Jugendliche, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufgewachsen sind, erhalten an der Schwelle zu einem selbstbestimmten Erwachsenenleben häufig keine angemessene Unterstützung, erfahren gesellschaftliche Stigmatisierung und einen würdelosen Umgang durch die Behörden, stellten Betroffene und Expertinnen in einem Fachgespräch der Kinderkommission am Mittwoch, 3. Dezember 2025, fest. Passgenaue Hilfsangebote gefordert Um die Jugendhilfe zu einem lebenswerten und stärker an der Realität orientierten System zu machen, müssten passgenauere Hilfsangebote, eine bessere Finanzierung und Unterstützung von Fachkräften in einer gesetzlichen Neufassung der Jugendhilfe ebenso verankert werden wie ein eigener rechtlicher Staus von „Careleavern“, waren sich die Sachverständigen in der Sitzung unter der Überschrift „Blinde Flecken (1. Teil) – Careleaver – Volljährig, aber nicht bereit? Jugendliche aus Pflegefamilien und Heimen am Übergang in die Selbstständigkeit“ einig. Außerdem wünschten die Sachverständigen mehr Unterstützung für die Selbstvertretung der Betroffenen und mahnten, die Umsetzung der bereits geltenden gesetzlichen Vorgaben durch Ämter und Trägerorganisationen in den Kommunen sicherzustellen. Erfolgreiche Careleaver sollten öffentlich über ihre Geschichte sprechen, um als Vorbilder Betroffenen Hoffnung zu geben. "Unabhängige Ombudsstellen ausbauen" Von Careleavern, also Schutzbefohlenen, die in einer Einrichtung der Jugendhilfe oder bei Pflegeeltern aufgewachsen sind, werde, trotz ihrer schwierigeren Startbedingungen, früher Selbstständigkeit erwartet als bei Jugendlichen im Durchschnitt üblich, nämlich bereits im Alter zwischen 18 und 21, statt mit 24, sagte Laura Monath vom Verein Careleaver e.V., in dem sich Menschen zusammengeschlossen haben, die in stationärer Jugendhilfe, in Wohngruppen oder Pflegefamilien, aufgewachsen sind. Um jugendliche Careleaver über ihre Rechte aufzuklären und ihre Interessen gegenüber dem Jugendamt wahrzunehmen, gelte es unabhängige Ombudsleute, als Beratungs- und Beschwerdestellen, an die sich junge Menschen in der Jugendhilfe wenden können, auszubauen. Dabei sei es auch Aufgabe der Jugendämter, die jungen Menschen zu beraten. Fehlende Mitwirkung aufgrund allzu hoher bürokratischer Hürden dürfe nicht als Vorwurf für die Einstellung der Hilfe gelten. Die Hilfsangebote sollten vielmehr aktiv mitgestaltet werden können. Paragraf 41a des Achten Sozialgesetzbuches (SGB 8), der die Nachbetreuung sichern soll, müsse „konsequent angeboten und umgesetzt“ werden, forderte Monath. Verein für eigenen Rechtsstatus der Careleaver Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenleben stelle eine der sensibelsten und prägendsten Phasen des menschlichen Lebens dar, sagte Vicky Ulrich-von der Weth, ebenfalls Careleaver e.V. Immer neue Behördenkontakte bedeuteten dabei für die Jugendlichen eine hohe psychische und bürokratische Belastung, wenn die eigene Geschichte immer wieder vorgetragen werden und die Herkunftsfamilie für Beantragungen immer wieder kontaktiert werden müsse. Viele resignierten daher, versuchten auf eigenen Beinen zu stehen und rutschten in Armut. Ihr Verein kämpfe für einen eigenen Rechtsstatus der Careleaver, was vieles erleichtern würde. Pflegekinder – mit den unterschiedlichsten, individuellen Biografien – würden in ein System geworfen, in dem sie einfach nur versuchten zu überleben. Viel mehr als ihre Gleichaltrigen würden sie mit Existenzängsten aufwachsen. Der Sparzwang der Kommunen werde zudem direkt an sie weitergegeben. Dabei müsse es zur Chancengerechtigkeit gehören, dass Pflegekinder wie andere Jugendliche und junge Erwachsene auch, die Möglichkeit hätten, bis zum Alter