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longa consuetudo
Die longa consuetudo (dt. langandauernde Übung/Praxis/Gewohnheit), oftmals auch nur consuetudo, ist gemäß der Zwei-Elementen-Lehre bzw. der dualistischen Theorie des Gewohnheitsrecht neben dem subjektiven Element der opinio iuris (dt.„Überzeugung von der Rechtmäßigkeit“) das notwendige objektive Element für die Entstehung von Gewohnheitsrecht. Seltener wird alternativ der Terminus diuturnus usus (dt. langandauernder Gebrauch) verwendet.
1. Manifestation
Die consuetudo war beireits den Juristen Cicero (106 – 43 v. Chr.), Julian (ca. 115 – 172) und Ulpian (170 – 223) als Bestandteil des Gewohnheitsrechts bekannt. Das Manifestationskriterium war für sie dabei – im Gegenzug zum geschriebenem Recht (lat. ius scriptum) – die mündliche Überlieferung.1 Heute ist vielmehr eine kontinuierliche, einheitliche und nach außen erkennbare Praxis erforderlich.2 Maßgeblich für diese Praxis sind das Verhalten der Staatsorgane, insbesondere des Gesetzgebers und der Gerichte. Bei der Kontinuität kann kein genau definierter Zeitrahmen, d.h. das Linksattribut longa nicht näher bestimmt werden. Das Bundesverwaltungsgericht führte zumindest einmal allgemein aus, dass die Entstehung von Gewohnheitsrecht – insbesondere, wenn es sich gegen ein bestehendes Gesetz richten soll (consuetudo contra legem) – einer erheblichen Zeit bedürfe.3 Die „erhebliche Zeit“ vermag aber nicht die „lange Zeit“ zu konkretisieren. Grundsätzlich wird die notwendige Beständigkeit der consuetudo von der jeweiligen Rechtsmaterie abhängen. Das heißt, dass bei einer neuartigen Rechtsmaterie eine kleinere Übungszeitspanne als bei einer älteren vonnöten sein wird. Hinsichtlich der Einheitlichkeit schaden gelegentliche und unwesentliche Abweichungen nicht, solange der Charakter der langandauernden Übung unverändert bleibt.
2. Beispiele
2.1. Rechtsdefinition des Isidor von Sevilla
Isidor von Sevilla (560 – 636), der wegen seiner umfangreichen Enzyklopädie „Etymologiarum sive originum libri XX“4, in der er das noch um 600 vorhandene Wissen der Antike kompilierte, als „letzter Gelehrter der antiken Welt“5 gilt, sah die consuetudo in seinem Rechtsbegriff als Element des Rechts an.
- Etymologiarum sive originum libri XX, Liber V (De legibus et temporibus), III (Quid differunt inter se ius, leges et mortes.):
„[1] Ius generale nomen est, lex autem iuris est species. Ius autem dictum, quia iustum [est]. Omne autem ius legibus et moribus constat. [2] Lex est constitutio scripta. Mos est vetustate probata consuetudo, sive lex non scripta. Nam lex a legendo vocata, quia scripta est. [3] Mos autem longa consuetudo est de moribus tracta tantundem. Consuetudo autem est ius quoddam moribus institutum, quod pro lege suscipitur, cum deficit lex: nec differt scriptura an ratione consistat, quando et legem ratio commendet. [4] Porro si ratione lex constat, lex erit omne iam quod ratione constiterit, dumtaxat quod religioni congruat, quod disciplinae conveniat, quod saluti proficiat. Vocata autem consuetudo, quia in communi est usu.“ - Übersetzung:6
„[1] Recht ist der allgemeine Begriff, das Gesetz ist eine Art des Rechts. Jedes Recht besteht aus Gesetzen und nicht schriftlichem Recht. Das Recht ist danach benannt, daß es gerecht ist. Alles Recht besteht in Gesetzen oder in [nicht geschriebener] Gewohnheit. [2] Das Gesetz ist eine schriftliche Einrichtung des Rechts. Das Gewohnheitsrecht ist durch das Alter bekräftigte Gewohnheit oder eine nicht geschriebene Rechtsnorm. Denn ‚lex‘, Gesetz, ist nach ‚legere‘, lesen genannt, weil es geschrieben ist. [3] Gewohnheitsrecht (mos maiorum) ist eine langandauernde Gewohnheit, die umfangsgleich aus der Gewohnheit abgeleitet ist. Die Gewohnheit des Rechts (consuetudo) aber ist ein gewiss durch die Gewohnheit eingeführtes Recht, das als Gesetz anerkannt wird, wenn ein Gesetz fehlt; und es macht keinen Unterschied, ob es kraft Schrift oder kraft Vernunft gilt, da die Vernunft auch das Gesetz empfiehlt. [4] Wenn ferner ein Gesetz [d.h. sein Inhalt] durch Vernunft gilt, dann ist folglich alles Gesetz [d.h. Rechtsnorm], was durch die Vernunft gilt, solange es nur mit der Religion übereinstimmt, der Sittlichkeit entspricht und dem Heil nützt. Es wird aber Gewohnheit genannt, weil es in allgemeiner Übung steht.“
2.2. Lex Baiuvariorum
Ein frühes konkretes Beispiel der consuetudo bietet das Lex Baiuvariorum (auch Lex Baiwariorum)7, eine vom 6. bis zum 8. Jahrhundert entstandene Sammlung des bairischen Stammesrechts.
