RG, 23.04.1880 - III 603/80
Übereinkunft, daß die Fortentrichtung zugesagter Unterstützungsgelder von der Entscheidung eines sog. Familienrates abhängig sein soll. Freies oder billiges Ermessen? Inwiefern ist Auslegung einer Vertragsurkunde Revisionsgrund?
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin, Chr. V. zu G., stirbt im Februar 1873 mit Hinterlassung einer Witwe und sechs unversorgter Kinder in hilfsbedürftiger Lage. Die beiderseitigen nächsten Verwandten halten eine Unterstützung der Hinterbliebenen für angemessen. Es verpflichten sich die Eltern der Klägerin, derselben lebenslänglich eine Wohnung unentgeltlich zu überlassen, fünf Verwandte des Mannes, indem sie - unter der Herrschaft des gemeinen Rechtes - zu einem sog. Familienrate zusammentraten, ihr bestimmt bezeichnete Geldbeträge in vierteljährigen Raten zu zahlen; die Klägerin selbst unterstellt ein ihr für Chr. V. ausbezahltes Lebensversicherungskapital der Verwaltung des Familienrates. Das von allen Beteiligten unterzeichnete Vertragsprotokoll vom 26. Februar 1873 enthält u. a. die Bestimmung:
"Die Unterstützung wird abhängig gemacht von dem sittlichen Verhalten der Empfängerin und der guten Erziehung ihrer Kinder, und hört auf, sobald ihre Verhältnisse sich so gestalten, daß sie oder ihre erwerbsfähig gewordenen Kinder selbst für den Unterhalt der Familie sorgen können, worüber dem Familienrate die Entscheidung zusteht."
Bis Ende 1874 bez. 1876 werden die Unterstützungsgelder gezahlt. Am 15. Februar 1877 beschließt jedoch der D.'sche Familienrat protokollarisch die Einstellung der Zahlungen, weil die Witwe V. den Bedingungen, von denen die Unterstützung abhängig gemacht worden sei, nicht entsprochen habe. Es wird dies näher motiviert, und zugleich die Auflösung des Familienrates ausgesprochen. Ein Mitglied des letzteren ist nicht persönlich erschienen, hat sich aber schriftlich für jenen Beschluß ausgesprochen; ein anderes Mitglied stimmt demselben nicht zu. Nunmehr erhebt die Witwe gegen vier der männlichen Verwandten des Chr. V. Klage auf Auszahlung der rückständigen Leistungen und Anerkennung der Verbindlichkeit zur Fortentrichtung der laufenden. Die Beklagten bestreiten die Übernahme einer vertragsmäßigen Verpflichtung und behaupten eventuell, daß der Rücktritt vom Vertrage ihrer Willkür anheimgegeben sei.
Die erste Instanz verurteilt die Beklagten zur Zahlung der bis zum Tage des Einstellungsbeschlusses verfallenen Alimente und weist die Klage im übrigen ab, erwägend:
"Ob Klägerin bei den Verhandlungen vom 26. Febr. 1873 mitgewirkt oder die Vertragsurkunde im Einverständnis mit dem D.'schen Familienrate unterschrieben habe, sei gleichgültig; da unbestritten ihre Eltern als Mitkontrahenten aufgetreten seien und zu Gunsten der Klägerin paktiert hätten, auch der Familienrat das Lebensversicherungskapital in Verwaltung genommen habe. Die Urkunde unterstelle nun die Fortgewährung der Rente ausschließlich der vorgängigen Beschlußfassung des Familienrates, der nach freiem, die richterliche Kontrolle ausschließendem, Ermessen zu befinden habe. Danach sei für die Vergangenheit die Lossagung der Verpflichteten vom Vertrage ausgeschlossen, während für die Zukunft, vom Tage des Familienratsbeschlusses ab, letzterer in Wirksamkeit trete."
Die bis dahin im alten Verfahren anhängige Sache gelangt durch Berufung der Klägerin zur Verhandlung im neuen Verfahren nach Maßgabe des hessischen Ausführungsgesetzes zur C.P.O. vom 4. Juni 1879 an das Oberlandesgericht zu Darmstadt. Dieses bestätigt durch Urteil vom 12. Januar 1880.
