Jean-Léon Gérôme: Phryne vor dem Areopag (1861)

Phryne war eine berühmte griechische Hetäre, die im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte. Ihr richtiger Name war eigentlich Mnesarete, eingedenk der Tugend. Doch der Name passte weder zu dem Gewerbe, das sie ausübte, noch war es in diesem Milieu üblich, den Realnamen zu verwenden, denn Hetären waren gebildete Gefährtinnen, die im Altertum der Prostitution nachgingen. Eines Tages fand sich diese Frau, die wegen ihres gelblichen Teints zwar übersetzt Kröte genannt wurde, aber durch ihre Schönheit zu Reichtum gelangt ist, in einer Gerichtsverhandlung als Angeklagte vor dem Areopag, der höchsten Blut- und Sakralgerichtsbarkeit Athens, wieder.

Sie wurde jedoch nicht der Prostitution angeklagt, denn diese war im antiken Griechenland nicht verboten. Und eine Hetäre war, im Gegensatz zu einer Porne, einer Dirne, aufgrund ihrer umfassenden Bildung sogar sozial angesehen. Phryne wurde vielmehr ihre Schönheit zum Verhängnis. Sie diente Praxiteles als Modell für die Statue Aphrodite von Knidos, einer der ersten Großplastiken, die den weiblichen Körper nackt zeigen. Auch Apelles soll sie Athenaios zufolge (Deipnosophistai 13,590), als er sie beim Fest der Mysterien von Eleusis nackt ins Meer steigen sah, für das nur noch literarisch überlieferte und oft kopierte Gemälde Anadyomene, „die Entsteigende“, der aus dem Meer auftauchenden Aphrodite, als Vorbild verwendet haben. Doch als sie sich rühmte, der Liebesgöttin ebenbürtig zu sein, erfüllte sie einen Straftatbestand, den jeder Bürger durch eine Graphē, eine öffentliche Klage, vor Gericht bringen konnte. Sie wurde der Asebeia, der Gottlosigkeit, dem Frevel gegen die Götter, angeklagt.

Im antiken Griechenland gab es weder eine Glaubensfreiheit noch eine Trennung zwischen Staat und Religion. Die Religion war Instrument und Identifikationsmittel des Staates. Und so kümmerte sich auch der Staat mit Institutionen wie dem Areopag um die Pflege und Reinhaltung des Glaubens. Dazu gehörte auch, dass nur der Staat die Gottheiten festlegt und diesen die Ehrerbietung zu zollen ist. Das Gesetz sah für das Verbrechen der Asebeia keine bestimmte Strafe vor; als solche kam nur eine Geldstrafe, die Verbannung oder die Todesstrafe in Betracht. Freiheitsstrafen waren in Athen nicht üblich. In späteren Zeiten ging die Zuständigkeit über die Verhandlung der Asebeia vom oligarchisch geprägten Areopag, der ein oberster Rat von Beamten war, auf das Volksgericht, die Heliaia, über.

Derjenige, der die Asebeia Phrynes zur Anzeige gebracht hatte, Euthias, soll aus Animosität gehandelt haben, weil er und sein Rivale Hypereides um ihre Gunst wetteiferten. Sie sei seinen Vorwürfen zufolge bei einem Komos, einem ausgelassenen Umzugsritus, ins Lyceum, einer Lehrstätte, gegangen, sie habe den neuen Gott Isodaites eingeführt und sie habe in einem Thiasos, einer religiösen Gesellschaft, Männer mit Frauen zusammengeführt. Der angebliche Rivale Euthias und Liebhaber Phrynes, Hypereides, war es jedenfalls, der sie im Prozess als Anwalt verteidigte.

Athenaios schreibt (13,590 EF): „Als Hypereides die Hetäre Phryne in einem Prozess verteidigte, ohne Eindruck zu machen […], ließ er sie vorführen, zerriss ihre Kleider, entblößte ihren Busen und brachte bei ihrem Anblick seine Beschwörungen in einem so mitleiderregenden Ton vor, dass er die Richter mit einer Art religiöser Scheu davor erfüllte, die Prophetin Aphrodites zu verurteilen.“

Der französischer Maler des akademischen Klassizismus und Bildhauer Jean-Léon Gérôme hielt diese Szene in Phryné devant l'Aréopage 1861 mit Öl auf Leinwand (80 x 128 cm) fest und inszenierte damit Schönheit als rechtliches Argument und Voyeurismus als richterliche Schwäche. Nach Athenaios, wurde nach dem Freispruch Phrynes ein Gesetz erlassen, nach dem kein Urteil fallen durfte, solange der Angeklagte noch anwesend ist und ein Redner sich bemühen kann, Mitleid bei den Richtern zu erregen.