlung von „anonymen“ Kapazitätspotentialen und entsprechenden Überlegungen zu Personalabbau, ist die Operationalisierung des bestehenden Konzepts und die Ableitung in konkrete Einzelmaßnahmen auf Mitarbeiterebene die mitunter genauso große Herausforderung. Bei der Konzeptumsetzung spielt vor allem die Kommunikation mit ausgewählten Mitarbeitern der betroffenen Abteilungen eine entscheidende Rolle. 

Der Befürchtung des Managements, bisherige Leistungsträger im Laufe des Transformationsprozesses zu verlieren, ist ein wiederkehrendes Spannungsfeld in unserer Beratung. Aus unserer Erfahrung lässt sich dem Abgang von Leistungsträgern vor allem durch aktive und transparente Kommunikation sowie deren aktive Einbindung in den Prozess entgegenwirken. Idealerweise kann für die Umsetzung des Transformationsprozesses gleich zu Beginn der Planungen eine Kernmannschaft („Olympia-Team“) identifiziert werden, die den Prozess aktiv mitgestaltet.

Um möglichst sicherzustellen, dass dieses „Olympia-Team“ auch unter Berücksichtigung der einschlägigen (arbeits-)rechtlichen Anforderungen nach Abschluss des Transformationsprozesses fortbesteht, ist eine enge und frühzeitige Zusammenarbeit mit begleitenden Rechtsanwälten unerlässlich. Dabei kann es insbesondere sinnvoll sein, eine etwaig erforderliche Sozialauswahl bereits zu Beginn des Projekts – zunächst hypothetisch – durchzuspielen, um die Auswirkungen verschiedener Planungsszenarien frühzeitig durchdenken und die Erkenntnisse sodann im weiteren Prozessverlauf verwerten zu können.

Typischer Projektablauf

CMS Advisory unterstützt Unternehmen in der Ausgestaltung und Umsetzung von Transformationsprozessen. Typischerweise werden in einer Detailanalyse die bestehenden Konzepte und Überlegungen des Managements plausibilisiert und gechallenged sowie an den zukünftigen Markterwartungen ausgerichtet. Die zukünftige Strategie, die sich aus den Ergebnissen und Erkenntnisse ableitet, wird gemeinsam mit dem Management in Workshops erarbeitet. 

Der detailliert qualifizierte und quantifizierte Maßnahmenplan beschreibt den Weg zur Erreichung eines nachhaltig wettbewerbsfähigen Unternehmens, das dem sich rasch ändernden Marktumfeld mit immer neuen Herausforderungen resilient entgegenblicken kann. Durch die transparente Planung der entstehenden Transformationskosten können Abfindungsbudgets und Einsparziele effektiv und laufend controlled werden. Dabei blicken wir auf einen umfassenden Erfahrungsschatz in der Konzeptionierung und Umsetzung von nachhaltig wirkenden Transformationsstrategien in unterschiedlichen Branchen zurück und können somit einen realistischen Blick auf die anstehenden Herausforderungen zusichern.

Typischerweise kann innerhalb von 10-12 Wochen eine umsetzungsfähige Transformationsplanung erstellt werden. Um Reibungsverluste zu verhindern ist die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Management, Betriebsrat, betriebswirtschaftlichen Beratern und begleitenden Rechtsanwälten von höchster Bedeutung.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Einführung von KI im Unternehmen – Einbindung des Betriebsrats

Do, 18.07.2024 - 06:48

Als neue Basistechnologie sorgt der zunehmende Einsatz von KI auch in der Arbeitswelt für grundlegende Veränderungen. Die Anwendungsbereiche von KI im Arbeitssektor sind mannigfaltig. Sie reichen vom Recruiting über Prozessoptimierung bis hin zur Personalführung. Ein wesentlicher Anwendungsfall ist zudem die Bereitstellung von KI-Instrumenten als Hilfsmittel für Arbeitnehmer* bei der Erbringung ihrer Arbeitsleistung.

Dem Betriebsrat stehen bei der Implementierung von KI-Anwendungen im Unternehmen je nach Einsatzgebiet, Umfang und Ausgestaltung der Anwendung verschiedene Beteiligungsrechte zu. Zu beachten sind dabei nicht nur die allgemeinen Beteiligungsrechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Der Gesetzgeber hat zudem im Rahmen des Betriebsrätemodernisierungsgesetz im Jahr 2021 spezielle KI-bezogene Regelungen geschaffen, um Betriebsräte für die Herausforderungen beim Umgang mit KI zu wappnen. Für eine reibungslose Einführung von KI im Unternehmen ist ein wohlbedachter Umgang mit diesen Rechten von zentraler Bedeutung – nicht zuletzt, um gemeinsam mit dem Betriebsrat Vertrauen und Akzeptanz für die neuen Systeme in der Belegschaft zu schaffen. Im Folgenden werden nach einer Betrachtung des KI-Begriffs die relevanten Beteiligungsrechte des Betriebsrats schlaglichtartig vorgestellt und deren Bedeutung bei der Einführung von KI eingeordnet:

Betriebsverfassungsrechtlicher KI-Begriff

Während der Begriff „Künstliche Intelligenz“ in das BetrVG aufgenommen, aber nicht definiert wurde, hat der europäische Gesetzgeber in die KI-Verordnung eine Definition aufgenommen. Nach Art. 3 Nr. 1 KI-VO handelt es sich bei KI um ein maschinenbasiertes System, das autonom arbeitet und sich nach dem Einsatz anpassen kann und Ergebnisse wie Vorhersagen oder Entscheidungen erzeugt. Es sollen gerade keine einfacheren herkömmlichen Softwaresysteme erfasst werden, die ausschließlich auf von natürlichen Personen festgelegten Regeln zur automatischen Ausführung von Vorgängen beruhen. Vielmehr wird betont, dass ein Hauptmerkmal von KI-Systemen die Fähigkeit sei, Schlussfolgerungen zu ziehen (Erwgr. 12 KI-VO). 

Neben dem Begriffsverständnis auf europäischer Ebene spricht auch der Regelungszweck dafür, herkömmliche Softwareanwendungen vom KI-Begriff auszuschließen. Die KI-Regeln des BetrVG sollen Betriebsräte in die Lage versetzen, „komplexe informationstechnische Zusammenhänge zu verstehen, zu bewerten und mitzugestalten“ (BT-Drs. 19/28899, S. 14). Eine solche Komplexität besteht jedoch nur bei nicht-deterministischen KI-Systemen, die nicht vollständig vorhersehbare Arbeitsergebnisse (Outputs) erzeugen. Nicht unter den KI-Begriff fallen damit bloße deterministische Systeme, die die bei einer konkreten Eingabe einen immer identischen Output liefern. Für diese Regeln gelten vielmehr nur die allgemeinen Regeln des BetrVG.

Der Regelungszweck sowie die KI-Verordnung beschränken den KI-Begriff des BetrVG sogar noch weiter auf generative KI-Systeme. Dieser Unterfall nicht-deterministischer KI zeichnet sich dadurch aus, dass das System nicht nur unvorhersehbare, sondern selbstständig generierte (also originäre) Outputs erzeugen kann. Beispiele für solche KI-Systeme sind die bereits heute in der Arbeitswelt vielfältig genutzten Chatbots ChatGTP (OpenAI) oder Gemini (Google AI). Es ist nämlich gerade diese generative Fähigkeit, die die besondere Komplexität und das enorme Innovations- und Veränderungspotenzial moderner KI-Systeme begründet. 

Informationsrechte des Betriebsrats bei Einführung von KI

Zunächst ist bei der Einführung von KI nicht nur der allgemeine Informationsanspruch des Betriebsrats aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zu berücksichtigten. Danach muss der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend unterrichten. Ein zusätzliches Unterrichtungs- und Beratungsrecht speziell für die Einführung von KI hat der Gesetzgeber in § 90 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG verankert. Die Regelung sieht ausdrücklich vor, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat über die Planung des Einsatzes von KI rechtzeitig unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen unterrichten muss. Das korrespondierende Beratungsrecht folgt aus § 90 Abs. 2 BetrVG. Danach hat der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat die vorgesehenen Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf die Arbeitnehmer, insbesondere auf die Art ihrer Arbeit sowie die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Arbeitnehmer so rechtzeitig zu beraten, dass Vorschläge und Bedenken des Betriebsrats bei der Planung berücksichtigt werden können. Insoweit ist Arbeitgebern zu raten, diese Pflichten als Chance zu ergreifen, um den Betriebsrat bei der Einführung von KI frühzeitig „mit ins Boot zu holen“, indem offene Fragen geklärt, etwaige Bedenken ausgeräumt und die Vorzüge der Anwendungen verdeutlicht werden. 

Hinzuziehung eines Sachverständigen 

Eine Sonderregelung existiert auch hinsichtlich der Hinzuziehung eines Sachverständigen. Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat nur dann zur Beiziehung eines Sachverständigen berechtigt, wenn dieser zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich ist.

Geht es um die Einführung oder Anwendung von KI, wird das Vorliegen dieser Voraussetzung durch § 80 Abs. 3 Satz 2 BetrVG generell unterstellt. Die Regelung sieht vor, dass die Hinzuziehung eines Sachverständigen als erforderlich gilt, soweit der Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben die Einführung oder Anwendung von KI beurteilen muss. Diese Begünstigung beschränkt sich allerdings auf die Erforderlichkeitsprüfung.

Weiterhin notwendig ist ein Beschluss des Betriebsrats sowie eine Vereinbarung zwischen den Betriebsparteien über die Person des Sachverständigen, den Umfang seiner Hinzuziehung sowie die Kosten. Der Gesetzgeber geht dabei von einem Tagessatz eines Sachverständigen in Höhe von EUR 833,00 (inkl. Mehrwertsteuer) aus. Arbeitgebern ist zu empfehlen, diese niedrig angesetzte Schätzung unter Verweis auf die Gesetzesbegründung als Ausgangspunkt für die Kostenabrede heranzuziehen. 

Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 87 BetrVG

Eine zentrale Rolle bei der Einführung von KI spielen die „echten“ Mitbestimmungsrechte aus § 87 Abs. 1 BetrVG. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass der Arbeitgeber eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme grundsätzlich erst durchführen darf, wenn eine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt wurde oder eine Einigungsstelle die Einigung per Spruch ersetzt hat (§ 87 Abs. 2 BetrVG). In den Blick genommen werden müssen insbesondere die Mitbestimmungstatbestände aus § 87 Abs. 1 Nrn. 1, 6 und 7 BetrVG.

Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG hinsichtlich des Ordnungsverhaltens der Arbeitnehmer ist jedenfalls dann abzulehnen, wenn die KI lediglich als Hilfsmittel der Arbeitnehmer eingesetzt werden soll. Eine Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ist nämlich dann ausgeschlossen, wenn eine Regelung oder Weisung lediglich die individuelle Erbringung der Arbeitsleistung und nicht das kollektive Zusammenwirken der Beschäftigten betrifft (BAG, Urteil v. 15. November 2022 – 1 ABR 5/22). 