Auf Revision der Klägerin hebt das Reichsgericht dieses Erkenntnis auf. Zu bemerken ist noch, daß die zweite Instanz davon ausging, es sei die vertragsmäßige Verpflichtung der Beklagten zu den fraglichen Unterstützungsbeiträgen in dem Stadtgerichtsurteile rechtskräftig anerkannt, da die Beklagten die auf die Urkunde vom 26. Febr. 1873 gestützte Verurteilung zur Zahlung der Renten für die Vergangenheit nicht angefochten hätten. Das Reichsgericht billigte diese Annahme auf Anschlußbeschwerde der Revisionsbeklagten nicht, erachtete jedoch den Streitpunkt nach Lage der Sache als unerheblich für die Entscheidung über die Revision der Klägerin. Das Weitere ergiebt sich aus nachstehenden Gründen:
Gründe
"Die erhobene Beschwerde ist begründet.
Das Berufungsurteil geht davon aus, es komme nur der Einwand der Beklagten in Betracht, daß die Unterstützungspflicht der Beklagten nach Maßgabe der Urkunde vom 15. Februar 1877 durch Beschluß des D.'schen Familienrates beendigt sei. Dieser Einwand sei für begründet zu erachten; denn die Urkunde vom 26. Februar 1873 enthalte eine vertragsmäßige Resolutivbedingung, in deren Folge die Fortdauer der Alimentationsleistung von der nur durch die Vereinigung zum Familienrate beschränkten Willkür der Verpflichteten abhängig gemacht worden sei, und es stehe keineswegs dem Richter die Kognition darüber zu, ob der Beschluß des Familienrates, welcher den Eintritt der Bedingung für gegeben erachte, genügend motiviert sei. Unter diesem Gesichtspunkte müsse vorerst die Thatsache als feststehend angesehen werden, daß diejenigen Mitglieder der Familie D., welche bei Abschluß des Vertrages vom 26. Februar 1873 mitwirkten, den beschlußberechtigten Familienrat bildeten; sodann aber sei nach der vertragsmäßigen Intention jener Bestimmung der Wille der Kontrahenten dahin gegangen, daß der Beschluß der Majorität der Familienratsmitglieder verbindende Kraft in sich tragen solle. Da nun die Urkunde vom 15. Februar 1877, bezüglich deren ein ausdrücklicher Dissens des Mitbeklagten L. D. nicht vorliege oder behauptet worden sei, einen solchen Majoritätsbeschluß feststelle, so sei eine dem Vertrage entsprechende Aufhebung der Alimentationsverbindlichkeit der Beklagten mit dem Tage dieses Beschlusses eingetreten.
Wenn nun die Revisionsbeschwerde rügt, daß das Berufungsgericht unter Verletzung von Rechtsnormen die Gültigkeit eines Majoritätsbeschlusses des D.'schen Familienrates angenommen habe, so ist dieser Vorwurf nach keiner Richtung hin begründet. Daß mehrere Verpflichtete den Rücktritt von einem Vertrage, wenn und soweit ein solcher Rücktritt überhaupt in ihren Willen gestellt ist, von dem Beschlusse der Majorität abhängig machen können, ist nicht zu bezweifeln. Die Erwägung des Berufungsgerichtes sodann, daß die vertragsmäßige Intention der Kontrahenten dahin gegangen sei, der Beschluß der Majorität der Familienratsmitglieder solle verbindende Kraft in sich tragen, ist eine thatsächliche Feststellung, hergeleitet teils aus dem Wortlaute der Urkunde vom 26. Februar 1873, _teils aus den Umständen des Falles, bez. dem Gesamtinhalt der Verhandlungen , und unterliegt als solche nicht der Nachprüfung in der Revisionsinstanz. Die Behauptung, daß bei dem Abschluß und der Auslegung von Verträgen nur der ausgesprochene Wille der Beteiligten rechtlich erheblich sei, ist in den Gesetzen nicht begründet und ein Verstoß gegen die Verhandlungsmaxime um so weniger erfindlich, als die Revisionsbeklagten schon durch die bloße Berufung auf die Urkunde vom 15. Februar 1877 die Frage, ob ein Majoritätsbeschluß des Familienrates sie zum Abgehen vom Vertrage berechtige, der richterlichen Beurteilung unterbreiteten. Der Einwand endlich, daß L. D. zur Sitzung des Familienrates nicht eingeladen worden sei, ist in den vorderen Instanzen nach dem Thatbestande des Berufungsurteiles nicht vorgebracht worden und daher in der Revisionsinstanz unzulässig. Einer ausdrücklichen Feststellung darüber, daß L. D. geladen sei, bedurfte es überdies mit Rücksicht auf den bezüglichen Inhalt der Urkunde vom 15. Februar 1877 nicht.
