BVerfG, 12.07.1960 - 2 BvR 373/60; 2 BvR 442/60
1. Die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl beziehen sich auch auf das Wahlvorschlagsrecht.
2. Aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung folgt, daß in einem Kommunalwahlgesetz auch ortsgebundenen, lediglich kommunale Interessen verfolgenden Wählergruppen (Rathausparteien oder Wählervereinigungen) das Wahlvorschlagsrecht und deren Kandidaten eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet sein muß.
Beschluß
des Zweiten Senates vom 12. Juli 1960
– 2 BvR 373/60, 442/60 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. des Journalisten S..., 2. des Pensionärs P..., gegen § 25 Abs. 2 Satz 1 des Saarländischen Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes (Kommunalwahlgesetz - KWG) vom 9. Februar 1960 (ABl. S. 101)
Entscheidungsformel:
§ 25 Abs. 2 Satz 1 des Saarländischen Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes (Kommunalwahlgesetz - KWG) vom 9. Februar 1960 (ABl. S. 101) verletzt das Grundrecht des Artikels 3 des Grundgesetzes und ist daher nichtig.
Gründe
A.
I.
Der Landtag des Saarlandes hat durch das Saarländische Gemeinde- und Kreiswahlgesetz (Kommunalwahlgesetz - KWG) vom 9. Februar 1960 (ABl. S. 101) die Wahlen zu den Vertretungskörperschaften in den Gemeinden und Landkreisen neu geordnet.
Die Wahl der Mitglieder der Gemeinde- und Kreisräte erfolgt, sofern mehr als ein gültiger Wahlvorschlag eingereicht wird, nach dem Verhältniswahlsystem mit starrer Liste. Jede Gemeinde und jeder Landkreis bilden einen Wahlbezirk (§§ 4 Abs. 1, 55 KWG). § 25 Abs. 2 KWG, der nach § 53 KWG für die Kreisratswahlen entsprechend gilt, lautet:
"Wahlvorschläge können nur von politischen Parteien im Sinne des Artikels 21 des Grundgesetzes aufgestellt werden. Jede Partei kann in einem Wahlbezirk nur einen Wahlvorschlag einreichen."
Die Sitze werden auf die Wahlvorschläge im Verhältnis der Gesamtzahlen der gültigen Stimmen, die für die einzelnen Wahlvorschläge abgegeben worden sind, nach dem d'Hondtschen Höchstzahlverfahren verteilt. Dabei werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens fünf vom Hundert der im Wahlbezirk abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben (§§ 43, 53 KWG).
Ist nur ein oder kein gültiger Wahlvorschlag eingereicht, so findet Mehrheitswahl statt (§ 2 Abs. 2 KWG). Bei der Mehrheitswahl erfolgt die Stimmabgabe ohne Bindung an vorgeschlagene Wahlbewerber und ohne das Recht der Stimmenhäufung auf einen Bewerber. Der Wähler kann so viele wählbare Personen, wie Mitglieder der Vertretungskörperschaft zu wählen sind, und ebenso viele Ersatzleute auf dem Stimmzettel aufführen (§§ 38 Abs. 2, 53 KWG). Die Sitze werden den Wahlbewerbern in der Reihenfolge der von ihnen erreichten Stimmenzahlen zugeteilt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los (§§ 44, 53 KWG).
II.