Besonders relevant bei der Einführung von KI ist hingegen das Mitbestimmungsrecht im Zusammenhang mit technischen Überwachungseinrichtungen. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG hat der Betriebsrat bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen mitzubestimmen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. Bei software- oder webbasierten KI-Anwendungen handelt es sich grundsätzlich um technische Einrichtungen in diesem Sinne. Nuanciert betrachtet werden muss hingegen die Frage, ob die jeweilige KI-Anwendung auch zur Überwachung der Mitarbeiter bestimmt ist. Dies ist nach der Rechtsprechung – entgegen dem Wortlaut – bereits dann der Fall, wenn die technische Einrichtung objektiv zur Überwachung des Verhaltens der Arbeitnehmer geeignet ist. Eine Überwachungsabsicht ist also nicht erforderlich. Bei der Beurteilung kommt es damit entscheidend darauf an, ob der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, auf die Nutzungsdaten seiner Beschäftigten zuzugreifen. Ist dies nicht der Fall, ist eine Überwachung durch den Arbeitgeber und damit ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ausgeschlossen. Inwieweit Dritte (hier: Anbieter der KI-Anwendung) Zugriff auf die Nutzungsdaten und damit eine Überwachungsmöglichkeit haben, ist zwar datenschutzrechtlich relevant, aber unter mitbestimmungsrechtlichen Gesichtspunkten gleichgültig. Entsprechend besteht kein Mitbestimmungsrecht, wenn die KI-Anwendung nicht vom Arbeitgeber bereitgestellt wird, sondern Arbeitnehmer einen privaten Account nutzen, auf den der Arbeitgeber keinen Zugriff hat. Bei vom Arbeitgeber selbst entwickelten KI-Systemen besteht hingegen grundsätzlich eine Zugriffsmöglichkeit, mit der Folge, dass dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zusteht. 

Denkbar ist mit Blick auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz letztlich ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Im Fokus stehen hier zum einen mögliche psychische Belastungen für Arbeitnehmer bei der Verwendung von KI. Zum anderen kann der Einsatz einer Software als Arbeitsmittel eine umfassende Gefährdungsbeurteilung nach § 3 BetrSichV erforderlich machen, die wiederum ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG auslöst. Ob die jeweilige Belastungs- bzw. Gefährdungsschwelle überschritten ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Bei einem gewöhnlichen Einsatz von ChatGPT als Hilfsmittel ist jedoch davon auszugehen, dass weder eine mitbestimmungspflichtige Belastung vorliegt noch die Schwelle für eine Gefährdungsbeurteilung – konkrete Gefährdung i.S.d. § 5 Abs. 1 ArbSchG – überschritten ist.

Sonstige Mitbestimmungsrechte

Darüber hinaus ist das Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats aus § 94 BetrVG zu beachten, wenn die KI im Zusammenhang mit Personalfragebogen oder Beurteilungsgrundsätzen eingesetzt wird. Unter Personalfragebogen ist eine formularmäßige Zusammenfassung von Fragen über die persönlichen Verhältnisse – insbesondere Eignung, Kenntnisse und Fähigkeiten – zu verstehen (BAG, Urteil v. 21. September 1993 – 1 ABR 28/93). Zustimmungspflichtig ist damit beispielsweise der Einsatz eines Chatbots in der ersten Runde eines Bewerbungsverfahrens, der vorgegebene und / oder selbstständig generierte Fragen an die Bewerber richtet. Zudem steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 95 BetrVG bei der Aufstellung von Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen zu. Dass auch der Einsatz von KI bei der Aufstellung solcher Auswahlrichtlinien mitbestimmungspflichtig ist, hat der Gesetzgeber ausdrücklich in § 95 Abs. 2 a BetrVG klargestellt. Nicht zu vergessen sind schließlich die Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei der Berufsbildung und Qualifizierung der Arbeitnehmer nach §§ 96 ff. BetrVG, die auch Schulungen der Arbeitnehmer im Umgang mit KI umfassen.

Einführung von KI ist regelmäßig keine Betriebsänderung

Letztlich stellt die Einführung von KI im Unternehmen in der Regel keine Betriebsänderung i.S.d. § 111 BetrVG dar. Insbesondere fehlt es der Einführung von KI-Systemen im derzeit üblichen Umfang an einer erheblichen Bedeutung für den gesamten Betriebsablauf, die Voraussetzung für eine Betriebsänderung nach § 111 Satz 3 Nrn. 4 und 5 BetrVG ist. Dies gilt vor allem dann, wenn die KI den Arbeitnehmern lediglich als Hilfsmittel zur Erfüllung ihrer ansonsten unveränderten Arbeitspflichten zur Verfügung gestellt wird.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Interne Untersuchungen: Wie läuft das eigentlich ab?

Mi, 17.07.2024 - 06:41

Der Eingang eines anonymen Hinweises, eine versehentlich weitergeleitete E-Mail mit bizarrem Inhalt, Recherchen eines Investigativjournalisten oder eine Meldung an das Hinweisgebersystem – die Situationen, wie Fehlverhalten von Unternehmensangehörigen oder Schädigungshandlungen externer Dritter ans Licht kommen, sind vielfältig. Auch die im Raum stehenden Tathandlungen sind von diverser Natur: Von strafrechtlich relevantem Handeln, arbeitsrechtlichem Fehverhalten bis zum Datenskandal oder der Verletzung der Business Judgment Rule durch Organmitglieder. In all diesen Fällen ist die Durchführung einer internen Untersuchung aufgrund der bestehenden Legalitätspflicht des Unternehmens und der Geschäftsleitung regelmäßig angezeigt. Doch wie läuft eine solche interne Untersuchung ab? Obgleich jede Untersuchung ihre Besonderheiten und Überraschungen mit sich bringt, kann doch von einem typischen Ablauf gesprochen werden.

Ausgangslage bestimmt den Scope

Der erste Schritt besteht darin, die Art, den Umfang, das Ziel und den Zeitplan der Untersuchung zu bestimmen. Hierbei ist entscheidend, ob die interne Untersuchung präventiv-freiwillig oder reaktiv (aufgrund eines konkreten Verdachts oder Vorfalls) initiiert wurde. Sind Ermittlungsbehörden schon eingeschaltet oder ist der Vorfall bereits in die Öffentlichkeit gelangt, gilt es für das betroffene Unternehmen, Herr der Ermittlungen zu bleiben. Damit einher geht regelmäßig ein gewisser Zeitdruck bei der Durchführung der internen Untersuchung.

Festlegung des Untersuchungsteams

Ein effektives Untersuchungsteam besteht aus Experten für Compliance und Forensik, ergänzt durch Fachleute für Arbeitsrecht, Datenschutzrecht, Versicherungsrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Zu entscheiden ist, ob die Untersuchung durch interne Abteilungen des Unternehmens selbst durchgeführt werden kann oder die Beauftragung externer Rechtsanwälte erforderlich ist.

  • Bei komplexen Sachverhalten (z.B. aufgrund eines langen Zeitraums oder einer Vielzahl an beteiligten Personen), dem Verdacht von schwerwiegendem Fehlverhalten des Managements oder bei im Raum stehenden strafrechtlichen Vorwürfen sollten externe Berater eingeschaltet werden. Intern sollten sodann feste Ansprechpartner bestimmt werden, die die Untersuchung unterstützend begleiten und an die über die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungsschritte berichtet wird (aufgrund der Kündigungserklärungsfrist in § 626 Abs. 2 BGB sollte es sich bei den Ansprechpartnern im Idealfall nicht um kündigungsberechtigte Personen handeln).
  • Eine erste Plausibilitätsprüfung oder die Aufklärung einfach gelagerter Sachverhalte kann dagegen auch intern vorgenommen werden, insbesondere wenn das Unternehmen über eine eigene Abteilung für interne Untersuchungen verfügt. In diesen Fällen ist zur Gewährleistung einer objektiven Untersuchung stets darauf zu achten, dass keine Interessenskonflikte zwischen dem internen Untersuchungsteam und den verdächtigen Personen bestehen.

Unter Umständen kann auch die umgehende Einschaltung von Ermittlungsbehörden angezeigt sein, insbesondere wenn die Gefahr der Vernichtung relevanter Beweismittel zu befürchten ist oder Straftaten im Raum stehen, für die eine Anzeigepflicht nach § 138 StGB besteht.

Untersuchung beginnt mit erster Bestandsaufnahme

Im Rahmen einer ersten Bestandsaufnahme werden Gespräche mit den Verantwortlichen des Unternehmens geführt und die eingegangenen Hinweise sowie bereits vorhandene Unterlagen gesichtet. Wichtige Fragen, die dabei geklärt werden müssen, sind u.a.:

  • Welche Erkenntnisse zum Sachverhalt liegen bereits vor und sind diese plausibel?
  • Um welche Art von Fehlverhalten handelt es sich und welche Rechtsgebiete sind betroffen?
  • Welche Aufklärungsmittel kommen in Betracht?
  • Sind Eilmaßnahmen notwendig, wie z.B. die Sicherung von PCs, Sicherung von Vermögensinteressen durch Inanspruchnahme von Eilrechtschutz oder die Unterbrechung von Vertragsverhandlungen?
  • Welche Meldepflichten und -fristen sind zu beachten, z.B. Umstandsmeldungen an die D&O-Versicherung oder die Information von Vertragspartnern?
  • Ist eine Krisenkommunikation vorzubereiten?
Klärung des rechtlichen Rahmens

Um die Ordnungsmäßigkeit der internen Untersuchung und die Verwertung von gesammeltem Beweismaterial zu gewährleisten, sind bereits zu Beginn die rechtlich einzuhaltenden Vorgaben vor Augen zu führen. In arbeitsrechtlicher Hinsicht ist insbesondere die Notwendigkeit einer Anhörung des Betriebsrates sowie weitere in Betriebsvereinbarungen festgehaltene Anforderungen zu prüfen. Da im Rahmen interner Untersuchungen regelmäßig personenbezogene Daten von Mitarbeitern gesichtet und verarbeitet werden, sind auch datenschutzrechtliche Vorgaben zu beachten, die sich aus internen Regelungen (z.B. IT-Richtlinien oder Betriebsvereinbarungen) sowie den datenschutzrechtlichen Gesetzen (BDSG, DSGVO) ergeben. Im Übrigen können auch interne Richtlinien Vorgaben für den Ablauf von internen Untersuchungen enthalten.

