BGH, 22.11.1994 - GSSt 1/94
Die Anwendung des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB ist nicht von vornherein ausgeschlossen in Fällen, in denen der Täter sein Opfer zum Zwecke einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung entführt oder sich seiner bemächtigt. Die Vorschrift setzt voraus, daß der Täter beabsichtigt, die durch die Entführung oder das Sichbemächtigen für das Opfer geschaffene Lage zur qualifizierten Drohung auszunutzen und durch sie zu nötigen.
Gründe
I.
1. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geiselnahme in Tateinheit mit Vergewaltigung, sexueller Nötigung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.
Nach den getroffenen Feststellungen hatten der Angeklagte und zwei Mittäter gesehen, daß Frau K. zu ihrem Auto gebracht und dort von ihren Begleitern zurückgelassen worden war. Als die Frau die Fahrertür ihres geparkten Wagens öffnete und sich erbrach, faßten die Täter den Entschluß, sie zu vergewaltigen. Da sie befürchteten, daß ein solches Geschehen im Bereich der geparkten Autos vom nahegelegenen Festplatz aus bemerkt werden könnte, kamen sie überein, die Frau zu einer schlecht einsehbaren Stelle im angrenzenden Getreidefeld zu bringen, um dort die geplante Tat auszuführen. Einer der drei Täter fragte sie, ob ihr schlecht sei; als sie bejahte, bot er ihr Hilfe an, zog sie aus dem Auto, legte sie sich über die Schulter und trug sie etwa 20 bis 30 m in das Getreidefeld. Die Frau war zunächst ohne Argwohn und ließ dies in der Annahme, man wolle ihr helfen, geschehen. Im Getreidefeld wurde sie gepackt, zu Boden gedrückt, gewaltsam entkleidet, festgehalten und an Hilferufen gehindert. Einer der Täter hielt ihr ein Messer an den Hals und bedrohte sie mit dem Tode, falls sie sich weiter wehre, woraufhin sie jeden Widerstand aufgab. Der Angeklagte und seine beiden Mittäter übten sodann abwechselnd mindestens sechsmal den Geschlechtsverkehr aus und nahmen weitere sexuelle Handlungen mit ihr vor.
2. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts.
Der 2. Strafsenat beabsichtigt, das Rechtsmittel zu verwerfen. Die Verfahrensrüge hält er für offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO); ebenso beurteilt er die Sachrüge, soweit sie sich auf die Verurteilung wegen der Sexualdelikte und der vorsätzlichen Körperverletzung bezieht. Darüber hinaus vertritt er die Ansicht, daß auch der Schuldspruch wegen Geiselnahme (§ 239 b StGB) frei von Rechtsfehlern ist.
Die Tat, an der sich der Angeklagte als Mittäter beteiligt hat, erfüllt nach Meinung des 2. Strafsenats den Tatbestand der Geiselnahme, wie ihn der Gesetzeswortlaut beschreibe (§ 239 b Abs. 1 StGB). Die Täter hätten die Frau mit List entführt, indem sie sie unter Vorspiegelung der Absicht, ihr helfen zu wollen, in das Getreidefeld und damit an einen Ort gebracht hätten, der schlecht habe eingesehen werden können und an dem deshalb das Tatopfer ihrem ungehemmten Einfluß schutzlos preisgegeben gewesen sei (vgl. § 237 StGB; Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. § 237 Rdn. 2 m.w.N.). Da der festgestellte Sachverhalt die Annahme einer Entführung durch List rechtfertige, sei es ohne Belang, daß die Strafkammer bei der rechtlichen Bewertung im Widerspruch zu ihren eigenen Feststellungen ausgeführt habe, die Zeugin sei "gegen ihren Willen mit Gewalt" aus dem Auto herausgeholt worden, was im übrigen gleichfalls als Entführung zu beurteilen sei. Dabei handelten die Täter auch in der Absicht, die Zeugin zur Duldung des Geschlechtsverkehrs zu nötigen, und zwar "unter Einsatz von Gewalt bzw. Gewaltmitteln". Daß sie bereits zum Zeitpunkt der Entführung geplant hatten, erforderlichenfalls auch die Drohung mit dem Tode als "Gewaltmittel" zu gebrauchen, ergebe sich, auch wenn die Strafkammer dies nicht ausdrücklich hervorhebe, jedenfalls noch hinreichend deutlich aus dem Gesamtzusammenhang der getroffenen Feststellungen.