1. Der Journalist S., ein Mitglied der Christlich- Demokratischen Union, Landesverband Saar, hatte die Absicht, bei den am 15. Mai 1960 durchgeführten Kommunalwahlen auf einer freien Liste zu kandidieren. Da er sich daran durch den § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG gehindert sah, hat er mit einer am 6. April 1960 bei Gericht eingegangenen Verfassungsbeschwerde beantragt, diese Bestimmung für nichtig zu erklären, und dazu im wesentlichen ausgeführt: Die im § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG vorgenommene Beschränkung des Wahlvorschlagsrechts auf die politischen Parteien im Sinne des Art. 21 GG sei eine dem allgemeinen Gleichheitssatz, dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und dem Gebot der gleichen staatsbürgerlichen Rechte aller Deutschen (Art. 33 GG) widersprechende Benachteiligung freier Wählergruppen. Sie verkürze in verfassungswidriger Weise sein passives Wahlrecht, indem sie ihm die Möglichkeit nehme, sich ebenso wie die von den Parteien vorgeschlagenen Kandidaten um einen Sitz in der Vertretungskörperschaft zu bewerben und, gestützt auf einen parteipolitisch ungebundenen Wählerkreis, aktiv an der Gestaltung der kommunalen Angelegenheiten mitzuwirken.
2. Die Verfassungsmäßigkeit des § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG wird ferner von dem Pensionär P. in Zweifel gezogen. Er rügt mit einer am 29. Mai 1960 erhobenen Verfassungsbeschwerde ebenfalls die Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes sowie der Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl. § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG gebe nur den Parteimitgliedern das Recht, Wahlbewerber aufzustellen, und schließe die übrigen Wähler unter Beeinträchtigung ihres aktiven und passiven Wahlrechts von der Kandidatenauswahl aus. Das sei weder eine allgemeine, noch gleiche, noch freie Wahl.
III.
Das Bundesverfassungsgericht hat gemäß § 94 BVerfGG dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Landtag des Saarlandes sowie sämtlichen Landesregierungen Gelegenheit zur Äußerung gegeben.
1. Der Landtag des Saarlandes ist der Auffassung, § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG könne nur am Gleichheitssatz und an dem daraus fließenden Gebot der Wahlrechtsgleichheit gemessen werden; der Art. 33 GG werde durch diese Vorschrift nicht berührt.
Der Gleichheitssatz fordere nicht, daß der Gesetzgeber die Einzelnen und ihre relevanten gesellschaftlichen Gruppen absolut gleich behandle; er lasse Differenzierungen zu, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt seien. Die Beschränkung des Wahlvorschlagsrechts auf die politischen Parteien beruhe auf einem zureichenden, aus der Natur der Sache sich ergebenden Grund.
Wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung des in Art. 28 GG verfassungskräftig garantierten Prinzips der Selbstverwaltung sei, daß das normale Funktionieren der kommunalen Vertretungskörperschaften und die ordnungsgemäße Erledigung der ihnen obliegenden Verwaltungsaufgaben nicht durch das Vorhandensein einer größeren Anzahl von Splitterparteien in Frage gestellt werde. Aus dieser Erwägung werde die 5 v. H.-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht für zulässig erachtet. Die gleiche Erwägung rechtfertige auch den Ausschluß der Rathausparteien und sonstigen Wählergruppen von den Kommunalwahlen.
2. Die Regierung des Saarlandes hält den § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG ebenfalls für verfassungsmäßig. Die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl ließen dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Wahlrechts einen gewissen Spielraum, um einer übermäßigen Parteienzersplitterung und politischen Zufallsbildungen zu begegnen. Das müsse auch für die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften gelten. Zwar komme den im Rahmen der Selbstverwaltung zu lösenden Aufgaben im allgemeinen geringere politische Bedeutung zu. Auch im Rahmen der Selbstverwaltung seien jedoch politische Entscheidungen zu treffen, deren Bedeutung über den kommunalen Bereich hinausreiche. Die politischen Parteien seien heute zu Trägern auch der Kommunalwahlen und der Kommunalpolitik geworden, und die kommunalen Wahlergebnisse würden in erster Linie als Votum über die gesamte Politik der auch auf Landes- und Bundesebene tätigen Parteien gewertet. Diese Entwicklung entspreche dem allgemeinen Zuge von der repräsentativen parlamentarischen zur modernen parteienstaatlichen Demokratie, in deren Verlauf der einzelne Abgeordnete immer mehr hinter die Parteien zurücktrete. Diese Entwicklung habe der Art. 21 GG sanktioniert. Darin finde das Verhältniswahlrecht mit dem Listenmonopol der politischen Parteien auch für die Kommunalwahlen seine Rechtfertigung.
3. Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat ausgeführt: In der Wirklichkeit des modernen demokratischen Staates realisiere sich der Volkswille in den politischen Parteien, die allein in der Lage seien, die Masse der Aktivbürger zu politisch relevanten Handlungseinheiten zusammenzufassen. Diesem Tatbestand trage der Art. 21 GG Rechnung, der die politischen Parteien aus dem Bereich des Politisch- Soziologischen zu einer verfassungsrechtlichen Institution erhebe und zu integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaues mache. Angesichts dieser Sonderstellung der politischen Parteien sei der Landesgesetzgeber von Bundesverfassungs wegen nicht gehalten, nach dem Gebot der Chancengleichheit Rathausparteien und sonstige kommunale Wählervereinigungen ebenso zu behandeln wie die politischen Parteien.
4. Die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen hebt hervor, daß die Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen heute im wesentlichen von den auf Landes- und Bundesebene tätigen politischen Parteien getragen werde. Wenn der Landesgesetzgeber in einem Wahlgesetz diesem soziologischen Faktum in angemessener Weise Rechnung trage, so sei das verfassungsrechtlich unbedenklich.
IV.
Beide Verfahren werfen die gleichen verfassungsrechtlichen Fragen auf. Sie sind deshalb zur gemeinsamen Entscheidung verbunden worden.
Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Beschwerdeführer auf mündliche Verhandlung verzichtet haben.
B.
Die form- und fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerden richten sich gegen das Saarländische Kommunalwahlgesetz. Dies ist zulässig, da die Beschwerdeführer durch die angegriffene Bestimmung unmittelbar in ihrem Wahlrecht betroffen werden (BVerfGE 1, 97 [101 f.]; 1, 208 [237f.]; 3, 19 [23]; 3, 383 [392]; 5, 77 [81]; 6, 121 [128]; 7, 63 [66]).
Der Beschwerdeführer S. ist durch seine Zugehörigkeit zur Christlich-Demokratischen Union, Landesverband Saar, nicht gehindert, das Kommunalwahlgesetz mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Durch den Eintritt in eine politische Partei begibt sich ein Aktivbürger nicht des Rechts, Handlungen, die nach seiner Ansicht seine Grundrechte als Staatsbürger verletzen, einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zuzuführen; das Mitglied einer politischen Partei kann geltend machen, es müsse auch als freier Wahlbewerber auftreten können. Eine Verletzung seines passiven Wahlrechts ist also, anders als die saarländische Landesregierung meint, nicht ausgeschlossen.
C.
I.
Die Beschwerdeführer wenden sich dagegen, daß § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG im Rahmen der vom Saarländischen Gemeinde- und Kreiswahlgesetz als Regelfall vorgeschriebenen Verhältniswahl mit starrer Liste (§§ 2, 27, 38, 43, 53, 61 KWG) das Wahlvorschlagsrecht den politischen Parteien im Sinne des Art. 21 GG vorbehält. Der Beschwerdeführer S. fühlt sich dadurch in seinem passiven Wahlrecht, der Beschwerdeführer P. in seinem Wahlvorschlagsrecht beeinträchtigt. Beide Beschwerdeführer halten diese Beschränkungen ihres Wahlrechts mit dem allgemeinen Gleichheitssatz, den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl sowie dem Gebot der gleichen staatsbürgerlichen Rechte aller Deutschen für unvereinbar.
