BVerfG, 09.07.1963 - 1 BvL 15/60
Beschluß
des Ersten Senats vom 9. Juli 1963
- 1 BvL 15/60 -
in dem Verfahren wegen der verfassungsrechtlichen Prüfung des § 6a Abs. 2 Satz 1 erste Alternative des Straßenverkehrsgesetzes - StVG - in der Fassung vom 16. Juli 1957 (BGBl I S. 710) - Vorlage des Amtsgerichts Karlstadt vom 2. Juni 1960, Cs 168/60 (P).
Entscheidungsformel:
§ 6a Absatz 2 Satz 1 erste Alternative des Straßenverkehrsgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 16. Juli 1957 (Bundesgesetzbl. I S. 710) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Gründe
I.
1. Der durch das Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiete des Verkehrsrechts und Verkehrshaftpflichtrechts vom 16. Juli 1957 (BGBl. I S. 710) eingefügte § 6a des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) beschränkt in seinem Absatz 1 die danach zu schaffende Kartei (sogenannte Verkehrssünderkartei) auf die Erfassung von rechtskräftigen Verurteilungen der Strafgerichte, nimmt also die gebührenpflichtigen Verwarnungen (§ 22 StVG) von vornherein von der Eintragung aus.
Unter gewissen Voraussetzungen ordnet das Strafgericht an, daß die Eintragung einer gerichtlichen Verurteilung unterbleibt. § 6a Abs. 2 Satz 1 StVG bestimmt:
"Das Gericht ordnet an, daß die Verurteilung wegen einer Übertretung in die Kartei nicht eingetragen wird, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung nach § 22 vorlagen oder diese nur deshalb nicht erteilt worden ist, weil der Verurteilte mit ihr nicht einverstanden oder zur sofortigen Zahlung der Gebühr nicht bereit war."
§ 22 StVG, auf den die bezeichnete Bestimmung verweist, lautet in dem hier in Frage kommenden Absatz 1 Satz 1 und 2:
"Bei leichteren Übertretungen, die nach diesem Gesetz oder den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsvorschriften strafbar sind, kann ein Polizeibeamter, der hierzu ermächtigt ist und sich durch seine Dienstkleidung oder auf andere Weise ausweist, den auf frischer Tat betroffenen Täter verwarnen und eine Gebühr von einer bis zu fünf Deutsche Mark erheben. Die Verwarnung ist nur zulässig, wenn der Betroffene nach Belehrung über sein Weigerungsrecht mit ihr einverstanden und zur sofortigen Zahlung der Gebühr bereit ist."
2. Ein Polizeibeamter hatte am 4. März 1960 festgestellt, daß ein Lastkraftwagen um etwa 8% überladen war, war aber auf Grund seiner innerdienstlichen Anweisungen zur Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung nicht ermächtigt. Gegen den Kraftfahrer wurde daher im Ausgangsverfahren wegen Übertretung des § 34 Abs. 2, § 71 Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO) durch die rechtskräftig gewordene Strafverfügung des Amtsgerichts in Karlstadt vom 27. April 1960 - Cs 168/60 (P) - eine Geldstrafe von DM 20.-, ersatzweise zwei Tage Haft, festgesetzt.
Das Amtsgericht hält die Anordnung, daß die Verurteilung nicht eingetragen werde, für gerechtfertigt; § 6a Abs. 2 Satz 1 erste Alternative gebe jedoch hierfür keine Rechtsgrundlage. Diese Bestimmung mache nach ihrem eindeutigen Wortlaut die Anordnung der Nichteintragung nicht nur von der hier erfüllten Voraussetzung abhängig, daß eine leichtere Übertretung vorliege, sondern weiterhin davon, daß der Täter auf frischer Tat von einem zur Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung ermächtigten Polizeibeamten, der sich durch seine Dienstkleidung oder auf andere Weise ausweise, betroffen worden sei. Diese Regelung verstoße aber gegen Art. 3 Abs. 1 GG; denn sie begünstige bei einer leichteren Übertretung die Kraftfahrer, die von einem Polizeibeamten auf frischer Tat betroffen würden, gegenüber denjenigen, deren Verfehlung auf andere Weise, etwa durch Anzeige eines Verkehrsteilnehmers, zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörde gelange. Eine solche Begünstigung eines begrenzten Personenkreises sei willkürlich.