Sachverhaltsaufklärung

Nach all dieser Vorbereitungsarbeit geht es an die eigentliche Sachverhaltsaufklärung. Primäre Ziele sind die umfassende Aufklärung des Sachverhalts und die Prüfung von Verantwortlichkeiten. Eingesetzt werden können verschiedene Ermittlungsmaßnahmen, die parallel oder zeitlich versetzt erfolgen können:

  • Dokumentenreview und E-Scan: Es bietet sich regelmäßig an, mit der Sichtung relevanter Unterlagen (z.B. Personalakte, Protokolle und Präsentationen von Gremiensitzungen, Verträge, Gesprächsnotizen) und elektronischer Daten (E-Mail-Postfächer, Chat-Verläufe) zu beginnen. Zur effizienten Durchsicht der relevanten Unterlagen und zur Gewährleistung der Einhaltung aller arbeits- und datenschutzrechtlichen Vorgaben werden typischerweise E-Discovery-Programme (wie z.B. CMS Evidence) eingesetzt. 
  • Hintergrundrecherchen: Sind externe Dritte in den aufzuklärenden Sachverhalt involviert, sind Hintergrundrecherchen notwendig. Diese können mit Hilfe von allgemeinen Internetrecherchen, Handelsregister-Abfragen sowie der Auswertung bestimmter Wirtschaftsinformationsdienste (wie z.B. Orbis, Lexis Diligence, Dow Jones Risk & Compliance Center) durchgeführt werden.
  • Interviews: Zentraler Baustein der internen Untersuchung sind Interviews mit relevanten Personen, typischerweise mit Mitarbeitern. Die Reihenfolge der Interviews hängt stets von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab, insbesondere der Verfügbarkeit der namentlich bekannten Auskunftspersonen. Regelmäßig ist es sinnvoll mit den Gesprächspartnern zu beginnen, die möglichst schnell einen belastbaren und umfassenden Überblick über die involvierten Personen und deren Beziehungen geben können (sog. Scoping-Interviews). Diese Gesprächspartner sind häufig nicht von den konkreten Vorwürfen betroffen. Im Anschluss bietet es sich an, die Interviews mit Auskunftspersonen in der Reihenfolge ihrer ansteigenden Involvierung fortzusetzen.
Sachverhaltsauswertung und -bewertung

Nach der Ermittlung werden die gesammelten Informationen ausgewertet. Dabei werden insbesondere strafbares Verhalten, arbeitsrechtliche Pflichtenverstöße, abgabenrechtliche Risiken sowie Haftungsrisiken des Unternehmens geprüft. Auch mögliche Ansprüche des Unternehmens gegen Mitarbeiter oder Dritte werden bewertet. Auf Grundlage der Sachverhaltsbewertung wird sodann der Handlungsbedarf ermittelt. In Betracht kommen unter anderem

  • Strafanzeige und Strafantrag, ggf. Kooperation mit den staatlichen Ermittlungsbehörden
  • Arbeitsrechtliche Maßnahmen (Abmahnung, Kündigung)
  • Vertragsrelevante Handlungen
  • Meldungen gegenüber Behörden (u.a. Finanzamt, DRV, Zoll)
  • Geltendmachung von Regressansprüchen
  • Einbindung einer D&O-Versicherung
  • Abwehr von Ansprüchen
  • Erforderliche und sinnvolle Verbesserungen / Korrekturen an internen Richtlinien und Prozessen
Fortlaufende Dokumentation

Die Ergebnisse und Verfahrensschritte der Untersuchung sollten unbedingt fortlaufend dokumentiert werden, um ein rechtlich konformes Vorgehen nachweisen zu können. Gerade in nachgelagerten Gerichtsverfahren und bei der Frage von etwaigen Beweisverwertungsverboten kann ein solcher Nachweis von entscheidender Bedeutung sein.

Interne Untersuchungen sind nicht zu unterschätzen

Interne Untersuchungen sind komplexe und sensible Prozesse, die eine sorgfältige Vorbereitung und Durchführung erfordern. Unternehmen müssen sicherstellen, dass alle rechtlichen und ethischen Standards eingehalten werden, um etwaiges Fehlverhalten effektiv aufklären zu können und sich selbst nicht angreifbar zu machen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei ein strukturiertes Vorgehen. Mitunter kann auch die Einbindung erfahrener externer Experten unerlässlich sein.

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EuGH ergänzt Ausnahmetatbestand im Pflanzenschutzmittelrecht – nicht mehr und nicht weniger

Di, 16.07.2024 - 06:21

Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof zwei Urteile zur Frage der Reichweite der Prüfungskompetenz nationaler Zulassungsbehörden und Gerichte im zonalen Zulassungsverfahren von Pflanzenschutzmitteln erlassen.

Zum zonalen Zulassungsverfahren eines Pflanzenschutzmittels

In Deutschland trifft das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (nachfolgend BVL) als nationale Zulassungsbehörde seine Zulassungsentscheidung für Deutschland auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (nachfolgend: PSM-VO). Die PSM-VO legt unionsweit harmonisierte Regelungen für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln fest. 

Der nationalen Zulassung eines Pflanzenschutzmittels geht ein zweistufiges Verfahren voraus: Auf europäischer Ebene werden zunächst die Wirkstoffe für Pflanzenschutzmittel genehmigt Es folgt eine nationale Zulassung der Pflanzenschutzmittel mit genehmigten Wirkstoffen.

Wie auch der Wirkstoffgenehmigung, geht der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln eine umfangreiche wissenschaftliche Prüfung auf Grundlage von unionsweit harmonisierten Anforderungen und Leitlinien voraus. Diese Prüfung und Bewertung von Pflanzenschutzmitteln erfolgt arbeitsteilig im Rahmen eines zonalen Zulassungsverfahrens. Die EU ist dafür in drei Zonen aufgeteilt: Nord, Zentral und Süd, wobei Deutschland in der zentralen Zone ist.

Innerhalb einer Zone prüft der vom Antragsteller* ausgewählte „bewertende Mitgliedstaat“ die Zulassungsvoraussetzungen und trifft eine Zulassungsentscheidung, die sog. Referenzzulassung. Andere Mitgliedstaaten der gleichen Zone, in denen ebenfalls ein Zulassungsantrag gestellt wird, werden am Zulassungsverfahren beteiligt (sog. Concerned Member State). Gemäß Art. 36 Abs. 2 PSM-VO gewähren oder verweigern die Concerned Member State die Zulassung „auf der Grundlage der Schlussfolgerungen aus der Bewertung“ durch den bewertenden Mitgliedstaat. 

Bindung an die Referenzzulassung

Ist also Deutschland an einem zonalen Zulassungsverfahren als Concerned Member State beteiligt, ist das BVL als zuständige Zulassungsbehörde für Deutschland in der Regel an die Bewertung des bewertenden Mitgliedstaats gebunden. 

Nach dem in Art. 36 Abs. 1 PSM-VO verankerten Prinzip gegenseitigen Vertrauens soll sich der Concerned Member State darauf verlassen können, dass die Schlussfolgerung des prüfenden Mitgliedstaats auf einer unabhängigen, objektiven und transparenten Bewertung unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik und unter Heranziehung der zum Zeitpunkt des Antrags verfügbaren Leitlinien beruht. Vor diesem Hintergrund ist ein Concerned Member State im zonalen Zulassungsverfahren an die Referenzzulassung des bewertenden Mitgliedstaates gebunden und grundsätzlich nicht berechtigt, die Zulassungsvoraussetzungen erneut zu prüfen. Nach gefestigter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Braunschweig und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist die Prüfungskompetenz des beteiligten Mitgliedstaats beschränkt und er ist nicht befugt, die Referenzzulassung auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss v. 3. Juli 2023 – 10 LA 116/22; VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16). Daraus folgt, dass die Entscheidung des Referenzmitgliedstaats in der Regel bindend für alle anderen Mitgliedstaaten derselben Zone ist. 

Nach gefestigter Rechtsprechung kann die Bindungswirkung der Referenzzulassung nur in seltenen Ausnahmsfällen entfallen. Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat insoweit entschieden, dass im nationalen Zulassungsverfahren kein Raum für eine weitergehende Überprüfung der Referenzzulassung besteht, solange sich nicht aufdrängt, dass ein Referenzmitgliedstaat die im jeweiligen Zulassungsverfahren zu beachtenden Rechtsvorschriften systematisch verletzt (VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16; nachfolgend vgl. auch VG Braunschweig, Urteil v. 28. Mai 2020 – 9 A 151/18 und 9 A 495/17; VG Braunschweig Urteil v. 3. September 2020 – 9 A 165/18).

An das Vorliegen einer systematischen Rechtsverletzung sind hohe Anforderungen zu stellen. Denn andernfalls würde das europäische Instrument der zonalen Zulassung, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts durch die anderen Mitgliedstaaten gründet, grundlegend in Frage gestellt (vgl. VG Braunschweig, Urteil v. 30.11.2016, 9 A 28/16, Juris Rn. 22 – dort zum Verfahren der gegenseitigen Anerkennung). Vereinzelte Rechtsverstöße in einem oder einigen wenigen pflanzenschutzrechtlichen Zulassungsverfahren sind daher nicht geeignet, systematische Mängel des Zulassungsverfahrens darzulegen (VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016 –9 A 27/16; VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016 – 9 A 28/16; VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16). Erforderlich ist vielmehr eine von willkürlichem Verhalten getragene Rechtsverletzung durch den prüfenden Mitgliedstaat (vgl. VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016-  9 A 28/16: „von einer eigenständigen, aktuellen Bewertung des Pflanzenschutzmittels der Klägerin nicht etwa willkürlich abgesehen“).

Eine weitere Ausnahme liegt vor, wenn die Voraussetzungen von Art. 36 Abs. 3 PSM-VO vorliegen. Dies ist vor allem der Fall, wenn der Concerned Member State einen berechtigten Grund nachweist, dass ein Pflanzenschutzmittel in seinem Gebiet angesichts spezifischer ökologischer oder landwirtschaftlicher Bedingungen ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt.

EuGH-Urteile zur Prüfungskompetenz der beteiligten Mitgliedstaaten

Der EuGH hatte nun in der Rechtssache C-308/22 und in den verbundenen Rechtssachen C-309/22 und C-310/22 in einem Vorabentscheidungsersuchen, das vom Obersten Verwaltungsgerichtshof für Handel und Industrie, Niederlande im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Pesticide Action Network Europe (PAN Europe) und der niederländischen Zulassungsbehörde hinsichtlich der niederländischen Zulassung bestimmter Pflanzenschutzmittel, eingereicht wurde, u.a. die Regelungen der PSM-VO zur Bindungswirkung der Referenzzulassung und deren Ausnahmetatbestände auszulegen. 

Konkret ging es in dem Verfahren Rs. C-308/22 entsprechend einer Vorlagefrage insbesondere darum, ob Art. 36 PSM-VO dahin auszulegen ist, dass der Concerned Member State, der nach Art. 36 Abs. 2 und Abs. 3 PSM-VO über die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels entscheidet, von der wissenschaftlichen Risikobewertung des bewertenden Mitgliedstaats abweichen darf, wenn zur Zeit der Zulassungsentscheidung bereits neuere Erkenntnisse vorlagen. 

Der EuGH hat insoweit mit seinem Urteil vom 25. April 2024 in der Rs. C-308/22 entschieden, dass ein beteiligter Mitgliedstaat von der wissenschaftlichen Bewertung des Referenzmitgliedstaats in den Fällen von Art. 36 Abs. 3 PSM-VO u.a. dann abweichen darf, wenn ihm „die zuverlässigsten wissenschaftlichen oder technischen Daten vorliegen“, die der Referenzmitgliedstaat bei der Erstellung seiner Bewertung nicht berücksichtigt hat und die ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder für die Umwelt aufzeigen. 