Die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl sind Anwendungsfälle des allgemeinen Gleichheitssatzes, der als Grundrecht des Einzelnen in Art. 3 Abs. 1 GG garantiert ist. Deshalb enthält ein Verstoß gegen die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zugleich auch eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG (BVerfGE 1, 208 [242]; 3, 383 [390 ff.]; 6, 84 [91]; Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Wahlrechtskommission, Grundlagen eines deutschen Wahlrechts, Bonn, 1955, S. 27 f.). Nur auf Art. 3 GG kann gemäß § 90 BVerfGG eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Kommunalwahlgesetz gestützt werden.
Im einzelnen beziehen sich diese Grundsätze auf das aktive und das passive Wahlrecht der Staatsbürger. Sie beziehen sich darüber hinaus, wie schon der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich und der Bayerische Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung angenommen haben, auch auf das Wahlvorschlagsrecht (vgl. Lammers/Simons I, 336 ff., 347 ff., 405 ff.; BayVerfGH VGHE NF Teil II 3,124 f.,6,65 ff., Pohl, HdbDStR I, 388).
Ob und in welchem Umfang es dem Gesetzgeber gestattet ist, im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes Differenzierungen vorzunehmen, richtet sich nach der Natur des jeweils zu regelnden Sachbereichs. Für den Sachbereich der Wahlen ist nach der historischen Entwicklung zum Demokratisch-Egalitären hin, die im Grundgesetz für das Bundestagswahlrecht in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und für das Wahlrecht in den Ländern, Kreisen und Gemeinden in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ihren verfassungsrechtlich verbindlichen Ausdruck gefunden hat, davon auszugehen, daß jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte in formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können (vgl. BVerfGE 6, 84 [91]). Daraus folgt, daß dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts einschließlich des Wahlvorschlagsrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. In diesem Bereich bedürfen Differenzierungen besonderer rechtfertigender Gründe (BVerfGE 1, 208 [249]; 4, 375 [382f.]; 6, 84 [94]; 6, 104 [120]).
Es kommt also darauf an, ob sich die durch die Monopolisierung des Wahlvorschlagsrechts bei den politischen Parteien im Sinne des Art. 21 GG herbeigeführte Ungleichheit zwischen den Gemeindebürgern aus den Grundentscheidungen der Verfassung über politische Parteien, Wahlen und kommunale Selbstverwaltung rechtfertigen läßt oder ob dadurch die Beschwerdeführer in ihrem staatsbürgerlichen Grundrecht auf Gleichbehandlung bei der Kandidatenauswahl und der Ausübung des passiven Wahlrechts verletzt werden.
II.
1. Das Grundgesetz hat zwar, der Verfassungswirklichkeit folgend, die politischen Parteien in Art. 21 GG als verfassungsrechtlich notwendige Instrumente für die politische Willensbildung des Volkes anerkannt und sie in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben. Durch ihre verfassungsrechtliche Anerkennung als politische Handlungseinheiten, deren heute die Demokratie bedarf, um die Wähler zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen und ihnen so überhaupt erst einen wirksamen Einfluß auf das staatliche Geschehen zu ermöglichen, ist von Bundesverfassungs wegen der moderne demokratische Parteienstaat legalisiert worden (BVerfGE 1, 208 [223 ff.]; 2, 1 f 11, 73); 4, 27 (30 f.); 5, 85 (134, 388)). Es mag in der logischen Konsequenz eines radikal zu Ende gedachten Parteienstaates liegen, daß sich die Willensbildung des Volkes auf allen Stufen, auch in den Gemeinden und Kreisen, durch das Medium der Parteien vollzöge und die gleichberechtigte Teilnahme der Aktivbürger an der Auslese der Wahlbewerber insbesondere nur in diesem, von den Grundsätzen des gleichen Stimmrechts aller Parteizugehörigen und der Chancengleichheit der Parteien beherrschten Rahmen erfolgen könnte. Diese äußerste Konsequenz des Parteienstaates wird jedoch vom Grundgesetz auf der Bundesebene durch das Bekenntnis zu dem repräsentativen Status der Abgeordneten in Art. 38 GG und auf der kommunalen Ebene durch die institutionelle Garantie der Selbstverwaltung in Art. 28 GG verfassungskräftig abgewehrt.
2. Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistet den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln, und garantiert auch den Gemeindeverbänden im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Diese Bestimmung unterscheidet sich von Art. 127 WRV nur dadurch, daß sie den Begriff der Selbstverwaltung in ihrem ersten Satz näher umschreibt und das Prinzip der Allzuständigkeit in diese Umschreibung aufnimmt (vgl. BVerfGE 1, 167[174 f.]).
Welche der Normen und Grundsätze, die den geschichtlich gewordenen Begriff der Selbstverwaltung inhaltlich näher bestimmen, sich auf den verfassungsrechtlich garantierten, gegen jede gesetzliche Schmälerung geschützten Kernbereich beziehen, war bereits unter der Herrschaft des Art. 127 WRV streitig und ist heute im Rahmen des Art. 28 GG im einzelnen streitig geblieben.
Einigkeit besteht nur darüber, daß bei der Bestimmung dessen, was zum Wesen der Selbstverwaltung gehört, der geschichtlichen Entwicklung und den verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung in einem gewissen Ausmaß Rechnung getragen werden muß (BVerfGE 1, 167 [178]; 7, 358 [364]; 8, 332 [359]; VerfGH Nordrhein-Westfalen in OVGE 9,74 [83] und 11, 149 [150]).
a) Die Anfänge der modernen Selbstverwaltung sind unlösbar mit der Steinschen preußischen Städteordnung vom 19. November 1808 verknüpft. Ihr Ziel war es, das bürgerliche Element enger mit dem Staate zu verbinden, den Gegensatz zwischen Obrigkeit und Untertan zu mildern und durch selbstverantwortliche Beteiligung der Bürgerschaft an der öffentlichen Verwaltung in der Kommunalebene den Gemeinsinn und das politische Interesse des Einzelnen neu zu beleben und zu kräftigen.
Angesichts der Restauration benutzte das aufstrebende liberale Bürgertum die Selbstverwaltung als politische Waffe gegen den Staat und als Mittel, die Staatsaufsicht in diesem Bereich auf die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu beschränken.
Der immer schärfer zutage tretende Gegensatz zwischen dem monarchischen Obrigkeitsstaat und der fortschreitend sich demokratisierenden Selbstverwaltung verlor erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts an Schärfe, als es dem Bürgertum mit der allgemeinen Einführung des Konstitutionalismus gelang, sich einen entscheidenden Einfluß auf das staatliche Geschehen zu sichern.
b) Mit dem Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik wurde der alte politische Gegensatz zwischen Staats- und Kommunalverwaltung durch die Einführung des parlamentarischen Systems in Reich und Ländern und die Ausdehnung der Grundsätze des Reichstagswahlrechts auch auf die Gemeindewahlen (Art. 17 Abs. 2 Satz 1 WRV) weiter eingeebnet. Der Begriff der Selbstverwaltung wurde mehr und mehr zu einem formalen Begriff und in zunehmendem Maße dazu verwendet, den legitimen Bereich der überörtlichen Staatsverwaltung von dem der Lokalverwaltung abzugrenzen (vgl. dazu Hans Peters, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, Berlin 1926, S. 5 ff.).