Dagegen ist die weitere Rüge gerechtfertigt, daß das Berufungsgericht die rechtliche Bedeutung der Abrede über die Einstellung der zugesagten Unterstützungsgelder verkannt habe, sofern es annehme, daß die Fortgewährung der letzteren der Willkür der Verpflichteten überlassen worden sei. . . .
Inhaltlich der Urkunde vom 26. Februar 1873 haben sich die dort genannten fünf Verwandten des verstorbenen Maschinenmeisters V. verpflichtet, der nachgelassenen Witwe desselben eine jährliche Unterstützung in näher festgesetzten Beträgen zukommen zu lassen, diese Unterstützung jedoch von dem sittlichen Verhalten der Empfängerin und guter Kindererziehung abhängig gemacht, und zugleich bestimmt, daß die Zahlung aufhören solle, sobald sich die Verhältnisse der Witwe so gestalten würden, daß sie oder ihre erwerbsfähig gewordenen Kinder selbst für die Unterhaltung der Kinder Sorge tragen könnten. Gleichwie die Einigung der Verwandten nach vorgangiger Zusammenberufung und Beschlußfassung eines sog. Familienrates erfolgte, so ist auch festgesetzt worden, daß diesem die Entscheidung_ darüber zustehen solle, ob die Voraussetzungen zur Fortentrichtung der Unterstützungsgelder noch vorhanden seien.
Nicht um die Verpflichtungen eines - als juristische Person oder Kollegium überhaupt nicht anzusehenden - Familienrates handelt es sich hiernach, sondern - falls der Klägerin gegenüber ein Vertragsverhältnis überhaupt bestand - um eine von jedem einzelnen Kontrahenten übernommene Verbindlichkeit, und jener Familienrat kommt nur insofern in Betracht, als die Einstellung der zugesagten Unterstützung nicht von jedem Verpflichteten nach eigenem Ermessen, sondern nach stattgehabter Beratung von der Gesamtheit bez. der Majorität der Verpflichteten auszugehen hat.
Diese Entscheidung des Familienrates darf jedoch nach Geist und Wortlaut des Vertrages keine willkürliche sein; sie ist vielmehr von bestimmten und objektiv bestimmbaren Momenten abhängig gemacht worden. Wenn daher die Feststellung der zum Rücktritte vom Vertrage berechtigenden Thatsachen auch an sich dem Beschlusse des Familienrates unterliegt, so kann dieser Beschluß doch von der Alimentationsberechtigten als offenbar unbillig angefochten werden, sei es, daß sie die Unwahrheit der behaupteten Thatsachen, sei es, daß sie darzuthun imstande ist, daß solche, selbst ihre Wahrheit vorausgesetzt, nach vernünftigem und billigem Ermessen die Entscheidung des Familienrates nicht zu rechtfertigen vermöchten.
Unter diesen Umständen reicht die bloße Erklärung der Beklagten, daß sie den Fall des Abgehens vom Vertrage für gegeben erachteten, nicht aus. Dieselben müssen die Gründe, welche den Familienrat zur Einstellung der Alimentationsleistungen für die Zukunft bestimmt haben, thatsächlich darlegen, und es ist dessen Entscheidung selbst der richterlichen Nachprüfung und, erforderlichen Falles, nach vorgängiger Beweisführung der über die Existenz und Erheblichkeit der zu deren Begründüng geltend gemachten Thatumstände, der richterlichen Abänderung unterworfen. Daß hierbei die Beweislast die Klägerin trifft, folgt aus der Natur des durch die streitige Verabredung geschaffenen Rechtsverhältnisses, vermöge dessen die Berechtigte nur Schutz dagegen verlangen kann, daß die Verpflichteten nicht etwa das in sie gesetzte Vertrauen einer gewissenhaften und billigen Abwägung der die Fortdauer der Rente bedingenden Verhältnisse mißbrauchen; ff. 1. 22 §. 1 Dig. de R. J. (50, 17); I. 30 pr. Dig. de oper. lib. (38, 1); I. 7 pr. Dig. de contr. emt. (18, 1); 1. 3. Cod. de dot. prom. (5, 11); I. 6. 77-80 Dig. pro socio (17, 2). Seuffert, Archiv für Entscheidungen Bd. 20 Nr. 218; Bd. 26 Nr. 187; Bd. 30 Nr. 237; Bd. 32 Nr. 118; Bd. 33 Nr. 113.