Insoweit hat sich der EuGH insbesondere darauf gestützt, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 1 Buchst. e) PSM-VO u.a. verpflichtet sei, eine Zulassung aufzuheben, wenn er feststellt, dass das Pflanzenschutzmittel unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder unannehmbare Auswirkungen auf die Umwelt im Sinne der PSM-VO hat und diese Erkenntnisse seinerzeit vom bewertenden Mitgliedstaat bewusst nicht berücksichtigt wurden. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die dem Urteil vorausgegangenen Schlussanträge der Generalanwältin Medina, die aus dem vorstehenden schlussfolgerte, dass ein beteiligter Mitgliedstaat auch nicht verpflichtet sein könne, das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels zuzulassen, wenn wissenschaftliche oder technische Erkenntnisse vorliegen, die ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt erkennen lassen. Weiter führt der EuGH aus, dass diese Auslegung durch das Vorsorgeprinzip und das Ziel der PSM-VO gestützt werde, ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt zu gewährleisten.

In den Urteilen zu den verbundenen Rechtssachen C-309/22 und C-310/22 hat der EuGH geurteilt, dass der die Zulassungsentscheidung treffende nationale Mitgliedstaat die zum Zeitpunkt dieser Prüfung verfügbaren einschlägigen und zuverlässigen wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnisse zu berücksichtigen hat. 

Berücksichtigung „neuester“ wissenschaftlicher Erkenntnisse 

Die beiden Urteile verdeutlichen, dass Antragsteller sich im Rahmen des Zulassungsverfahrens auch mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen müssen. Solche Erkenntnisse, die von der Zulassungsbehörde des bewertenden Mitgliedstaats im Rahmen des Zulassungsverfahrens angeführt werden, müssen sie ggf. widerlegen, um nachzuweisen, dass ein Pflanzenschutzmittel die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt. 

Aus dem Wortlaut „zuverlässigst“ lässt sich ableiten, dass die Erkenntnisse eine gewisse Qualität haben müssen und mindestens die gleiche Qualität aufweisen müssen wie die vorherigen Erkenntnisse. Nicht jede wissenschaftliche Publikation muss daher berücksichtigt werden. 

Es bleibt zukünftig dabei, dass nationale Zulassungsbehörden nur im Ausnahmefall von der Referenzzulassung abweichen dürfen

Der EuGH hat das System des zonalen Zulassungsverfahrens nicht angetastet. Im Gegenteil: Er hat bestätigt, dass dieses System im Kontext des Europarechts und vor dem Hintergrund wichtiger europäischer Prinzipien wie etwa dem Harmonisierungsgrundsatz seine Berechtigung hat. Er hat lediglich klargestellt, dass eine Zulassungsentscheidung eines bewertenden Mitgliedsstaats ausnahmsweise auch dann überprüft werden kann, wenn dieser nicht die im Zeitpunkt seiner Zulassungsentscheidung vorliegenden neuesten „zuverlässigsten“ wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt hat. Dies dürfte das Verwaltungsgericht Braunschweig in seine gefestigte Rechtsprechung einordnen und hier einen weiteren Ausnahmefall annehmen, in dem die Referenzzulassung überprüft werden kann. Nicht entschieden hat der EuGH, ob Erkenntnisse zu berücksichtigen sind, die erst nach der Zulassungsentscheidung des bewertenden Mitgliedstaats bekannt werden. Diese Frage wird sich wohl erst in Zukunft stellen. Zunächst bleibt es also dabei, dass den Zulassungsentscheidungen der bewertenden Mitgliedstaaten Vertrauen zu schenken ist und die nationalen Zulassungsbehörden hiervon nur im Ausnahmefall abweichen dürfen.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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OLG Hamburg zum Inverkehrbringen medizinischer Software

Mo, 15.07.2024 - 12:18

In dem wettbewerbsrechtlichen Eilverfahren standen sich zwei Anbieter von Apps im Bereich der Dermatologie gegenüber. Mit der Hautcheck-App der Antragsgegnerin können Patienten Bilder ihrer Hautleiden an Hautärzte senden. Zusätzlich müssen sie einen in Kooperation mit Hautärzten entwickelte Anamnese-Fragebogen ausfüllen, der je nach Patientenanliegen modifiziert wird. Basierend auf den so übermittelten Informationen erhält der Patient eine ärztliche Diagnose sowie gegebenenfalls Behandlungsvorschläge und ein Rezept. 

Kern der gerichtlichen Auseinandersetzung war die Frage, ob die Software verkehrsfähig ist. Durfte sie so überhaupt auf den Markt gebracht werden oder hätte sie anders – nämlich intensiver – geprüft und zertifiziert werden müssen?

Wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsanspruch wegen MDR-Verstoßes

Die Antragsgegnerin hatte ihre Software gemäß der Zweckbestimmung als Medizinprodukt nach der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) qualifiziert. Sie sollte offenbar – vermutlich aus Gründen der Erstattung durch gesetzliche Krankenkassen und der Teilnahme an Ausschreibungsverfahren – auch so eingeordnet werden, selbst wenn es aufgrund der Funktionalität vielleicht andere Optionen gegeben hätte. Die Einordnung als Medizinprodukte stand zwischen den Parteien daher nicht im Streit. 

Eingeordnet hatte die Antragsgegnerin ihr Produkt in die Risikoklasse I. Das hielt die Antragstellerin – eine direkte Wettbewerberin – für unzulässig. Ihrer Meinung nach handelt es sich um ein Produkt, das mindestens gemäß der höheren Klasse IIa zu klassifizieren sei. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragte sie, es der Antragsgegnerin zu verbieten, die Software unter ihrer Zweckbestimmung in den Verkehr zu bringen oder auf dem Markt bereitstellen zu lassen, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse IIa, IIb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 der MDR qualifiziert ist. 

Nachdem es in der ersten Instanz unterschiedliche Entscheidungen gab, gab das OLG Hamburg der Antragstellerin im Berufungsverfahren mit Urteil vom 20. Juni 2024 nun Recht (OLG Hamburg, Urteil v. 20. Juni 2024 – 3 U 3/24). Es entschied, dass die Hautcheck-App mit der Zweckbestimmung zur

asynchronen Untersuchung von Hautveränderungen mittels Aufnahme, Speicherung, Anzeigen und Übermittlung von digitalem Bildmaterial von den betroffenen Hauptarealen, sowie die Beantwortung eines Anamnesebogens und der Kommunikation (Chat) mit Fachärzten

 nicht auf dem Markt bereit gestellt werden darf, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse lla, Ilb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 Verordnung (EU) 2017/745 zertifiziert ist.

Weites Verständnis der Klassifizierungsregel zu Software (Regel 11 MDR)

Das OLG Hamburg stellt in seiner ausführlich begründeten Entscheidung maßgeblich auf die Auslegung der Regel 11 im Anhang VIII der MDR ab. Die vorgelagerte Frage, ob die Software überhaupt als Medizinprodukt zu qualifizieren ist oder als reines Kommunikations-Tool schon gar nicht in den Anwendungsbereich der MDR fällt, streift es nur kurz. Da dieser Punkt zwischen den Parteien in dem zivilrechtlichen Eilverfahren unstreitig war, musste es die Frage aus prozessualen Gründen nicht unbedingt entscheiden, sondern konnte sich auf die streitige Frage der Klassifizierung konzentrieren. 

Nach Art. 51 MDR werden Medizinprodukte unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Risiken in die Klassen I, IIa, IIb und III eingestuft. Die Klassifizierung erfolgt gemäß Anhang VIII. Regel 11 dieses Anhangs bestimmt:

Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa […]. Sämtliche andere Software wird der Klasse I zugeordnet.

Die Klassifizierung ist praktisch vor allem deshalb relevant, weil für Produkte der Klasse IIa oder höher die Einbindung einer Benannten Stelle erforderlich wird. Das für die Verkehrsfähigkeit erforderliche CE-Kennzeichen darf dann nur nach Zertifizierung durch eine solche Benannte Stelle angebracht werden. Bei Produkten der Klasse I kann der Hersteller selbst die Konformität bestätigen. 

Die Antragsgegnerin trug zur Einordnung in Klasse I im Kern vor, dass das Übermitteln von medizinischen Informationen durch ihre App nicht unter den Begriff des „Liefern“ im Sinne der Regel 11 passe, sondern nur ein „einfaches“ Liefern darstelle. Es erfolge eine bloße Übermittlung von medizinischen Informationen ohne eigene diagnostische Auswertung, Bewertung oder Analyse. Das sah die Antragstellerin anders. Das OLG Hamburg entschied nun ebenso. 

Zunächst würde es zu Unsicherheiten führen, wenn man zwischen dem Liefern von „einfachen“ und „qualifizierten“ medizinischen Informationen unterscheide. Da die App vorher gesammelte und gespeicherte medizinische Informationen an den Arzt liefere, diese Informationen zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen würden und überwiegend die einzige Grundlage der ärztlichen Diagnose und Therapieempfehlung darstellten, sei die Software unter den ersten Satz der Regel 11 zu fassen. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin verlange Regel 11 nicht,

dass die Software selbst Diagnosen erstellt oder Informationen generiert, produziert, hervorbringt oder herstellt, indem z. B. die Software eine eigenständige Auswertung/Analyse oder diagnostische Bewertung der mitgeteilten, gemessenen oder fotografierten Daten und Bilder vornimmt.

Eine Software, die selbst Diagnosen erstelle, sei vielmehr schon unter die Regel 10 des Anhangs VIII zu fassen.

Hinzu komme, dass die App – unstreitig – so programmiert sei, dass die Diagnoseeinschätzung und Antworten des Patienten Einfluss auf die weiter gestellten Fragen und damit Einfluss auf die an die Hautärzte gelieferten Informationen hätten. Somit liefere die App das Ergebnis einer strukturierten Erhebung medizinischer Daten. 

Hohes Gesundheitsschutzniveau der MDR

Auch die weiteren Argumente der Antragsgegnerin konnten das Gericht nicht überzeugen. Nach Ansicht des OLG Hamburg sei Software nicht nur dann als Medizinprodukt der Klasse IIa (oder höher) zu qualifizieren, wenn ihr Einsatz die Risiken für den Patienten im Vergleich zur ärztlichen Behandlung vor Ort entscheidend erhöhe. Auch würde eine einschränkende Auslegung der Regel 11 im Widerspruch zum Zweck der MDR stehen, ein hohes Gesundheitsschutzniveau für Patienten und Anwender sicherzustellen. Der vom Europäischen Gerichtshof kreierte Auslegungsgrundsatz des effet utile, nach dem unionsrechtlichen Vorschriften bei Auslegungszweifeln die größtmögliche Wirkung zukommen soll, spreche ebenfalls dagegen, die Regel 11 wie von der Antragsgegnerin vorgebracht einschränkend auszulegen.

Medizinprodukterechtliche Bewertung frühzeitig in den Blick nehmen

Das Urteil des OLG Hamburg ist von erheblicher praktischer Bedeutung für digitale Angebote im Gesundheitsbereich. Das zeigt sich schon daran, dass es von zahlreichen Medien, auch außerhalb der Fachpresse, aufgegriffen, eingeordnet und mit Blick auf ihre praktischen Auswirkungen – durchaus kontrovers – besprochen wurde. 