Die Ausdehnung der Wahlrechtsgrundsätze der allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahl sowie der Grundsätze des Verhältniswahlrechts im Gefolge der fortschreitenden Egalisierung und Demokratisierung des politischen Lebens auf die Gemeindewahlen nahm der kommunalen Verwaltung in steigendem Maße den für das 19. Jahrhundert typischen Charakter der Honoratiorenverwaltung und führte schließlich zu einer Vormachtstellung der politischen Parteien auch in diesem Bereich.
c) Unter der Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes wurde die Selbstverwaltung gleichgeschaltet und damit ihrer Substanz beraubt. Die Einführung des Führerprinzips und die Beschränkung der Zuständigkeiten der Gemeindevertretungen auf beratende Funktionen machten die "Selbstverwaltung" zu einer bloßen Verwaltungsform des zentralistisch gesteuerten Einheitsstaates.
d) Demgegenüber sind Kommunalverfassungsrecht und -wirklichkeit seit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes unter Anknüpfung an die Tradition der Weimarer Zeit von der Tendenz geprägt, dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Gemeindebürger vor allem durch eine Erweiterung der Zuständigkeiten der Kommunalvertretungen wieder in stärkerem Maße zum Durchbruch zu verhelfen (BVerfGE 7, 155 [167]). Kommunale Selbstverwaltung - wie sie heute verstanden wird bedeutet ihrem Wesen und ihrer Intention nach Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten, die die in der örtlichen Gemeinschaft lebendigen Kräfte des Volkes zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben der engeren Heimat zusammenschließt mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren (Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S. 292). Die örtliche Gemeinschaft soll nach dem Leitbild des Art. 28 GG ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und in eigener Verantwortung solidarisch gestalten (Köttgen, Sicherung der gemeindlichen Selbstverwaltung, 1960, S. 9).
3. Unbeschadet der Tatsache, daß auch in der kommunalen Sphäre heute, insbesondere in den größeren Gemeinden und Kreisen, die Willensbildung der Bürger im allgemeinen überwiegend von den politischen Parteien geformt und in die Tat umgesetzt wird, zwingt diese Entwicklung zu dem Schluß, daß Art. 28 GG durch die institutionelle Garantie der Selbstverwaltung dem örtlichen Selbstbestimmungsrecht eine verfassungskräftig gewährleistete Chance offengehalten hat, die der Landesgesetzgeber auch bei der Konkretisierung der Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl in einem Kommunalwahlgesetz zu respektieren hat. Es gehört zum Wesen der in den überschaubaren Verhältnissen des 19. Jahrhunderts gewachsenen kommunalen Selbstverwaltung, daß sie von der Mitwirkung angesehener, mit den heimischen Verhältnissen besonders vertrauter Mitbürger getragen wird und sich an den besonderen Bedürfnissen der örtlichen Gemeinschaft orientiert. Aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 GG muß also gefolgert werden, daß die Auslese der Kandidaten für die kommunalen Wahlkörperschaften jedenfalls auch örtlich muß bestimmt werden können und daher nicht ausschließlich den ihrem Wesen und ihrer Struktur nach in erster Linie am Staatsganzen orientierten politischen Parteien vorbehalten werden darf. Es muß also - ebenso wie zur Zeit der Weimarer Republik - auch ortsgebundenen, lediglich kommunale Interessen verfolgenden Wählergruppen (Rathausparteien oder Wählervereinigungen) das Wahlvorschlagsrecht und deren Kandidaten eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet sein.
4. Die in § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG getroffene Regelung läßt sich nicht mit dem Hinweis rechtfertigen, daß durch Zulassung freier Wählergruppen einer die Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltungskörperschaften gefährdenden Stimmenzersplitterung Tor und Tür geöffnet werde. Dieser Gefahr kann auch im Kommunalwahlrecht in angemessenem Rahmen durch Sperrklauseln und Unterschriftenquoren begegnet werden (BVerfGE 6, 104 ff. und 121 ff.).
5. Die in § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG vorgesehene Beschränkung des Wahlvorschlagsrechts auf die politischen Parteien im Sinne des Art. 21 GG nimmt anderen Gruppen als politischen Parteien die Möglichkeit, Kandidaten aufzustellen, und benachteiligt einen Teil der Bürger. Diese Differenzierung ist, wie dargelegt, nicht zu rechtfertigen. § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG verstößt also gegen den Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl und damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. § 25 Abs. 2 Satz 1 KWG ist nichtig.