von 27 bei Bedarf in die Jugendhilfe zurückzukehren. Es brauche inklusivere, realitätsnähere und niedrigschwelligere Hilfen und mehr Beratungsangebote. Mit der Selbstvertretung hätten sich die Betroffenen eine Community aufgebaut, „wo wir uns wohl fühlen und füreinander da sind“. Die gelte es gesetzlich weiter zu verankern und zu fördern. Konzept der Wohnungsnotfallhilfe Für 18-, 19-, 20-jährige, junge Menschen an der Schnittstelle zum Erwachsenenleben, die aus der Jugendhilfe kommen, habe man das Konzept der Wohnungsnotfallhilfe entwickelt, berichteten Josefine Berning und Josephine Porth von der Sozdia Stiftung Berlin. Sie ziele darauf, die jungen Leute beim Übergang in ein eigenständiges Leben zu unterstützten und biete einen geschützten Rahmen, in dem diese auch noch mal Fehler machen dürften. Problematisch sei, dass die Leistungen der Jugendhilfe häufig ab Vollendung des 21. Lebensjahres nicht mehr gewährt würden, dabei erlaube die gesetzliche Norm Jugendhilfe bis zum 27. Lebensjahr. Eine massive Versorgungslücke tue sich da auf und die jungen Leute würden in instabile Lebensverhältnisse, geprägt von Mittellosigkeit und Obdachlosigkeit, gestürzt, berichtete Berning. Sie fielen aus der Jugendhilfe des SGB 8, müssten theoretisch vom Sozialamt Hilfe erhalten, würden jedoch häufig von einer Behörde zur nächsten geschickt. Man helfe den Jugendlichen angesichts dieser Systemfehler und individueller Überforderung, ihre Rechte durchzusetzen, Zuständigkeiten zu klären, Wohnraum zu finden. Überlasse man die Jugendlichen sich selbst, drohe eine dauerhafte Abhängigkeit von Hilfesystemen. Die Gesellschaft habe dann die Folgekosten zu tragen. Expertin fordert ein "inklusives SGB 8" Welche Bedeutung die physische und psychische Gesundheit für die jungen Careleaver an der Schwelle zur Selbstständigkeit hat, darauf wies Laurette Rasch von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen hin. Unterstützungsinstrumente wie sie etwa mit dem „Netzwerk Frühe Hilfen“ für die Kleinkindphase und das Grundschulalter existierten, müssten für den Bereich des Jugendalters ausgebaut werden. Es gebe viele schreckliche Gründe warum junge Menschen ihre Kindheit in Einrichtungen verbrächten, dazu gehörten auch Gewalt und gesundheitliche Probleme in der Familie, bei den Eltern. Die Jugendlichen trügen diese Belastungen mit sich durch ihr Leben. Man müsse ihnen an der Schwelle zum Erwachsenendasein „mehr Zeit geben, das aufzufangen“, und um das, was im Gesetz steht, auch umzusetzen, statt sie mit 18 vor die Tür zu setzen und sie mit dem Gefühl des Versagens allein zu lassen. Auf gesetzlicher Ebene gehe es darum, „ein inklusives SGB 8“ zu schaffen, das den jungen Leuten bestmögliche Bedingungen des Aufwachsens eröffne, mit „rücksichtsvollen, leicht gemachten“ Angeboten. Daran müssten diese, die die Angebote nutzen und am besten wüssten wie sie funktionieren, auch beteiligt werden, forderte die Sozialwissenschaftlerin. (ll/04.12.2025)
Der Bundestag hat sich am Mittwoch, 3. Dezember 2025 für die Errichtung des Gedenkorts für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges und die Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen ausgesprochen. Für einen entsprechenden Antrag der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD (21/2907) stimmten die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Die AfD enthielt sich mehrheitlich der Stimme, einzelne Abgeordnete der Fraktion lehnten den Antrag ab. Antrag von CDU/CSU und SPD Die Abgeordneten fordern, zeitnah mit der Planungsphase und anschließenden Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus und der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen 1939 bis 1945 in