Der Anfechtung des Familienratsbeschlusses vom 15. Februar 1877 wegen offenbarer Unbilligkeit steht der Umstand nicht entgegen, daß die Urkunde vom 25. Februar 1873 die Bestimmung enthält, daß "dieses Instrument in allen Teilen unanfechtbar sein solle". Denn ganz abgesehen davon, daß diese Klausel in einem Zusammenhange vorkommt, welcher es mindestens zweifelhaft erscheinen läßt, ob sich solche auf die hier streitige Frage des Rücktrittes vom Vertrage bezieht, schließt sie auf keinen Fall die Zulässigkeit des Rechtsweges wegen kontraktwidrigen Verhaltens der Beklagten aus.
Mit Unrecht behauptet hiernächst der Anwalt der Beklagten, daß das Berufungsurteil von der thatsächlichen Erwägung ausgehe, es sei das Abgehen vom Vertrage in die Willkür der Verpflichteten gestellt worden. Eine thatsächliche Feststellung dahin, daß nach dem aus den Umständen erkennbaren Willen der Beteiligten die fragliche Stipulation in dem ihr von den Beklagten untergelegten Sinne zu interpretieren sei, enthält in der hier in Betracht kommenden Beziehung das Berufungsurteil nicht; dasselbe folgert nur aus dem Wortlaute der Urkunde, daß der streitige Vorbehalt jenen Inhalt habe. An diese Rechtsauffassung ist aber das Revisionsgericht nicht gebunden. Ist ein Vertrag zwischen den streitenden Teilen zustandegekommen, so erfüllen ihn die Beklagten, was auch ihr Beweggrund zu dessen Abschluß gewesen sein mag, nicht mehr aus Liberalität oder vermöge moralischer Verbindlichkeit, sondern aus Rechtspflicht. Würde die Bestimmung, daß die Entscheidung über den Eintritt der Voraussetzung zum Rücktritte vom Vertrage dem Familienrate zustehe, nicht getroffen worden sein, so würde die Frage der richterlichen Kontrolle gar nicht entstehen, vielmehr wie bei jeder anderen mit dem Eintritte eines gewissen Ereignisses endigenden Übereinkunft nur zu untersuchen sein, ob das Ereignis eingetreten sei. Erst der Zusatz, daß den Verpflichteten die Entscheidung über das Abgehen vom Vertrage bei dem Vorhandensein einer bestimmten Voraussetzung vorbehalten bleibe, tragt jene Frage in das Vertragsverhältnis hinein, und gerade dieser Zusatz ist es, der im Zweifel dahin auszulegen ist, daß die Verpflichteten nach billigem Ermessen zu verfahren haben.
Endlich ist auch die Ausführung der Beklagten irrig, daß die Frage, ob die Verpflichtung aufgehört habe, von dem Inhalte und damit dem Bestande des Vertrags überhaupt sich nicht trennen lasse. Will man die fragliche Stipulation als Resolutivbedingung ansehen, so kommt doch bei dem Eintritte derselben nicht der Vertrag mit allen seinen Wirkungen in Wegfall, so daß derselbe als von Anfang an nicht abgeschlossen zu betrachten wäre; er cessiert nur in Ansehung der Fortdauer der Alimentationsleistungen, während die bereits begründeten Wirkungen bestehen bleiben.
Der Beschluß des Familienrates vom 15. Februar 1877 hat die Einstellung der zugesagten Unterstützung teils allgemein, teils durch Anführung bestimmter Thatsachen begründet. In letzterer Beziehung ist dem Berufungsurteil beizutreten, daß die lediglich aus den Vermögensverhältnissen der Klägerin hergenommene Motivierung für die richterliche Würdigung als durchaus unzureichend erscheine. In ersterer Hinsicht muß dagegen über die in erster Instanz nachträglich unternommene Motivierung nach Maßgabe der vorstehend entwickelten Grundsätze Beweis erhoben und zu dem Ende die Sache an das Berufungsgericht (§. 528 C.P.O.) zurückverwiesen werden."