3. Der 2. Strafsenat sieht sich gehindert, die Revision des Angeklagten zu verwerfen, weil er sich mit einer solchen Entscheidung mit der Rechtsauffassung in Widerspruch setzen würde, die der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 5. Oktober 1993 - 1 StR 376/93 (BGHSt 39, 330) vertreten hat.
Diese Entscheidung enthält eine Fortführung der im Urteil desselben Strafsenats vom 17. November 1992 - 1 StR 534/92 (BGHSt 39, 36) entwickelten Rechtsansicht. Dort hatte der Senat den Grundsatz aufgestellt, daß die §§ 239 a, 239 b StGB in einschränkender Auslegung jedenfalls auf solche Fälle nicht anwendbar seien, in denen das bloße Sich-Bemächtigen unmittelbares Nötigungsmittel einer Vergewaltigung, sexuellen Nötigung oder räuberischen Erpressung sei und in denen eine über das hierdurch begründete unmittelbare Gewaltverhältnis zwischen Täter und Opfer hinausreichende Außenwirkung des abgenötigten Verhaltens nach der Vorstellung des Täters nicht eintreten solle. Mit seinem späteren Urteil vom 5. Oktober 1993 hat der 1. Strafsenat entschieden, daß dies im Bereich des § 239 b StGB nicht nur für die Fälle des Sich-Bemächtigens, sondern auch für diejenigen des Entführens gelte; § 239 b StGB sei in einschränkender Auslegung auf solche Fälle nicht anwendbar, in denen das Entführen (oder das Sich-Bemächtigen) unmittelbares Nötigungsmittel einer alsbald durchgeführten Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung sei und in denen eine über das hierdurch begründete unmittelbare Gewaltverhältnis zwischen Täter und Opfer hinausreichende (Außen-)Wirkung des abgenötigten Verhaltens nach der Vorstellung des Täters nicht eintreten solle.
An dieser Rechtsauffassung hat der 1. Strafsenat auf Anfrage festgehalten.
Daraufhin hat der 2. Strafsenat durch Beschluß vom 18. Mai 1994 dem Großen Senat für Strafsachen folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
"Ist § 239 b StGB anwendbar in Fällen, in denen der Täter sein Opfer zum Zwecke einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung entführt?"
4. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Stellungnahme zum Vorlegungsbeschluß vom 15. Juni 1994 beantragt, die dem Großen Senat unterbreitete Rechtsfrage wie folgt zu beantworten:
"In Fällen, in denen der Täter sein Opfer zum Zwecke der Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung entführt, ist § 239 b StGB anwendbar."
Zur Begründung seines Antrags hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:
Die Rechtsauffassung, die §§ 177, 178 StGB würden im Zwei- Personen-Verhältnis die Bestimmung des § 239 b StGB unter dem Gesichtspunkt der Gesetzeseinheit verdrängen, sei nicht begründet. Auch eine einengende Auslegung des § 239 b StGB im Sinne der Rechtsprechung des 1. Strafsenats sei weder unter historischen noch teleologischen oder systematischen Aspekten zu rechtfertigen; in diesem Zusammenhang sei auch das vom 1. Strafsenat entwickelte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der "Außenwirkung des abgenötigten Verhaltens" kein taugliches Kriterium zur einengenden Anwendung des § 239 b StGB.
II.