Unabhängig von der Frage, ob das OLG Hamburg hier im konkreten Einzelfall eine zu weite Auslegung der Klassifizierungsregeln vorgenommen hat oder nicht, und ebenfalls unabhängig von der Frage, ob Produkte mit ähnlichen Funktionen überhaupt als Medizinprodukte eingestuft werden müssen oder nicht, zeigt die Entscheidung vor allem Folgendes:

  • Hersteller medizinischer Software sollten sich sehr genau überlegen, wie sie die Zweckbestimmung ihres Produktes fassen und welche Funktionalitäten die Software hat. Hier können sie zumindest in Grenzfällen die Weichen stellen, ob die Software außerhalb des medizinprodukterechtlichen Rahmens entwickelt und vertrieben werden kann, oder ob sie unter die Vorgaben der MDR fällt. Für beides kann es gute Argumente geben, man sollte sich nur der jeweiligen Konsequenzen der Einordnung bewusst sein.
  • Wer sich für die Einordnung als Medizinprodukt entscheidet, sollte genau prüfen, in welche Klasse das Produkt einzuordnen ist – angesprochen ist damit die Regel 11. Hier gibt es einigen Argumentationsspielraum, abhängig von der konkreten Zweckbestimmung, der konkreten Funktionalität des Produktes und der Verwendung der erzeugten Daten. Das wird auch nach dem Urteil des OLG Hamburg, das lediglich einen Einzelfall zu entscheiden hatte, so bleiben.
  • Das praktische Risiko eines gerichtlichen Verbots ist real. Ebenso real ist die Chance, seine eigene Überzeugung der Produkteinordnung mit gerichtlicher Hilfe durchzusetzen. Hier zeigt sich das durchaus scharfe Schwert des deutschen Wettbewerbsrechts und des Wettbewerbsprozesses, insbesondere des Eilrechtsschutzes. Gerade im internationalen Vergleich ist dieses Instrument besonders und wird zuweilen unterschätzt. 

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Betriebsratswahlen in Matrixstrukturen

Mo, 15.07.2024 - 06:11

Das LAG Hessen hat entschieden, dass Matrixmanager das aktive Wahlrecht in jedem Betrieb haben, dessen arbeitstechnischen Zweck sie durch ihre Führungsleistung fördern und in dem sie dadurch eingegliedert sind (Beschluss v. 22. Januar 2024 – 16 TaBV 98/23). 

Im vorliegenden Blogbeitrag erläutern wir die arbeitsrechtlichen Grundlagen von Matrixstrukturen sowie den Hintergrund, den Inhalt und die praktischen Folgen der Entscheidung für Unternehmen und Konzerne, die in einer Matrixstruktur agieren.

Ausgangspunkt: Kennzeichen und Besonderheiten einer Matrixstruktur

Ziel von Matrixstrukturen in Konzernen ist es, eine effiziente Organisation aufzubauen, lange Entscheidungswege zu vermeiden und die Flexibilität zwischen einzelnen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu erhöhen (vgl. Wisskirchen/Block, NZA-Beil. 2017, 90, 90). 

Arbeitsrechtlich ist die Schaffung von Matrix-Strukturen durch eine vom Vertragsarbeitgeber unabhängig gestaltete Arbeitsorganisation gekennzeichnet. Die Arbeitnehmer stehen häufig in zwei oder mehr Weisungsbeziehungen.

(LAG Niedersachsen, Urteil v. 24. Juli 2023 – 15 Sa 906/22

Die zwei wesentlichen Eigenschaften der Matrixstruktur sind also: die Loslösung der arbeitstechnischen und betriebswirtschaftlichen Organisation von der Legalstruktur der Gesellschaften, und die Abkopplung des arbeitgeberseitigen fachlichen Weisungsrechts vom disziplinarischen Weisungsrecht. Das fachliche Weisungsrecht wird in der Matrixstruktur von Dritten – sog. Matrixmanagern oder Line-Managern – innerhalb oder außerhalb des Unternehmens ausgeübt. Damit unterliegen Arbeitnehmer Weisungen sowohl des Vertragsarbeitgebers als auch des Matrixmanagers. 

Spiegelbildlich bestehen zwei Berichtslinien, nämlich eine „solid line“ zum disziplinarisch verantwortlichen Arbeitgeber und eine „dotted line“ zum überwiegend fachlich weisungsbefugten Matrixmanager. 

Der Fall: War Betriebsratswahl wegen Teilnahme nicht örtlich ansässiger Matrixmanager unwirksam?

Zurück zum Sachverhalt der Entscheidung: Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl. Für die streitgegenständliche Betriebsratswahl waren 94 der 997 wahlberechtigen Arbeitnehmer sog. Matrixmanager. Alle waren im Wählerverzeichnis eingetragen, obwohl sie grundsätzlich einem anderen Betrieb der Beklagten angehörten. Die Matrixmanager führten aber Arbeitnehmer des von der Wahl betroffenen Betriebs. An der Betriebsratswahl nahmen 9 dieser Matrixmanager aktiv teil. 

Kern des Verfahrens war, ob die Matrixmanager aktiv wahlberechtigt, d.h. „Arbeitnehmer des Betriebs“ i.S.d. § 7 S. 1 BetrVG waren. Denn nach § 19 Abs. 1 BetrVG kann die Wahl des Betriebsrats angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden ist und eine Berichtigung nicht erfolgt ist (es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte).

Aktive Wahlberechtigung von Matrixmanagern bei Betriebsratswahl abhängig von Eingliederung

Die aktive Wahlberechtigung zu Betriebsratswahlen nach § 7 BetrVG erfordert neben der Arbeitnehmereigenschaft des Betroffenen auch dessen betriebsverfassungsrechtliche Zuordnung zum Betrieb. Diese Zuordnung orientiert sich an der Eingliederung des Betroffenen in den Betrieb. 

Entscheidend dafür sei, so das LAG, ob der Arbeitgeber mithilfe des betroffenen Matrixmanagers den arbeitstechnischen Zweck des Betriebs verfolgt – so hatte es das BAG bereits im Rahmen von § 99 BetrVG entschieden (vgl. BAG, Beschluss v. 12. Juni 2019 – 1 ABR 5/18). Diese Verfolgung der betrieblichen Zwecke wird anhand der Gesamtschau aller Umstände für jeden Betrieb einzeln bewertet. Das LAG Hessen erteilt damit Stimmen in der Literatur eine Absage, die eine Eingliederung (nur) in den Betrieb fordern, in welchem der jeweilige Arbeitnehmer schwerpunktmäßig tätig ist (vgl. Richardi BetrVG/Thüsing BetrVG § 7 Rn. 34). Es wendet sich mithin auch gegen Stimmen in der Literatur, die die BAG-Rechtsprechung für nicht auf das aktive und passive Wahlrecht übertragbar halten (vgl. Salamon/Iser, NZA 2023, 200, 205 f.).

Für die Bewertung, ob der Arbeitgeber mit dem Einsatz des Matrixmanager in einem anderen Betrieb dessen arbeitstechnischen Zweck verfolge, stellt das LAG Hessen klar, dass dies nicht zwingend die disziplinarische Verantwortung der Führungskraft erfordern könne, sondern fachliche Weisungsbefugnisse ausreichen würden. Denn von einer Eingliederung in den Betrieb könne regelmäßig ausgegangen werden, wenn der Matrixmanager regelmäßig mit den Arbeitnehmern des Betriebs zusammenarbeite und im Rahmen dessen seine fachlichen Weisungsbefugnisse wahrnimmt. Unbeachtlich sei ferner die tatsächliche Anwesenheit vor Ort, auch wenn diese ein gewichtiges Indiz für die Eingliederung in den Betrieb darstelle. 

Das bejahte das LAG hier: Im streitgegenständlichen Fall führten die Matrixmanager die Arbeitnehmer im Betrieb unstreitig in fachlicher Hinsicht und waren damit nach Ansicht des LAG in die Erfüllung der operativen Aufgaben und Arbeitsprozesse des Betriebs eingebunden. Unschädlich war sowohl die fehlende disziplinarische Befugnis der Matrixmanager zur Ermahnung, Abmahnung oder Kündigung der Arbeitnehmer als auch die fehlende Anwesenheit vor Ort. Das LAG entschied daher, dass die betroffenen Führungskräfte wegen der Matrixstruktur aktiv wahlberechtigt i.S.d. § 7 BetrVG waren. Die Wahl des Betriebsrats konnte nicht angefochten werden.

Die Entscheidung vereinheitlicht zwar die Maßstäbe von § 7 BetrVG und § 99 BetrVG

Die Entscheidung steht im Einklang mit der o.g. Rechtsprechung des BAG zu § 99 BetrVG (vgl. Beschluss v. 12. Juni 2019 – 1 ABR 5 /18) und setzt diese folgerichtig um. Sie gleicht daher – was positiv ist – die Voraussetzung des aktiven Wahlrechts zu Betriebsratswahlen i.S.d. § 7 BetrVG mit denen der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats i.S.d. § 99 BetrVG an. 

…. Ist aber dennoch kritisch zu sehen

Bedenklich an dieser Rechtsprechungslinie des BAG ist jedoch, dass sie dazu führt, dass Matrixmanager in diversen Betrieben gleichzeitig eingegliedert sein können. 

Die Rechtsprechung des BAG erodiert damit zunehmend den Betriebsbegriff und schafft in der Praxis einen erheblichen Arbeitsaufwand, obwohl auch Betriebsräte erfahrungsgemäß kein besonderes Interesse daran haben, sich mit Personalien zu beschäftigen, die häufig Mitglieder höherer Leitungsebenen sind und die letztlich – auch örtlich – außerhalb ihres Einwirkungsbereichs liegen. 

Kritisch zu sehen an der Entscheidung des LAG ist ferner der Wertungswiderspruch zu § 7 S. 2 BetrVG, wonach die Wahlberechtigung im Fall der Arbeitnehmerüberlassung erst nach drei Monaten entsteht. Es ist nicht überzeugend, wenn die Wahlberechtigung bei Matrixmanagern, die letztlich weniger stark in die Betriebsabläufe eingegliedert sind und in der Regel nicht vor Ort tätig sind, früher beginnen soll, zumal die meisten Matrixmanager wechselnde Teams führen. 

Unklar ist schließlich, wie sich die Rechtsprechung auf die Wählbarkeit eines Matrixmanagers in den Betriebsrat als Kehrseite des Wahlrechts auswirkt (§ 8 BetrVG). Da Matrixmanager nach dem BAG in mehreren Betrieben eingegliedert sein können, wäre folgerichtig, dass sie auch in mehreren Betrieben in den Betriebsrat gewählt werden könnten – eine mögliche Konsequenz der BAG-Rechtsprechung. 

Die Rechtsbeschwerde zum BAG ist zugelassen worden und unter dem Aktenzeichen 7 ABR 7/24 anhängig, doch vor dem Hintergrund der o.g. BAG-Entscheidung ist nicht zu erwarten, dass die gesetzten rechtlichen Maßstäbe durch das BAG gekippt werden. 