Das Amtsgericht hat deshalb durch den Beschluß vom 2. Juni 1960 die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, "ob § 6a Abs. 2 Satz 1 erste Alternative des Straßenverkehrsgesetzes mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar ist".
3. Die Bundesregierung hält die verfassungsrechtlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts für gegenstandslos. Der Wortlaut des § 6a Abs. 2 Satz 1 StVG lasse nicht nur die Auslegung zu, daß auch die Verfahrensvoraussetzungen des § 22 StVG vorliegen müssen, um die Nichteintragung anordnen zu können. Die Bezugnahme erstrecke sich vielmehr lediglich auf die materiellen Voraussetzungen des § 22 StVG, die sich in den Worten "bei leichteren Übertretungen, die nach diesem Gesetz oder den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsvorschriften strafbar sind", erschöpfen. Diese von der Mehrzahl der Gerichte und im Schrifttum vorwiegend vertretene Auffassung werde auch durch die Entstehungsgeschichte des § 6a StVG bestätigt.
Die Bayerische Staatsregierung kommt zu demselben Ergebnis.
II.
1. Offensichtlich unhaltbar ist die Auslegung, die das Amtsgericht der zur Prüfung vorgelegten Norm gibt, nicht. Ihr Wortlaut schließt nicht von vornherein aus, daß sie in ihren Tatbestand auch die Erfüllung der in § 22 Abs. 1 StVG für die Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung aufgestellten formellen Voraussetzungen einbezieht. Die Auslegungsschwierigkeiten werden in der Rechtsprechung (z.B. vom Landgericht Köln DAR 1959, 275; Landgericht Göttingen NJW 1959, 113) und in der Literatur (z.B. von Hartung in Floegel/Hartung, Straßenverkehrsrecht, 13. Aufl., § 13 StVZO Anm. 5 Randnr. 8) anerkannt. Auch die Auslegung des vorlegenden Gerichts wird vertreten (Hiendl NJW 1958, 491 [492]).
2. Auf die Gültigkeit der Norm, so wie sie das vorlegende Gericht auslegt, kommt es für die Entscheidung über die Anordnung der Nichteintragung an. Wenn die Norm gültig ist und den ihr von dem Amtsgericht gegebenen Sinn hat, kann das Gericht das Unterlassen der Eintragung nicht anordnen, weil der Polizeibeamte, der den Verurteilten auf frischer Tat betroffen hat, zur Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung nicht ermächtigt war. Im Falle der Ungültigkeit der Norm fehlt zwar ebenfalls die Rechtsgrundlage für die Anordnung der Nichteintragung. Trotzdem müßte das Amtsgericht dann nicht ohne weiteres nach der allgemeinen Regel, daß gerichtliche Verurteilungen einzutragen sind (§ 6a Abs. 1 StVG i.V.m. § 13 Abs. 1 StVZO), die Eintragung geschehen lassen. Wenn nämlich die allgemeine Regel durch die weggefallene Ausnahmevorschrift des Abs. 2 Satz 1 erste Alternative nicht mehr beschränkt wäre, würde sie - in gleicher Weise wie die Ausnahmevorschrift - solche leichten Verkehrsverstöße, bei denen die formellen Voraussetzungen für die Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung zufällig vorliegen, vor anderen gleich leichten Verkehrsverstößen bevorzugen, ohne daß ein sachlicher Grund ersichtlich wäre; dann würde sie ebenfalls gegen den Gleichheitssatz verstoßen. Das Gericht wäre gezwungen, aus den gleichen verfassungsrechtlichen Gründen die allgemeine Regel zur Nachprüfung zu stellen.
3. Seiner Entscheidungspflicht ist das Amtsgericht auch nicht durch Zeitablauf enthoben. Zwar ist die - hier zweijährige - Frist für die Tilgung der etwaigen Eintragung in der Kartei (§ 13a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d StVZO) jetzt abgelaufen. Der Verurteilte ist aber inzwischen durch eine Entscheidung des Amtsgerichts Frankfurt vom 16. Januar 1962, also vor dem Ablauf der Tilgungsfrist, mit Gefängnis und Entziehung der Fahrerlaubnis erneut bestraft worden; nach § 13a Abs. 2 StVZO würde die Tilgung der hier zur Rede stehenden Eintragungen nicht vor der Tilgungsreife der neuen Bestrafung zulässig sein.
