RG, 19.11.1920 - III 154/20

Daten
Fall: 
Zwangsverwaltung in einem besetzten Gebiet
Fundstellen: 
RGZ 101, 3
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
19.11.1920
Aktenzeichen: 
III 154/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Stuttgart
  • OLG Stuttgart

1. Ergreift die in § 1 Abs. 2 der Anlage zu Art. 297, 298 des Friedensvertrags angeordnete Ungültigkeit der in den besetzten Gebieten getroffenen Maßnahmen auch die rechtlichen Beziehungen Deutscher aus dem mit einem Zwangsverwalter im besetzten Gebiete geschlossenen Vertrage?
2. Inwieweit dauert das Amt der in Belgien und Frankreich eingesetzt gewesenen deutschen Zwangsverwalter nach der VO. vom 2. Juni 1920 noch fort?

Tatbestand

Der Kläger forderte den Kaufpreis für mehrere auf Bestellung der Beklagten zu Ende Oktober und Anfang November 1918 in der Fabrik Le Progrès Industriel hergestellte, in den ersten Tagen des November 1918 der Eisenbahn zur Beförderung an die Beklagte übergebene Werkzeugmaschinen. Die Instanzen haben klagegemäß erkannt.

Die Revision, die lediglich den Einwand wiederholte, daß der Kläger nach dem Waffenstillstands- und dem Friedensvertrage zur Klage nicht mehr befugt sei, blieb erfolglos.

Gründe

Der gemäß der VO. über Zwangsverwaltungen in Belgien vom 17. Februar 1915 zum Zwangsverwalter bestellte Kläger war - behufs Wahrung der Interessen des Deutschen Reiches - über das Vermögen der Firma Le Progrès Industriel ausschließlich verfügungsberechtigt und zu allen Rechtshandlungen für sie ausschließlich befugt. Nach § 1 Abs. 2 der Anlage zu Art. 297, 298 des Friedensvertrags sind die in den besetzten Gebieten getroffenen Kriegsmaßnahmen, darunter die Zwangsverwaltungen, unwirksam ( nulles, void). Die Nichtigkeit begründet den Wiedergutmachungsanspruch der betroffenen Firma und die entsprechende Wiedergutmachungsverpflichtung des Deutschen Reichs (Art 231 flg.). Diese Wiedergutmachung ist ausschließlich in den Formen des Verfahrens von Staat zu Staat zu erledigen. Die Nichtigkeit ist aufgestellt nur für das Verhältnis zwischen dem feindlichen Ausland und seinen Angehörigen einerseits und dem Deutschen Reiche und seinen Angehörigen anderseits. Nur dieses Verhältnis, einzelne Sonderbestimmungen ausgenommen, regelt der Friedensvertrag; er trifft nicht das innendeutsche Verhältnis, wie es sich aus deutschen Kriegsmaßnahmen für Deutsche oder zwischen Deutschen nach deutschem Recht ergibt Für und gegen Deutsche bleiben also die Rechtsgeschäfte des Zwangsverwalters rechtsgültig und bleibt das Amt des Zwangsverwalters weiter fortbestehen, um insoweit die aus der Zwangsverwaltung sich ergebenden Rechtsverhältnisse abzuwickeln. Der Zwangsverwalter handelt nunmehr für Rechnung des Deutschen Reichs; denn dieses hat zur Erfüllung seiner Wiedergutmachungspflicht die Ergebnisse der Zwangsverwaltungen klarzustellen und die Erlöse zu verwenden. Nach der gegenteiligen Auffassung wären die deutschen Schuldner zum Schaden des Deutschen Reichs ihrer Schuld endgültig entledigt und wären die deutschen Gläubiger mangels irgendeines Schuldners ihrer Forderung endgültig verlustig.

Diese Rechtslage - daß die Zwangsverwaltungen für das besetzt gewesene feindliche Gebiet fortdauern können und müssen, soweit sie von der Nichtigkeitsbestimmung des Friedensvertrags nicht getroffen werden - hat der Erlaß des Reichsministers des Innern vom 11. Mai 1919 richtig erkannt und richtig formuliert dahin:

"Die Verordnungen des Generalgouverneurs in Belgien besitzen auch heute noch ihre Geltungskraft, soweit ihre Wirksamkeit von vornherein nicht nur an das belgische Gebiet gebunden war, sondern sich über dieses hinaus, z. B. auf in Deutschland deponierte Vermögenswerte erstreckte. Befinden sich diese Vermögenswerte noch in Deutschland und haben die Zwangsverwalter über ihre Geschäftsführung und die Verwaltung dieser Objekte noch nicht abgerechnet, so sind sie auch heute noch die gesetzlich legitimierten Vertreter dieser Vermögenswerte und können als solche klagen und verklagt werden."

Entsprechend dieser allein zutreffenden Rechtsauffassung setzt die auf Grund des § 27 des AG. z. FV. erlassene VO. vom 2. Juni 1920 die Fortdauer des Amtes der für das besetzt gewesene feindliche Gebiet bestellten Zwangsverwalter voraus. Sie bestimmt nämlich, daß diese Zwangsverwalter der Reichsentschädigungskommission als der für die Abwicklung ihrer Geschäfte allein zuständigen Stelle über ihre Tätigkeit Auskunft zu erteilen und bei Erstattung "ihrer Schlußberichte die Anweisungen jener Kommission, als der übergeordneten leitenden Behörde, zu beachten haben.