- Lex Baiuvariorum, Prologus, ca. 741 – 743:
„[...] Deinde unaquaque gens propriam sibi ex consuetudine elegit legem. Longa enim consuetudo pro lege habetur. Lex est constitutio scrtipta. Mos est vetustate probata consuetudo, sive lex non scripta. Nam lex a legendo vocata, quia scripta est. Mos est autem longa consuetudo de moribus tracta tantundem. Consuetudo autem est ius quoddam moribus institutum, quod pro lege suscipitur. [...]“ - Übersetzung:8
„Endlich hat sich jeder Stamm auf der Grundlage der Gewohnheit sein eigenes Gesetz gemacht. Eine althergebrachte Gewohnheit wird nämlich als Gesetz angesehen. Gesetz ist eine geschriebene Anordnung. Brauch ist eine durch Alter bewährte Gewohnheit oder ein ungeschriebenes Gesetz. Denn das Gesetz hat seinen Namen vom Lesen, weil es geschrieben ist. Brauch aber bedeutet eine alte Gewohnheit, die nur von den Sitten hergeleitet ist. Gewohnheit aber ist eine Art von Recht, eingeführt durch Sitten, das wie ein Gesetz angenommen wird.“
2.3. §§ 151 S. 1, 157, 242 BGB – Verkehrssitte
In den §§ 151 S. 1, 157, 242 BGB paraphrasiert die „Verkehrssitte“, also die ständige Übung eines Verhaltens im Rechtsverkehr,9 die consuetudo.
- § 151 BGB [Annahme ohne Erklärung gegenüber dem Antragenden]
Der Vertrag kommt durch die Annahme des Antrags zustande, ohne dass die Annahme dem Antragenden gegenüber erklärt zu werden braucht, wenn eine solche Erklärung nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten ist oder der Antragende auf sie verzichtet hat. Der Zeitpunkt, in welchem der Antrag erlischt, bestimmt sich nach dem aus dem Antrag oder den Umständen zu entnehmenden Willen des Antragenden. - § 157 BGB [Auslegung von Verträgen]
Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. - § 242 BGB [Leistung nach Treu und Glauben]
Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
2.4. § 346 HGB – Handelsbräuche
Die „Gewohnheiten und Gebräuche“ des § 346 HGB stellen die Verkehrssitte des Handels dar.10 Auch diese Norm enthält daher das Element der consuetudo.
- 346 HGB [Handelsbräuche]
Unter Kaufleuten ist in Ansehung der Bedeutung und Wirkung von Handlungen und Unterlassungen auf die im Handelsverkehre geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen.
- 1. Ausführlicher dazu und mit den entsprechenden Quelltexten: Meder, S. 121.
- 2. Vgl. Schöbener/Knauff, § 7, Rn. 8.
- 3. BVerwGE 8, 317, 321.
- 4. Lateinischer Volltext: Wikisource.
- 5. So der französiche Historiker Charles de Montalembert in „Les Moines d'Occident depuis Saint Benoît jusqu'à Saint Bernard“ (Paris, J. Lecoffre, 1860).
- 6. Aus Meder, S. 121 f. in der Übersetzung von Okko Behrends.
- 7. Digitaler Volltext: Die digitalen Monumenta Germaniae Historica (dMGH).
- 8. Aus Hoke/Reiter, S. 6.
- 9. Vgl. BGHZ 111, 110, 112 = NJW 1990, 1723, 1724; MüKo-BGB/Busche, § 157, Rn. 16; BeckOK/Wendtland, § 157, Rn. 16.
- 10. Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt, § 346, Rn. 1; MüKo-HGB/Schmidt, § 346, Rn. 1.