4. Schließlich steht die durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 1962 (BVerfGE 14, 174) festgestellte Nichtigkeit der hier der Verurteilung zugrunde gelegten Vorschrift des § 71 StVZO der Eintragung nicht entgegen. Denn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führt nicht von selbst zur Nichtigkeit aller Verurteilungen, die auf der für nichtig erklärten Norm beruhen, sie hindert auch nicht ihre Vollstreckung (Beschlüsse vom 7. März 1963 - 2 BvR 629/62, 2 BvR 637/62 und 2 BvR 56/63), sondern ermöglicht lediglich die Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 79 Abs. 1 BVerfGG).
III.
§ 6a Abs. 2 Satz 1 erste Alternative StVG ist bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. Nach der Ansicht des vorlegenden Gerichts läßt § 6a Abs. 2 Satz 1 erste Alternative StVG nur die eine Auslegung zu, daß die Anordnung der Nichteintragung stets die formellen Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 StVG für eine gebührenpflichtige Verwarnung erfordere; insbesondere müsse also ein Polizeibeamter den Täter auf frischer Tat betroffen haben, und der Beamte muß zur Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung ermächtigt gewesen sein. Dieser Rechtsansicht kann nicht gefolgt werden.
a) Der Wortlaut der Norm, auf den allein das vorlegende Gericht seine Meinung stützt, ist nicht eindeutig im Sinne der Ansicht des Amtsgerichts. Er spricht nur von den "Voraussetzungen für die Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung nach § 22", ohne sie im einzelnen zu bezeichnen; er läßt es also offen, ob er überhaupt die formellen Voraussetzungen mit umfassen will. Der Gebrauch der Mehrzahl kann sich auch daraus erklären, daß § 22 Abs. 1 StVG mehrere materielle Voraussetzungen für eine gebührenpflichtige Verwarnung fordert: es muß eine Übertretung vorliegen; die Übertretung muß nach dem Straßenverkehrsgesetz oder den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsvorschriften strafbar sein; die Übertretung muß leichterer Art sein.
b) Allerdings nimmt die zweite Alternative des § 6a Abs. 2 Satz 1 StVG die gerichtlichen Aburteilungen leichterer Übertretungen von dem Eintragungszwang besonders aus, wenn die dort aufgeführten, rein formellen Voraussetzungen für eine gebührenpflichtige Verwarnung nach § 22 Abs. 1 StVG, nämlich das Einverständnis oder die Zahlungsbereitschaft des Täters, gefehlt haben und deshalb die gebührenpflichtige Verwarnung unterblieben ist. Dies zwingt aber nicht dazu, die in der ersten Alternative enthaltene allgemeine Verweisung auf die formellen Voraussetzungen des § 22 auszudehnen, sondern läßt die Möglichkeit offen, daß die Verweisung nur die materiellen Voraussetzungen umfaßt, also nur solche Übertretungen meint, die leichterer Art und deshalb geeignet sind, mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung geahndet zu werden. Die zweite Alternative war ursprünglich als einzige Ausnahme von dem Eintragungszwang vorgesehen und sollte einen Druck auf den Betroffenen vermeiden, sich einer gebührenpflichtigen Verwarnung zu unterwerfen (182. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht vom 2. Februar 1957, Prot. S. 14 und S. 30). Bei der endgültigen Fassung wurde sie beibehalten, obgleich sie durch die Einführung der ersten Alternative ihre ursprüngliche Bedeutung im wesentlichen verloren hatte. Der Frage, ob sie Bestrafungen von der Eintragungspflicht ausnimmt, die nicht unter die erste Alternative fallen, und deshalb nicht jeder Bedeutung entbehrt, wie von Gerichten und einem Teil der Rechtslehre angenommen wird, braucht hier nicht nachgegangen zu werden.