Nachfolge des derzeitigen temporären Denkmals auf dem Gelände der früheren Kroll-Oper in Absprache mit dem Land Berlin zu beginnen. „Grundlage ist ein architektonisch-künstlerischer Wettbewerb, der die Kontextualisierung einbezieht, und die polnischen Expertinnen und Experten angemessen einbindet“, heißt es in dem Antrag. Dieser Ort sei auch der geeignetste Standort für das finale Denkmal, befinden die Fraktionen. Das Gedenken an die polnischen Opfer des Nationalsozialismus und der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen 1939 bis 1945 werde damit prominent im Herzen der Bundeshauptstadt verankert. Um die in Deutschland zu wenig bekannten Auswirkungen der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen 1939 bis 1945 zu verdeutlichen, soll nach den Vorstellungen der Koalitionsfraktionen zur Kontextualisierung und Dokumentation in unmittelbarer Nähe des Denkmals niedrigschwellig informiert und das Gedenken an die polnischen Opfer des Nationalsozialismus vertieft werden. (hau/03.12.2025)
Im Bundestag ist es am Mittwoch, 3. Dezember 2025, in einer Aktuellen Stunde über "linksextreme Gewalt und die Geschehnisse um die Neugründung des AfD-Jugendverbandes in Gießen" zu einer scharfen Kontroverse über die Vorkommnisse vom vergangenen Wochenende in der hessischen Stadt gekommen. In der von der AfD-Fraktion beantragten Debatte beklagte Uwe Schulz (AfD), dass am Samstag "plangemäß gedrillte Lobbygruppen, NGOs und das übliche Demo-Personal in die Stadt" eingefallen seien. Dies sei "Meinungsterror auf Knopfdruck" gewesen. Dieser Samstag sei ein Tag der "linksextremen Machtübernahme in Gießen und der Selbstjustiz" gewesen, fügte Schulz hinzu. Dabei sei es den Einsatzkräften "gerade noch einmal gelungen, das Gewaltmonopol des Staates zu verteidigen". CDU/CSU: Friedlicher Protest von Chaoten überlagert Marc Henrichmann (CDU/CSU) konstatierte, der Protest von 24.000 friedlichen Demonstranten gegen die AfD sei "von 1.000 linksextremistischen Chaoten" überlagert worden, "die offenbar die Stadt in Schutt und Asche legen wollten". Gewalt gegen Polizisten sei "das letzte, was wir brauchen in der Debatte, wenn wir uns gegen den rechten Rand wehren". Zugleich lasse sich sagen, dass "die Extremistenquote auf der Straße zumindest geringer als im Saal" gewesen sei. Grüne: AfD inszeniert sich als Opfer Dr. Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) warf der AfD vor, sich als Opfer zu inszenieren und über "angeblich linksextreme Proteste" zu beklagen. Dabei sei die "überwältigende Mehrheit" der Demonstranten friedlich gewesen. Gewalt bei Demonstrationen sei inakzeptabel, doch sei auch richtig, dass die "Bedrohung für die Demokratie" nicht von den Demonstranten vor der Halle ausgegangen sei, sondern von den in der Halle Versammelten. SPD: Es gibt kein allgemeines Recht auf Widerstand Ingo Vogel (SPD) verwies darauf, dass es unerheblich sei, von welcher Seite Gewalt ausgehe. Das Versammlungsrecht sei "absolut schützenswert", doch müssten Versammlungen friedlich erfolgen. Wer sich daran nicht halte, müsse mit den Konsequenzen des Staates rechnen. "Es gibt kein allgemeines Recht auf Widerstand und schon gar nicht auf Gewalttätigkeit und Unfrieden bei Versammlungen", fügte Vogel hinzu. Linke: Gießen hat geleuchtet Desiree Becker (Die Linke) betonte demgegenüber, Gießen habe "nicht gebrannt, Gießen hat geleuchtet". Sie kritisierte zugleich, dass es "vor der Halle Wasserwerfer, Pfefferspray und Knüppel" gegen diejenigen gegeben habe, die sich dem organisierten Rechtsradikalismus friedlich widersetzten. Die Polizei habe in Gießen an vielen Stellen nicht deeskaliert, sondern sei "sogar in Demonstrierende hineingerannt". (sto/03.12.2025)