Die Voraussetzungen für die Vorlage nach § 132 Abs. 2 GVG sind erfüllt. Die Beantwortung der vorgelegten Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Der 2. Strafsenat kann nur im Falle ihrer Bejahung die Revision des Angeklagten verwerfen. Damit würde er sich jedoch in Widerspruch zur Rechtsprechung des 1. Strafsenats setzen.
Die beiden Strafsenate beurteilen die streitige Rechtsfrage allerdings unter verschiedenen rechtlichen Aspekten. Der 1. Strafsenat ist der Meinung, § 239 b StGB sei auf Fälle der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung, in denen das Entführen oder das Sich-Bemächtigen unmittelbares Nötigungsmittel ist, nicht anwendbar, weil der Gesetzgeber diese Fälle nicht unter den Tatbestand habe einordnen wollen (BGHSt 39, 330, 334). Dieser Standpunkt ist auch nicht durch die in der Antwort an den 2. Strafsenat gebrauchte Wendung, §§ 177, 237 StGB seien gegenüber § 239 b StGB die speziellere Regelung, in Frage gestellt. Nach dem Gesamtzusammenhang seiner Argumentation in den Entscheidungen vom 17. November 1992 (BGHSt 39, 36) und vom 5. Oktober 1993 (BGHSt 39, 330) kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der 1. Strafsenat davon ausgeht, § 239 b StGB sei deshalb auf die genannten Sachverhalte nicht anwendbar, weil der Tatbestand nicht erfüllt sei.
Demgegenüber betrachtet der 2. Strafsenat die streitige Rechtsfrage - ersichtlich unter Bejahung der tatbestandsmäßigen Erfüllung des § 239 b StGB durch den dem Vorlegungsfall zugrunde liegenden Sachverhalt - ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Gesetzeskonkurrenz in Form der Spezialität; er kommt zu dem Ergebnis, daß der Unrechtsgehalt der Entführung in dem der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung einerseits nicht aufgehe, andererseits aber § 239 b StGB sich als qualifizierter Entführungstatbestand darstelle, der im Verhältnis zu § 237 StGB lex specialis sei.
Der unterschiedliche Ansatz in der Beurteilung der streitigen Rechtsfrage ändert an der Divergenz der Rechtsmeinungen im Sinne des § 132 Abs. 2 GVG nichts. Denn die vom 2. Strafsenat aufgeworfenen Konkurrenzfragen können sich ihm nur stellen, wenn er zuvor die Tatbestandsmäßigkeit des zugrunde liegenden Sachverhalts auch bezüglich der Vorschrift des § 239 b StGB in Abweichung von der Rechtsauffassung des 1. Strafsenats bejaht hat.
III.
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die Rechtsfrage wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich.
1. Die Anwendung des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB auf Sachverhalte der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Diese Vorschrift beschreibt ein sog. unvollkommenes zweiaktiges Delikt. Dabei muß zwischen dem ersten, objektiv verwirklichten Teilakt des Entführens oder des Sich-Bemächtigens und dem zweiten, in die Vorstellung des Täters verlagerten Teilakt der angestrebten weitergehenden Nötigung ein funktionaler Zusammenhang bestehen. Der Täter muß beabsichtigen, die durch die Entführung oder das Sich-Bemächtigen für das Opfer geschaffene Lage zur qualifizierten Drohung auszunutzen und durch sie zu nötigen.
a) Das ergibt sich aus Wortlaut, Aufbau und systematischer Stellung der Vorschrift.
§ 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB trennt zwischen den Tathandlungen einerseits und der mit diesen Handlungen verfolgten Absicht andererseits. Dabei ergibt sich aus den Worten "um durch die Drohung mit dem Tod ... zu nötigen", daß es dem Täter darum gehen muß, die von ihm geschaffene Lage des Opfers zu seinen Nötigungshandlungen, und zwar zu den in der Vorschrift genannten qualifizierten Nötigungshandlungen (Drohung mit dem Tod usw.) auszunutzen.