c) Die Entstehungsgeschichte spricht nicht für die Auslegung des Amtsgerichts. Die Bestimmungen des Regierungsentwurfs (BT II 1953 Drucks. 1265) über die Kartei hatte der Bundestag entsprechend den Vorschlägen des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht gestrichen (164. Sitzung vom 11. Oktober 1956, Sten. Ber. S. 9091), während der Bundesrat die Beibehaltung wünschte. Erst bei der Beratung der Einführung der Kartei überhaupt setzte sich im Vermittlungsausschuß die Ansicht durch, alle Verkehrsübertretungen von der Eintragungspflicht auszunehmen, die üblicherweise mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung hätten erledigt werden können; dies führte dort auf den Vorschlag eines Mitglieds des Bundesrates zu der Formulierung, die dann Gesetz geworden ist (Kurzprotokoll der 28. Sitzung des Vermittlungsausschusses vom 3. April 1957). Im Bundestag begründete der Berichterstatter die vom Vermittlungsausschuß formulierte Bestimmung mit folgenden Worten:
"Die große Menge von Bagatellfällen, die mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung hätten geahndet werden können, soll in der Kartei nicht aufgeführt werden. Bekanntlich hat gerade dieser Punkt bei den seitherigen Beratungen eine erhebliche Rolle gespielt."
(203. Sitzung des BT am 10. April 1957, Sten. Ber. S. 11 507).
d) Für die Auslegung der streitigen Vorschrift fehlt eine höchstrichterliche Rechtsprechung. Überwiegend beschränken Gerichte (z.B. LG Göttingen NJW 1959, 113 und DAR 1959, 165, LG Köln DAR 1959, 275, LG Wiesbaden NJW 1959, 2078, LG Düsseldorf JMBl. NRW 1961, 79, sowie Bayer. VerfGH DAR 1960, 151) und Rechtslehre (z.B. Floegel/Hartung, Straßenverkehrsrecht, 13. Aufl., § 13 StVZO Anm. 5 Randnr. 8) die Verweisung auf die materiellen Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 StVG. Die entgegengesetzte Ansicht wird nur vereinzelt mit Bestimmtheit vertreten (so insbesondere von Hiendl NJW 1958, 491).
2. Hiernach ist die Auslegung der zur Prüfung vorgelegten Vorschrift durch das Amtsgericht nicht zwingend und die andere Auslegung möglich, wonach die Verweisung nur die materiellen Voraussetzungen der gebührenpflichtigen Verwarnung betrifft. Dann muß aber die letztgenannte Auslegung gewählt werden, weil die Vorschrift so mit dem Grundgesetz vereinbar ist, während sie andernfalls verfassungswidrig wäre (ständige Rechtsprechung im Anschluß an BVerfGE 2, 266 [282]).
Wären auch die formellen Voraussetzungen für eine gebührenpflichtige Verwarnung nach § 22 Abs. 1 StVG in die allgemeine Verweisung der zu prüfenden Vorschrift einbezogen, so würde die Vorschrift, wie das vorlegende Gericht zutreffend ausführt, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Denn ob eine Bestrafung in die Kartei eingetragen wird oder nicht, kann der Gesetzgeber nur von sachgerechten Gründen, insbesondere von der Schwere des Unrechtsgehaltes der Übertretung, abhängig machen. Würde er dagegen Verkehrsteilnehmer, die von einem zur Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung ermächtigten Polizeibeamten auf frischer Tat betroffen werden, vor anderen Verkehrsteilnehmern, die eine Verkehrsübertretung mit gleichem Unrechtsgehalt begangen haben, dadurch bevorzugen, daß er ihre Verurteilung von der Eintragung ausnimmt, so würde er an einen tatsächlichen Unterschied anknüpfen, der lediglich vom Zufall abhängt und für die Aufgabe der Kartei, die rechtskräftigen gerichtlichen Verurteilungen zu erfassen (§ 6a Abs. 1 StVG), unwesentlich ist. Er würde damit willkürlich handeln. Wird die Norm aber dahin ausgelegt, daß sie die Verurteilung wegen leichterer Verkehrsübertretungen allgemein von der Eintragungspflicht ausnimmt, so entfallen die Bedenken gegen ihre Verfassungsmäßigkeit.