RG, 28.04.1919 - VI 368/18
Kann die Ehescheidungsklage aus dem Grunde abgewiesen werden, daß der klagende Ehegatte, weil er sich wegen einer besonders schweren Eheverfehlung innerhalb der Frist des § 1571 BGB. zur Scheidungsklage nicht entschließen konnte, sie auch nicht erhoben haben würde, wenn er von der jetzt geltend gemachten leichteren Verfehlung innerhalb der Frist erfahren hätte?
Aus den Gründen
... "Auch die Widerklage der Beklagten, die allein noch im Streit steht, hält das Oberlandesgericht für unbegründet. Wegen des Ehebruchs des Klägers mit der K. habe sie das Recht auf Scheidung gemäß § 1571 BGB. verloren, weil sie unterlassen habe, innerhalb der sechsmonatigen Frist seit dem Empfange der gemäß § 1571 Abs. 2 Satz 2 an sie gerichteten Aufforderung vom 13. September 1916 die Scheidungsklage zu erheben. Aus dem gleichen Grunde könne sie auch wegen des ehewidrigen Verhaltens des Klägers zur Sch. und zur Helene R. die Scheidung nicht mehr beanspruchen, selbst wenn sie hiervon erst im Laufe des Prozesses Kenntnis erlangt haben sollte. Denn es sei zu unterstellen, daß sie, wenn sie sich wegen des Ehebruchs mit der K. trotz des mit der Nichtbefolgung der Aufforderung verbundenen Rechtsverlustes zur Scheidungsklage nicht entschließen konnte, diese Klage auch dann nicht erhoben haben würde, wenn sie die verhältnismäßig leichteren Verfehlungen des Klägers mit der Sch. und der R. schon zu einer Zeit erfahren hätte, als die Frist des § 1571 noch lief.
Diese Erwägung ist unrichtig gedacht und von Rechtsirrtum beeinflußt. Das Berufungsgericht läßt offen, ob die Ehewidrigkeiten des Klägers gegen die Sch. und die N., die es nicht näher schildert, Scheidungsgründe bilden, und ob die Beklagte erst während des Prozesses Kenntnis davon erlangt hat. Für die Revisionsinstanz ist also davon auszugehen, daß es sich bei den Ehewidrigkeiten um Scheidungsgründe handelt, und daß dafür die Frist des § 1571 noch nicht abgelaufen ist. In diesem Falle ist es aber gleichgültig, was die Beklagte getan oder unterlassen haben würde, wenn sie früher von den Scheidungsgründen Kenntnis erhalten hätte. Entscheidend ist nur, daß sie jetzt deswegen die Scheidung begehrt, und ob das Begehren berechtigt ist. Sollte aber das Berufungsgericht dir Meinung sein, daß die Beklagte, weil sie früher hierwegen keine Klage erhoben haben würde, jetzt auch kein Gehör finden kann, so wäre das rechtsirrig. Davon, daß sie auf den Scheidungsanspruch verzichtet hatte, ist keine Rede. Im übrigen hat das Gesetz die Fälle, in denen der Rechtsverlust eines Scheidungsgrundes eintritt, erschöpfend geregelt, und es steht dem Gerichte nicht zu, sie auf einem Umweg auszudehnen. Wenn ein Ehegatte über Fehltritte des andern hinweggesehen hat, so folgt daraus nicht, daß er auch künftige oder solche, die ihm erst später bekannt werden, verzeihen will. Er kann sehr wohl zu der Überzeugung kommen, daß seine Nachsicht an einen Unwürdigen verschwendet war, oder daß sich eine gedeihliche Ehe doch nicht aufrecht erhalten läßt, hiernach war das Urteil aufzuheben." ...