Das wird bestätigt durch die eine vergleichbare Fallgestaltung betreffende Vorschrift des § 239 a Abs. 1 StGB. Dort wird ausdrücklich ausgesprochen, daß das Ausnutzen der durch die Zwangsmaßnahme geschaffenen Lage die Absicht des Täters sein muß.
Diese Auslegung des Tatbestandes des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB findet ihre Entsprechung im zweiten Halbsatz dieser Vorschrift. Dort wird ebenfalls vorausgesetzt, daß der Täter die durch die Entführung oder das Sichbemächtigen geschaffene Lage zu einer "solchen", d.h. qualifizierten Nötigung "ausnutzt". Im Tatbestand des ersten Halbsatzes ist dieses Merkmal in die Absicht des Täters (vor)verlegt.
Die hier vorgenommene Auslegung ergibt schließlich, daß in der Anwendung des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz kein grundlegender Unterschied für die Fallgruppen besteht, in denen einerseits das unmittelbare Tatopfer (sog. Zweipersonenverhältnis), andererseits ein Dritter genötigt werden soll (sog. Dreiecksverhältnis). Für beide Fallgruppen gilt, daß der Täter beabsichtigen muß, die durch die Entführung oder das Sichbemächtigen für das Opfer geschaffene Lage zur qualifizierten Drohung auszunutzen und durch sie zu nötigen.
b) Die Entstehungsgeschichte des § 239 b StGB bestätigt diese Auslegung.
Die Neufassung des § 239 b StGB durch das Gesetz vom 9. Juni 1989 (BGBl. I 1059) nahm frühere Vorschläge (Gesetzentwurf des Bundesrats vom 20. Juni 1975 BTDrucks. 7/4004; Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 21. Mai 1975 BTDrucks. 7/3661) auf, in die Strafbestimmung ebenso wie in § 239 a StGB auch Fälle einzubeziehen, in denen sich die Nötigungshandlung nicht gegen einen Dritten richten sollte, sondern in denen die Person, die der Täter in seine Gewalt gebracht hatte, selbst Opfer der Nötigung sein sollte.
Unberührt von dieser Gesetzesänderung blieb das weiterhin gemäß § 239 b StGB alternativ tatbestandsmäßige "Dreiecksverhältnis". Dieses entspricht dem überlieferten Begriff der Geiselnahme, der Fälle umschreibt, in denen das Opfer fremder Gewalt unterstellt und festgehalten wird, um durch seine Bedrohung eine Forderung gegen Dritte durchzusetzen (vgl. Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl. und Meyers Enzyklopädisches Lexikon 9. Aufl. je zum Stichwort "Geiselnahme"). Die beim Dreiecksverhältnis außer Frage stehende Unterscheidung zwischen Entführen und Sich-Bemächtigen einerseits und der beabsichtigten weitergehenden Nötigung andererseits wollte der Gesetzgeber auch für die Fälle nicht aufheben, in denen sich die Nötigungshandlung gegen das unmittelbare Opfer der Tat richtet. Das wird schon aus der Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung deutlich (BTDrucks. 11/2834), wonach die Erweiterung des Tatbestandes des § 239 b StGB auf Fälle zielt, "in denen auf den Entführten selbst (weiterer) Zwang ausgeübt werden soll, um ihn zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen" (S. 9). Über den Zwang, der schon im Sich-Bemächtigen liegt, muß daher weiterer, den eigentlichen Zielen des Täters dienender Zwang gewollt sein. Diese Vorstellung des Gesetzgebers verdeutlicht das dort angeführte Beispiel, wonach der Tatbestand erfüllt sein soll bei Geiselnahme eines Politikers, um ihm selbst ein bestimmtes Verhalten abzupressen (a.a.O. S. 9); gleiches gilt für die weiter im Schrifttum genannten Beispiele der Freilassung von Gefangenen, Verteilung von Mitteln an Arme oder Verlesung einer Erklärung im Rundfunk (vgl. Dreher/Tröndle, StGB 44. Aufl. § 239 b Rdn. 4).