Folgen wohl auch für nationale Konzerne

Auch wenn sich die Entscheidung des LAG auf eine unternehmensinterne Matrixstruktur bezog, dürften die angewendeten Maßstäbe auch auf unternehmensübergreifende Matrixstrukturen, z.B. in einem Konzern, übertragbar sein. Für solche Unternehmen und Konzerne bedeutet die Entscheidung, dass die Tätigkeit eines jeden Matrixmanagers anhand des Aufgabenprofils insbesondere danach zu bewerten ist, 

  • ob die Tätigkeit den Zweck eines anderen Betriebs hinreichend fördert und 
  • der Matrixmanager zumindest fachliche Weisungsbefugnisse auf dortige Arbeitnehmer ausübt,
  • ohne dass es dabei zwingend auf disziplinarische Befugnisse oder eine Tätigkeit vor Ort ankäme. 
Auswirkungen auf internationale Konzerne unklar

Darüber hinaus stellt sich noch die Frage, ob die Maßstäbe für die Eingliederung von Matrixmanagern auch auf internationale Konzerne, insbesondere auf im Ausland tätige Matrixmanager anwendbar sind. 

Die Entscheidungen des BAG und des LAG Hessen lassen keine Einschränkungen auf im Inland tätige Matrixmanager erkennen. Dies zugrunde gelegt, könnten unter den o.g. Voraussetzungen auch im Ausland tätige, bei einer ausländischen Gesellschaft angestellte Matrixmanager in inländischen Betrieben eingliedert und mithin wahlberechtigt und ggf. sogar in den Betriebsrat wählbar sein. Das stünde möglicherweise aber der BAG-Rechtsprechung zur Ausstrahlung des BetrVG auf im Ausland tätige Arbeitnehmer entgegen (vgl. insb. BAG, Urteil v. 24. Mai 2018 – 2 AZR 55/18), sodass unklar bleibt, welche rechtlichen Maßstäbe hier anzuwenden sind.

Abschließend: Welche Handlungspflichten bestehen?

In Bezug auf das Wahlrecht der Matrixmanager dürften die Konsequenzen überschaubar sein. Selbst, wenn Matrixmanagern fälschlicher Weise nicht in die Wählerliste aufgenommen würden, würde daraus nicht zwingend die Unwirksamkeit einer Betriebsratswahl folgen: 

Zum einen dürfte eine solche Wahl nur anfechtbar sein, was innerhalb von zwei Wochen geschehen muss, vgl. § 19 Abs. 2 S. 2 BetrVG

Zum anderen müsste der Fehler sich auch auf die Wahl auswirken, d.h. die Möglichkeit eines anderen Wahlergebnisses gegeben sein. Das ist der Fall, wenn es nach allgemeiner Lebenserfahrung und den Umständen des Einzelfalls nicht gänzlich unwahrscheinlich ist, dass das festgestellte Wahlergebnis durch den Fehler der Wählerliste beeinflusst oder geändert worden wäre. 

Wurden z.B. irrtümlich leitende Angestellte auf eine Wählerliste gesetzt, kommt eine Wahlanfechtung nicht in Betracht, wenn die leitenden Angestellten nicht oder nur in so geringem Umfang an der Wahl teilgenommen haben, dass das Ergebnis der Wahl von ihrer Beteiligung mit Sicherheit nicht beeinflusst werden konnte (vgl. Besgen, in: BeckOK ArbR, § 19 BetrVG Rn. 12). Das könnte auf den hiesigen Fall übertragbar sein.

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UPC: Abseitserkennung darf genutzt werden – EM nicht gefährdet

Fr, 12.07.2024 - 13:04

Der „Video Assisted Referee“ (VAR) wird gerade während der Fußball EM heiß diskutiert. Doch auch jenseits des Fußballplatzes sorgt das Thema für (rechtlichen) Zündstoff. So hatte die Ballinno B.V. (ein niederländischer Patentverwerter) einen Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen i.S.d. Art. 32 Abs. 1 lit. c) Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) u.a. gegen die UEFA am 18. April 2024 bei der Lokalkammer Hamburg des Einheitlichen Patentgerichts (Unified Patent Court, UPC) anhängig gemacht.

Der Antrag hat die unbefugte Nutzung des durch das europäische Patent EP 1 944 067 B1 (EP‘067) geschützten Gegenstands u.a. durch die UEFA zum Gegenstand. Anspruch 1 des EP‘067 schützt ein Verfahren zur Erkennung eines Ballkontakts durch Erfassen eines (beim Schuss) vom Ball erzeugten Schallsignals. Das Schallsignal wird mit einem vorgegebenen Signal verglichen. Sofern eine Übereinstimmung festgestellt wird, wird dem Schiedsrichter ein Erkennungssignal übermittelt. Die Erfindung dient der verbesserten Erkennung einer Abseitssituation. Aufgrund dessen kann sie als Erweiterung des VAR angesehen werden.

Die Lokalkammer Hamburg den Antrag zurückgewiesen. Die Abseitserkennung kann und konnte daher während der EM regulär genutzt werden.

Fehlende Dringlichkeit

Im Wesentlichen lässt es die Lokalkammer an der fehlenden Dringlichkeit scheitern. Bereits nach dem eigenen Vortrag der Antragstellerin hatte ihre Rechtsvorgängerin Kenntnis der von Kinexon (dem Technologiepartner der UEFA hinsichtlich der „Connected Ball Technology“) angebotenen „Connected Ball Technology“ seit September 2023. Diese Kenntnis sei der Antragstellerin zuzurechnen. Auf Grundlage dessen hatte die Rechtsvorgängerin der Antragstellerin bereits am 19. Oktober 2023 eine Abmahnung an Kinexon ausgesandt. Mitte November 2023 lehnte Kinexon Lizenzverhandlungen mit der Rechtsvorgängerin der Antragstellerin ab. Nach der Lokalkammer Hamburg stand daher bereits im November 2023, zwei Monate nach Kenntnisnahme der möglichen Verletzung, fest, dass eine gütliche Beilegung der Angelegenheit nicht in Betracht kommt.

Ferner führte die Antragstellerin aus, dass ihre Rechtsvorgängerin am 4. Dezember 2023 die Ankündigung der UEFA erlangt habe, nach der Kinexons „Connected Ball Technology“ während der EM 2024 zur Anwendung kommen solle, zur Kenntnis nahm, ebenso wie die Bestätigung seitens Kinexon.

Erst im Februar 2024 hat die Antragstellerin ein YouTube-Video zur „Connected Ball Technology“ analysiert, das die vermeintlich verletzende Ausführungsform zeigt. Dieses Video war bereits seit dem 30. November 2022 öffentlich abrufbar. Auch die Hinzuziehung eines Sachverständigen seitens der Antragstellerin im März 2024 und die Einreichung des Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen beim UPC unmittelbar nach Erstattung des Sachverständigengutachtens lässt nach der Ansicht der Lokalkammer Hamburg die Dringlichkeit nicht wiederaufleben. Es sei hier eine Gesamtbetrachtung des Verhaltens der Antragstellerin vorzunehmen, das insgesamt dringlichkeitsschädlich gewesen sei.

Aus der Entscheidung der Lokalkammer Hamburg folgt für die Dringlichkeit: Sobald ein Patentinhaber Kenntnis von der angeblichen Patentverletzung hat, muss er dieser nachgehen, die erforderlichen Maßnahmen zur Klärung ergreifen und die erforderlichen Unterlagen beschaffen. Erfolgen auf Seiten des Patentinhabers für einen längeren Zeitraum (hier fast drei Monate) keine nennenswerten Anstrengungen zur Klärung der möglichen Patentverletzung, so ist davon auszugehen, dass der Patentinhaber die Sache nicht mit der erforderlichen Dringlichkeit behandelt hat.

Fehlende hinreichende Überzeugung von einer Patentverletzung

Zudem ist die Lokalkammer Hamburg nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugt, dass das Klagepatent durch die Antragsgegner verletzt wird. Nach vorläufiger Einschätzung seien die Ansprüche 1 und 8 des Klagepatents weder unmittelbar noch mittelbar verletzt. Bzgl. einer äquivalenten Patentverletzung fehle es bereits an substantiiertem Vortrag der Antragstellerin. Diesbezüglich schließt sich die Lokalkammer Hamburg ausdrücklich der maßgeblichen ersten Entscheidung des Berufungsgerichts an, nach der es nicht nur hinreichend wahrscheinlich sein muss, dass der Antragsteller dazu befugt ist, den Verfügungsantrag zu stellen, sondern auch, dass das Klagepatent bereits verletzt wurde oder eine Verletzung erstmalig droht.

Keine Ausführungen zum Rechtsbestand und zur Haftung der UEFA für eine mögliche mittelbare Patentverletzung

Da bereits die Dringlichkeit nicht gegeben war und eine Patentverletzung nicht hinreichend wahrscheinlich ist, konnte die Lokalkammer Hamburg offen lassen, ob es das Klagepatent als wahrscheinlich rechtsbeständig ansieht. Dasselbe gilt für eine mögliche Haftung der UEFA als mittelbare Patentverletzerin. Eine Abwägung der jeweiligen Interessen der Parteien und eine Bewertung der Interessenabwägung war daher nach Ansicht der Lokalkammer Hamburg im vorliegenden Fall nicht erforderlich.

EM kann wie geplant stattfinden; sonstige wichtige Erkenntnisse aus der Entscheidung

Aufgrund der Entscheidung der Lokalkammer Hamburg konnte und kann die „Connected Ball Technology“ während der EM wie geplant zum Einsatz kommen und strittige Abseitsszenen entschärfen.

Patentinhaber sind (auch) vor dem UPC gehalten, die Sachverhaltsaufklärung zügig zu betreiben, sofern sie einen Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen stellen möchten. Zudem ist die hinreichende Dokumentation des Verletzungsvorwurfs erforderlich, die es dem UPC ermöglicht, auch im summarischen Verfügungsverfahren eine Prognose hinsichtlich der Patentverletzung anzustellen.

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Ab wann die KI-VO gilt

Fr, 12.07.2024 - 08:53

Nach der Verabschiedung der „Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz“ (KI-VO) durch das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union wurde diese am 12. Juli 2024 im Amtsblatt der europäischen Union veröffentlicht. Damit ist ein langer Weg mit zähen Verhandlungen abgeschlossen, der 2021 mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine unionsweite Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI) begann.

Die KI-VO wird am 20. Tag nach der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten. Als europäische Verordnung wird sie zwar unmittelbar in allen 27 Mitgliedstaaten gelten, für den Geltungsbeginn sieht die KI-VO aber ein abgestuftes und nicht leicht zu durchdringendes System von Übergangsfristen und Ausnahmeregeln vor. Mit diesem Blog-Beitrag geben wir einen Überblick über die wichtigsten Fristen, die nun gelten.

Ausgangspunkt: Geltung nach 24 Monaten

Der Großteil der Bestimmungen der KI-VO wird erst nach einer 24-monatigen Übergangsfrist und damit ab dem 2. August 2026 (Allgemeiner Anwendbarkeit) anwendbar sein. Innerhalb dieses Zeitraums werden die zahlreichen Begleitmaßnahmen wie delegierte Rechtsakte, Leitlinien und Standards veröffentlicht und die europäische KI-Governance-Struktur aufgebaut, um eine einheitliche, rechtssichere und koordinierte Umsetzung und Durchsetzung der KI-VO zu gewährleisten.

Verkürze Übergangsfrist von 6 Monaten für die verbotenen Praktiken

Die KI-VO zeichnet sich durch einen risikobasierten und abgestuften regulatorischen Ansatz aus, der auch in der Ausgestaltung der Übergangsfristen zum Ausdruck kommt. Vereinfacht kann gesagt werden, dass die Bestimmungen der KI-VO umso früher Anwendung finden, je höher das Risiko ist, das von der jeweiligen Kategorie der KI ausgeht.

Aus diesem Grund finden die Bestimmungen über die verbotenen Praktiken im KI-Bereich (Art. 5 KI-VO) bereits ab dem 2. Februar 2025, d.h. 6 Monate nach Inkrafttreten Anwendung (Art. 113 S. 2 lit. a) KI-VO).

Zu diesen verbotenen Praktiken zählen KI-Systeme, die der Emotionserkennung am Arbeitsplatz und in Schulen, dem Social Scoring, teilweise auch Predictive Policing, der Manipulation menschlichen Verhaltens oder dem Ausnutzen menschlicher Schwachstellen dienen, sowie KI-Systeme, die auf sensiblen Merkmalen basierende biometrische Kategorisierungssysteme, das ungezielte Gesichtsbilder-Scraping im Internet sowie sog. Closed-Circuit Television-Aufnahmen mit dem Ziel der strategischen Erstellung einer Gesichtserkennungsdatenbank vornehmen.

Verkürze Übergangsfrist von 12 Monaten für KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck, Governance und Sanktionen

Bereits ab dem 2. August 2025, d.h. 12 Monate nach Inkrafttreten, finden die nachfolgenden Kapitel bzw. Art. der KI-VO Anwendung (Art. 113 S. 2 lit. b) KI-VO):

  • Kapitel III Abschnitt 4 (Notifizierende Behörden und notifizierende Stellen)
  • Kapitel V (KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck)
  • Kapitel VII (Governance)
  • Kapitel XII (Sanktionen) mit Ausnahme von Art. 101
  • Art. 78 (Vertraulichkeit)

Für Unternehmen besonders relevant ist hier die Vorverlagerung der in Kapitel V geregelten Pflichten der Anbieter* von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck. Dabei ist zu beachten, dass ein Verstoß gegen diese Pflichten aufgrund des Ausschlusses des Art. 101 KI-VO von der Vorverlagerung erst ab dem Zeitpunkt der allgemeinen Anwendbarkeit sanktioniert bzw. bußgeldbewehrt ist.

Verlängerte Übergangsfrist von 36 Monate für bestimmte Hochrisiko-KI-Systeme

Als letzte Ausnahme vom allgemeinen Geltungsbeginn sieht Art. 113 S. 2 lit. c) KI-VO vor, dass die Regelungen für bestimmte Hochrisiko-KI-Systeme im Sinne des Art. 6 Abs. 1 KI-VO ab dem 2. August 2027, d.h. 36 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO gelten. Bei diesen KI-Systemen handelt es sich um solche, die ein von den in Anhang I der KI-VO genannten Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union erfasstes Produkt oder ein Sicherheitsbauteil eines solchen Produkts sind und die darüber hinaus vor dem Inverkehrbringen einem Konformitätsbewertungsverfahren durch Dritte unterzogen werden.

Sonderregeln für bereits in Verkehr gebrachte KI

Darüber hinaus im sind im Zusammenhang mit den Übergangsfristen die in der KI-VO vorgesehenen Bestandsschutzregelungen für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der KI-VO bereits in Verkehr gebrachte KI-Systeme und KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck zu beachten.

Leider hat es der europäische Gesetzgeber versäumt, die Bestandsschutzregeln in Art. 111 KI-VO klar zu formulieren, sodass derzeit eine gewisse Rechtsunsicherheit besteht. Es kann zwar erwartet werden, dass die Europäische Kommission hier in den nächsten Monaten mit Leitlinien nachsteuert. Derzeit sollten aber die Bestimmungen des Art. 111 KI-VO restriktiv ausgelegt werden.

Bestandsschutz für KI-Systeme als Bestandteil bestimmter IT-Großsysteme

Am eindeutigsten ist noch die erste Bestandsschutzregelung des Art. 111 Abs. 1 KI-VO formuliert. Demnach müssen KI-Systeme, die Bestandteile bestimmter durch EU-Recht geschaffener IT-Großsysteme in den Bereichen Freiheit, Sicherheit und Recht sind und vor dem 2. August 2027, d.h. 36 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO, in der EU in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, erst bis zum 31. Dezember 2030 den Bestimmungen der KI-VO entsprechen. Ein Beispiel für ein solches IT-Großsystem ist etwa das Schengener Informationssystem.

Bestandsschutz für Betreiber von Hochrisiko-KI-Systemen

Von zentraler praktischer Bedeutung ist die Bestandschutzregel des Art. 111 Abs. 2 KI-VO, welche Sonderregeln für Betreiber von Hochrisiko-KI-Systemen aufstellt. Im Grundsatz findet die KI-VO auf Betreiber von Hochrisiko-KI-Systemen, die vor dem 2. August 2025 in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen wurden, keine Anwendung.

Dieser Bestandsschutz gilt aber nicht, wenn die Hochrisiko-KI-Systeme „in ihrer Konzeption erheblich verändert wurden″. Mit dieser Begrifflichkeit dürfte der in Art. 25 KI-VO in Zusammenhang mit Hochrisiko-KI-Systemen angeführte Begriff der „wesentlichen Veränderung″ dieser Systeme gemeint sein. Derzeit ist jedoch unklar, wann dies der Fall ist, zumal es in der KI-VO keine Legaldefinition der Begriffe gibt. Die KI-VO sieht aber in Art. 96 Abs. 1 lit. c) KI-VO ausdrücklich vor, dass die EU-Kommission Leitlinien zur praktischen Durchführung der Bestimmungen über wesentliche Veränderungen erlassen kann.

Bestandschutz für Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck

Nicht eindeutig formuliert ist die Bestandsschutzregelung des Art. 111 Abs. 3 KI-VO. Danach müssen Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck, die vor dem 2. August 2025 (d.h. 12 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO) in Verkehr gebracht wurden, bis zum 2. August 2027 (d.h. 36 Monate nach Inkrafttreten der KI-VO), „die erforderlichen Maßnahmen″ treffen, um die in der KI-VO festgelegten Verpflichtungen zu erfüllen.

Zunächst ist festzuhalten, dass diese Regelung keinen Bestandsschutz gewährt, sondern vielmehr eine Verschiebung bestimmter Fristen für die Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck darstellt. Systematisch hätte Art. 111 Abs. 3 KI-VO daher besser zu den eigentlich abschließend in Art. 113 KI-VO geregelten Bestimmungen über den Beginn der Anwendung gepasst. Zudem ist unklar, auf welche Pflichten sich Art. 113 Abs. 3 KI-VO bezieht. Vom bloßen Wortlaut her könnte die Bestimmung so verstanden werden, dass für die Anbieter erst ab dem genannten Zeitpunkt sämtliche Pflichten der KI-VO gelten. Nach Sinn und Zweck dürften damit aber nur die Anbieterpflichten aus Kapitel 5 Abschnitt 2 und 3 KI-VO gemeint sein.

Fristen spiegeln risikobasierten Ansatz wider

Die KI-VO erhält ein komplexes System von Fristen und Übergangsregelungen. Dieses ist im Wesentlichen Ausdruck des risikobasierten Ansatzes, der die KI-VO durchzieht. Hinsichtlich der Bestandsschutzregelungen besteht derzeit zum Teil noch erhebliche Rechtsunsicherheit. Insofern bleibt zu hoffen, dass die Europäische Kommission zeitnah entsprechende Leitlinien erlässt, um mehr Klarheit zu schaffen.

Vereinfach kann diese Fristensystem wie folgt dargestellt werden:

Haben Sie Anregungen zu weiteren Themen rund um KI, die in unserer Blog-Serie „Künstliche Intelligenz“ nicht fehlen sollten? Schreiben Sie uns gerne über blog@cms-hs.com.

Unseren englischsprachigen Ausblick auf die KI-VO finden Sie hier: Looking ahead to the EU AI Act (cms.law).

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Interne Untersuchungen – Wieso, weshalb, warum?

Do, 11.07.2024 - 12:33

Die interne Untersuchung (abgeleitet vom dem aus dem US-amerikanischen stammenden Begriff der „Internal Investigation“) ist als wesentliches Aufklärungsinstrument ein wichtiger, mittlerweile fest etablierter Baustein im Compliance Management System – aus guten Gründen. Mit dem Hinweisgeberschutzgesetz und dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hat die sachgemäße Aufklärung erneut an Bedeutung gewonnen. Die interne Untersuchung birgt rechtliche Stolpersteine an den zahlreichen Schnittstellen insbesondere zum Datenschutz-, Arbeits- und Strafrecht. Für Unternehmen bieten sich aber auch erhebliche Chancen. 

Compliance braucht ein angemessenes Compliance Management System 

Im deutschen Recht ist die Grundlage für interne Untersuchungen die Legalitätspflicht der Geschäftsleitung und des Unternehmens. Die Geschäftsleitung ist aufgrund ihrer Organstellung dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass keine Rechtsverletzungen im oder aus dem Unternehmen heraus begangen werden. 

Um die Compliance des Unternehmens zu gewährleisten, müssen angemessene organisatorische Vorkehrungen zur systematischen Vermeidung von Fehlverhalten und Gesetzesverstößen durch Mitarbeiter* getroffen werden. Ein effektives Compliance Management System orientiert sich an der Größe, Struktur und Risikogeneigtheit des jeweiligen Unternehmens. Im Einzelnen haben sich Vorkehrungen bewährt – und bilden heute einen Marktstandard – die folgende Elemente enthalten: Vorbeugen (Prevent), Aufdecken (Detect), Reagieren (Respond) und Verbessern (Improve). 

Gelangen einem Unternehmen Hinweise zur Kenntnis, die auf rechtswidriges Verhalten von Unternehmensangehörigen hindeuten (Verdachtsfall), ist die Unternehmensleitung in aller Regel verpflichtet, angemessene Maßnahmen zur Aufklärung einzuleiten und eine interne Untersuchung zu veranlassen, um ihre Aufsichtspflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Anhaltendes Fehlverhalten ist unmittelbar abzustellen und festgestelltes Fehlverhalten ist angemessen zu sanktionieren (sog. Pflichtentrias). 

Die interne Untersuchung klärt etwaige Verdachtsfälle auf

Das wichtigste und wirkungsvollste Instrument zur Aufklärung Compliance-relevanter hinreichender Verdachtsmomente ist die anlassbezogene interne Untersuchung. 

Oft liefert ein interner Hinweis den Anstoß für eine interne Untersuchung, aber auch regelmäßige Überprüfungen können der erste Schritt sein. Die interne Untersuchung umfasst alle strukturierten Maßnahmen eines Unternehmens zur ergebnisoffenen Aufklärung eines Verdachtsmoments im Einzelfall, der auf in oder aus dem Unternehmen heraus begangene Gesetzesverstöße oder Straftaten hindeutet. 