Nach diesen Grundsätzen bestimmt sich auch die Anwendbarkeit des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB in den Fällen der §§ 177, 178 StGB. Das abzunötigende Verhalten, auf das die Absicht des Täters gerichtet sein muß, ist nicht eingegrenzt. Es kann daher auch in der Duldung des Beischlafs oder anderer sexueller Handlungen bestehen.
2. Die gegen die Anwendung des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB auf solche Sachverhalte für die Fälle der §§ 177, 178 StGB erhobenen Bedenken greifen nicht durch.
Der 1. Strafsenat leitet diese Bedenken vor allem daraus her, daß eine Bestrafung von Verhaltensweisen, wie sie die Vergewaltigung und sexuelle Nötigung darstellen, nach § 239 b StGB weitreichende Folgen auf die Versuchs- und Rücktrittsgrenzen sowie auf die Zumessung der Strafen hätte. Im Ergebnis würden die Strafvorschriften der §§ 177, 178 StGB, obwohl sie seit jeher zum Kernbestand des materiellen Strafrechts zählten, bei tateinheitlicher Verurteilung nach § 239 b StGB in den Hintergrund treten und nur noch der Klarstellung des Umstandes dienen, daß das Ziel des Vorbereitungsdelikts Geiselnahme vom Täter erreicht sei (1. Strafsenat BGHSt 39, 36, 41). Doch findet eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB - über die vom Großen Senat für Strafsachen aufgezeigten Grenzen hinaus - im Gesetz keine Stütze.
Das Kriterium der Außenwirkung, auf das der 1. Strafsenat entscheidend für die Abgrenzung abhebt (BGHSt 39, 36, 43), muß außer Betracht bleiben (ebenso Bohlander NStZ 1993, 439; Renzikowski JZ 1994, 492, 498; vgl. Tenckhoff/Baumann JuS 1994, 836, 838). Insoweit ist schon einzuwenden, daß das Merkmal der Außenwirkung nicht mit der gebotenen Bestimmtheit zu umschreiben ist. Zudem gibt es nach Wortlaut und Struktur der Vorschrift keinen Grund für die Annahme, der Tatbestand sollte nicht erfüllt sein, wenn sich zum Beispiel der Täter des Opfers bemächtigt, um ihm durch weiteren Zwang eine - nur dem Täter wichtige - Information, wie ein Staatsgeheimnis oder den Fundort einer Sache, abzupressen. Außer Frage steht auch, daß der Tatbestand in dem Fall erfüllt wäre, in dem der Täter eine Frau mit einer Gefangennahme von über einer Woche bedroht, um sie auf diesem Wege zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Im Ergebnis führt das Merkmal der Außenwirkung zum Festhalten an einer - wenn auch möglicherweise eingeschränkten - Dreiecksstruktur. Das wäre aber mit der insoweit eindeutigen Vorgabe, die der Neufassung des § 239 b StGB zugrunde liegt, nicht zu vereinbaren.
Im Ergebnis das gleiche gilt für das vom 5. Strafsenat für das Verhältnis von § 239 b StGB zu § 240 StGB entwickelte Kriterium der Opfersicht. Danach soll in einem Zwei-Personen-Verhältnis die Geiselnahme nach § 239 b StGB die Nötigung nach § 240 StGB nur dann verdrängen, wenn infolge einer Nötigungshandlung der - angedrohte - Tod oder die - angedrohte - schwere Körperverletzung des Opfers aus dessen Sicht unmittelbar bevorstehen (BGHSt 40, 90). Dagegen hat der 1. Strafsenat in seinem Beschluß vom 4. Januar 1994 (1 ARs 38/94, NStZ 1994, 284) eingewandt, daß das Vorliegen eines Tatbestandes nicht davon abhängig gemacht werden könne, ob (bei gleicher objektiver und subjektiver Tathandlung) das Opfer die Drohung mit dem Tode oder der schweren Körperverletzung mehr oder weniger ernst nimmt oder die Verwirklichung der Drohung als mehr oder weniger nahe bevorstehend empfindet. Das vom 5. Strafsenat genannte Kriterium ist im Zusammenhang mit den §§ 177, 178 StGB jedenfalls nicht praktikabel: Nachträglich läßt sich in der Regel nicht rekonstruieren, ob der Tod oder die schwere Körperverletzung (objektiv und aus der Sicht des Opfers) unmittelbar bevorgestanden haben.
3. Die Anwendung der zu 1. dargestellten Grundsätze auf die Tathandlungen des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB führt in Fällen, in denen der Täter beabsichtigt, das Opfer zu vergewaltigen oder es sexuell zu nötigen, zu folgenden Ergebnissen: Durch die mit der Entführung verbundene Ortsveränderung wird das Tatopfer regelmäßig in seinen Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten in einem Maß eingeschränkt, daß es dem ungehemmten Einfluß des Täters ausgesetzt ist (vgl. BGHSt 22, 178, 179; 24, 90, 93; BGH NJW 1989, 917). Diese Lage kann der Täter dazu ausnutzen, um das Opfer durch die Drohung mit dem Tod oder mit anderer qualifizierter Drohung zur Duldung der Vergewaltigung oder der sexuellen Handlungen zu nötigen. Beabsichtigt er dies während der Entführung, ist der Tatbestand des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB erfüllt.
Bemächtigt sich der Täter des Opfers, ohne es zu entführen, so wird die Voraussetzung häufig nicht erfüllt sein, daß der Täter die von ihm geschaffene Lage (zur weiteren) Nötigung durch qualifizierte Drohung ausnutzt. Das gilt besonders in den Fällen, in denen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sich- Bemächtigen qualifizierte Drohungen in weitergehender Nötigungsabsicht eingesetzt werden. Anders als die Entführung schafft das Sich-Bemächtigen vielfach keine derartige Lage; denn eine Lage, die ausgenutzt werden soll, setzt eine gewisse Stabilisierung voraus. Vor allem wird es in diesem Falle häufig am Merkmal des Ausnutzens fehlen. Dient die - qualifizierte - Drohung wie das Vorhalten einer Schußwaffe zugleich dazu, sich des Opfers zu bemächtigen und es in unmittelbarem Zusammenhang zu weitergehenden Handlungen oder Duldungen, wie etwa zur Duldung von sexuellen Handlungen zu nötigen, wird die abgenötigte Handlung in der Regel ausschließlich durch die Bedrohung mit der Waffe durchgesetzt, ohne daß der Bemächtigungssituation die in § 239 b StGB vorausgesetzte eigenständige Bedeutung zukommt (vgl. BGH NJW 1989, 917).
4. Im Vorlegungsbeschluß sind auch Fragen der Konkurrenz zwischen § 239 b StGB und §§ 177, 178 StGB angesprochen. Hierüber hat der Große Senat nicht zu entscheiden, da diese Fragen zwischen dem 1. und 2. Strafsenat nicht streitig sind. Insbesondere hat der 1. Strafsenat nicht im Sinne des § 132 Abs. 2 GVG entschieden, die Vorschriften der §§ 177, 178 StGB schlössen unter dem Gesichtspunkt der Spezialität die Anwendung des § 239 b StGB aus. Ein Fall echter Spezialität käme auch nicht in Betracht, weil die §§ 177, 178 StGB weder sämtliche Voraussetzungen des § 239 b Abs. 1 erster Halbsatz StGB erfüllen noch zusätzliche privilegierende Merkmale aufweisen (Tenckhoff/ Baumann JuS 1994, 836, 839; a.A. Geerds JR 1993, 424).