Somit dient eine interne Untersuchung auch dem tatsächlichen Nachweis etwaigen Fehlverhaltens. Damit stellt sie die informationelle Grundlage für sachgerechte Entscheidungen über Reaktionsmaßnahmen dar. Solche Maßnahmen können sein:

  • die Geltendmachung von zivil-, arbeits-, versicherungsrechtlichen Ansprüchen,
  • die Abwehr von straf- bzw. ordnungsrechtlichen Sanktionen, oder jedenfalls die Minimierung der Haftung von Unternehmen und Unternehmensleitung sowie die Eindämmung potentiell reputationsschädigender staatlicher Ermittlungsmaßnahmen, 
  • Maßnahmen zur Verbesserung des Compliance Management Systems. 
Gesetzliche Vorgaben fehlen

Die Zulässigkeit von internen Untersuchungen ist allgemein anerkannt. Die rechtliche Grundlage für die Untersuchungen ist die im deutschen Gesellschaftsrecht verankerte Legalitätspflicht des Unternehmens und der Geschäftsleitung (§ 91 Abs. 2 AktG oder §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG und § 43 Abs. 1 GmbHG). Im Hinblick auf das „Ob“ der Aufklärung kommt der Geschäftsleitung grundsätzlich kein Ermessen zu (Ausnahmen sind möglich, sofern ein Fortdauern des Rechtsverstoßes oder eine künftige Wiederholung auch ohne interne Untersuchung mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann).

Allerdings ist der Ablauf einer internen Untersuchung gesetzlich nicht festgelegt. So steht das „Wie“ der internen Untersuchung im Ermessen der Geschäftsleitung. Die Wahl der Aufklärungsmethode und der Untersuchungsmaßnahmen begründet eine unternehmerische Entscheidung, die in den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule fällt (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG). 

Die interne Untersuchung kann losgelöst von, vor oder parallel zu behördlichen Ermittlungsverfahren durchgeführt werden. 

Die interne Untersuchung besteht abhängig vom Einzelfall aus verschiedenen Phasen. Mittlerweile haben sich Best Practices entwickelt. Anerkannte Aufklärungshandlungen sind die umfassende Auswertung von Daten und Dokumenten, die Befragung in Form von Interviews und die Durchführung von Hintergrundrecherchen. Bedeutsam ist dabei eine ordnungsgemäße Dokumentation auch für eine spätere gerichtsfeste Verwertung. 

Die interne Untersuchung birgt rechtliche Stolpersteine …

Die Legalitätspflicht gilt auch für die interne Untersuchung selbst, welche selbst Compliance-Maßnahme ist und nicht zu non-compliance führen darf. Bei der Durchführung der internen Untersuchung sind die gesetzlichen Grenzen stets zu beachten. Insbesondere das Datenschutz- und das Arbeitsrecht sind hier hervorzuheben, da sie einige Fallstricke bei der Durchführung interner Untersuchungen bieten. Unternehmen haben keine hoheitlichen Ermittlungsbefugnisse und Verstöße gegen einschlägige gesetzliche Vorgaben können zu individueller Strafbarkeit, Bußgeldern und Reputationsschäden führen.

Eine gute Vorbereitung und Planung der internen Untersuchung, sowie die Unabhängigkeit der ermittelnden Personen sind deshalb essenziell. So sind regelmäßig strukturelle Vorarbeiten auf Seiten des Unternehmens erforderlich. Aufgrund der Komplexität oder aufgrund von (potentiellen) Interessenkonflikten werden häufig externe Rechtsanwälte mit der Durchführung einer internen Untersuchung beauftragt. Sie können die Rechtmäßigkeit der Untersuchung gewährleisten und die Befunde für das Unternehmen unmittelbar rechtlich einordnen. 

… und bietet maßgebliche Chancen

Ein wesentlicher Vorteil ist die Möglichkeit durch etwaig aufgedeckte Defizite das interne Compliance Management System des Unternehmens systematisch verbessern zu können. Das führt oftmals zur Abwendung größerer Schäden. 

Die interne Untersuchung und der unternehmensinterne Umgang mit ihrem Ergebnis ist darüber hinaus wesentlich für die Festigung einer positiven Compliance-Kultur im Unternehmen, in der Speak-up gefördert und gutgläubig abgegebene Hinweise ernst genommen werden sowie festgestelltes Fehlverhalten abgestellt und angemessen sanktioniert wird. Dies trägt wesentlich zum langfristigen Unternehmenserfolg bei.

Ein weiterer großer Vorteil interner Untersuchungen besteht in der Aussicht auf eine Honorierung durch Aufsichts- und Ermittlungsbehörden. Durch die interne Untersuchung gewonnene entlastende Informationen kann das Unternehmen zu seinen Gunsten anführen. Aber auch belastende Informationen können die Basis für eine Kooperation mit den Aufsichts- oder Ermittlungsbehörden bilden. Der Informationsaustausch kann den Weg bereiten für die Einstellung eines laufenden Ermittlungsverfahrens, für den Abschluss einer Vergleichsvereinbarung oder zumindest für maßvolle Ermittlungsmaßnahmen. So hat der Bundestagsausschuss für Wirtschaft und Technologie bereits im Jahr 2012 in Bezug auf die Sanktionsnorm § 30 OWiG vertreten, ein effektives Compliance Management könne bußgeldmildernd zu berücksichtigen sein (BT-Drucks. 17/11053, S. 21). 

Der BGH hat dies wiederholt bestätigt (BGH, Urteil v. 27. April 2022 – 5 StR 278/21; BGH, Urteil v. 9. Mai 2017 – 1 StR 265/16). Schließlich bildet das Nachtatverhalten eine wesentliche Säule in der Bemessung von Strafen und Geldbußen.

Strafanzeige 

Grundsätzlich sind Unternehmen gesetzlich nicht verpflichtet, Fehlverhalten von Mitarbeitern oder Organmitgliedern oder ein ihnen straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlich zuzurechnendes Fehlverhalten bei der Strafverfolgungsbehörde anzuzeigen (mit Ausnahme weniger gesetzlicher Regelungen). 

Zu beachten ist jedoch, dass es aufgrund einer sorgfältigen Abwägung im Einzelfall im Interesse des Unternehmens sein kann, den Sachverhalt gegenüber den staatlichen Ermittlungsbehörden anzuzeigen. 

Davon zu unterscheiden sind Offenlegungspflichten und -obliegenheiten des Unternehmens gegenüber Fachbehörden oder Geschäftspartnern. Besonders hervorzuheben ist etwa die Berichtigungspflicht einer abgegebenen Steuererklärung (§ 153 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO).

Fazit: Interne Untersuchungen als Teil der Compliance

Die interne Untersuchung spielt eine wichtige Rolle im unternehmensinternen Compliance Management System und erfüllt eine präventive als auch eine repressive Funktion. So bleibt festzuhalten – Compliance lohnt sich! 

In den nächsten Wochen folgen vertiefende Beiträge zum detaillierten Ablauf der Untersuchungen, Interviews, Arbeitsrecht, Datenschutz, Amnestie, der Bedeutung von ESG und vielem mehr. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Kein Widerrufsrecht bei vollständiger Erfüllung des Darlehensvertrags

Mi, 10.07.2024 - 09:55

Die Thematik des Widerrufsrechts bei Verbraucherkreditverträgen hat inzwischen in der europäischen und nationalen Rechtsprechung eine regelrechte Flut an Entscheidungen zutage gefördert. Eine entscheidende Wende in der Betrachtung des Widerrufsrechts brachte das Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2023 (Rechtssache C-38/21, C-47/21 und C-232/21) in den Fällen gegen die BMW Bank u.a. Dieses Urteil hat weitreichende Implikationen für Darlehensnehmer* und -geber innerhalb der Europäischen Union geschaffen.

Grundsätzlich besteht bei Verbraucherkreditverträge ein Widerrufsrecht

Gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge steht Verbrauchern grundsätzlich das Recht zu, innerhalb von 14 Tagen nach Vertragsabschluss den Kreditvertrag ohne Angabe von Gründen zu widerrufen. Dieses Widerrufsrecht soll Verbrauchern die Möglichkeit geben, die finanziellen Verpflichtungen eines Kreditvertrags zu überdenken und gegebenenfalls ohne Sanktionen von diesem zurückzutreten.

In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass dieses Widerrufsrecht häufig missbraucht wird und es bei seiner Anwendung zahlreiche komplexe Fragestellungen gibt, insbesondere im Zusammenhang mit der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags.

Die Rolle des Widerrufsrechts bei vollständiger Erfüllung

Eine zentrale Frage, die sich in der Praxis häufig stellt, ist, ob ein Darlehensnehmer auch nach der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags, d.h. nach Rückzahlung aller geschuldeten Beträge, noch ein Widerrufsrecht hat.

In den dem Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegenden Verfahren hatten mehrere Darlehensnehmer ihre Verträge mit ihrer Bank widerrufen, nachdem sie diese bereits vollständig erfüllt hatten. Die Bank lehnte den Widerruf ab und argumentierte, dass nach der vollständigen Erfüllung des Vertrags kein Widerrufsrecht mehr bestehe. Die Darlehensnehmer beriefen sich jedoch darauf, dass die Widerrufsbelehrungen fehlerhaft gewesen seien, und forderten die Rückabwicklung des Vertrags und eine Rückerstattung der gezahlten Beträge.

EuGH: Zweck des Widerrufsrechts wird bei vollständiger Erfüllung des Darlehensvertrags obsolet

In seinem Urteil stellte der EuGH klar, dass das Widerrufsrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/48/EG nach der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags nicht mehr ausgeübt werden kann. Der EuGH stellte fest, dass der Zweck des Widerrufsrechts, dem Verbraucher eine nachträgliche Überprüfung seiner Entscheidung zu ermöglichen, mit der vollständigen Erfüllung des Darlehensvertrags obsolet wird. Ab dem Zeitpunkt, an dem der Darlehensnehmer seine vertraglichen Verpflichtungen vollständig erfüllt hat, besteht für ihn keine Notwendigkeit mehr, den Vertrag zu widerrufen, da er bereits alle Zahlungen geleistet hat und somit die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers entfallen ist.

Diese Entscheidung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH, der ebenfalls klargestellt hat, dass nach der vollständigen Erfüllung eines Darlehensvertrags kein Widerrufsrecht mehr besteht. Der BGH führte aus, dass mit der Erfüllung des Vertrags alle Ansprüche aus dem Vertragsverhältnis erledigt sind und der Vertrag damit „abgewickelt“ ist. Ein Widerruf sei daher weder möglich noch sinnvoll, da das Widerrufsrecht darauf abzielt, den Vertrag rückabzuwickeln und den Verbraucher in die Lage zu versetzen, die vertraglich erbrachten Leistungen zurückzufordern.

Widerrufsbelehrungen sollten weiterhin klar, vollständig und gesetzeskonform verfasst werden

Die Entscheidungen schaffen erneut Klarheit über den Umfang des Widerrufsrechts und beenden die Unsicherheit darüber, ob und in welchem Umfang ein Darlehensnehmer nach vollständiger Erfüllung des Vertrags noch Rechte geltend machen kann.

Banken und andere Kreditinstitute müssen daher sicherstellen, dass die Widerrufsbelehrungen klar, vollständig und gesetzeskonform sind, um spätere Streitigkeiten zu vermeiden. Insbesondere müssen sie darauf achten, dass alle erforderlichen Pflichtangaben gemäß den Bestimmungen der Richtlinie 2008/48/EG enthalten sind, um die ordnungsgemäße Belehrung des Verbrauchers sicherzustellen.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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