RG, 03.04.1919 - VI 11/19

Daten
Fall: 
Zuwiderhandlung gegen Unfallverhütungsvorschriften
Fundstellen: 
RGZ 95, 238
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
03.04.1919
Aktenzeichen: 
VI 11/19
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Duisburg
  • OLG Düsseldorf

Bedeutung der Zuwiderhandlung gegen Unfallverhütungsvorschriften für den Nachweis der Verursachung eines Unfalls.

Tatbestand

Am 17. Juli 1913 ist der Kaminbauer N. von Duisburg, während er in dem Maurereibetriebe des Beklagten in Duisburg tätig war, dadurch verunglückt, daß ihm, als er am Fußpunkte eines Kaminneubaues stand, ein von oben an einem Seile heruntergelassener eiserner Kübel, der sich infolge Anschlagens an den Schornstein aus seiner Befestigung gelöst hatte, auf den Kopf fiel und ihm die Schädeldecke und das Genick durchschlug. Für die Witwe des N. wurde von der Klägerin eine Unfallrente festgesetzt. Die Klägerin verlangt nunmehr vom Beklagten als dem Unternehmer gemäß §903 Abs. 1 und 4 RVO. Ersatz ihrer Aufwendungen, indem sie behauptet, der Beklagte habe den Unfall fahrlässig mit Außerachtlassung der Aufmerksamkeit, zu der er vermöge seines Gewerbes besonders verpflichtet war, herbeigeführt.

Das Landgericht und das Oberlandesgericht wiesen die Klage ab. Auf die Revision wurde das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe

"Insoweit das Berufungsurteil ein Verschulden des Beklagten in der Richtung, daß ein den Unfallverhütungsvorschriften entsprechendes Schutzdach unten am Kaminneubau nicht vorhanden gewesen sei, verneint, ist es von der Revision nicht angefochten. Diese wendet sich vielmehr nur dagegen, daß die Klage abgewiesen ist trotz der festgestellten Zuwiderhandlung des Beklagten gegen §16 Nr. 12 der Unfallverhütungsvorschriften, wo angeordnet ist, daß bei Beförderung von Materialien in Eimern, Kübeln und dergleichen Gefäßen die Aufzugsseile mit Doppel- oder Karabinerhaken zu versehen seien.

Nach dem Berufungsurteile hat der Beklagte diese Vorschrift insofern außer acht gelassen, als er bei dem fraglichen Kaminneubau die Verwendung von gewöhnlichen einfachen Haken - anstelle von Doppel- oder Karabinerhaken - zur Befestigung der hinauf- und herabzubefördernden Kübel am Aufzugsseile duldete. Darüber, ob sich der Beklagte des Verstoßes gegen die Unfallverhütungsvorschriften bewußt war oder ob er sich um diese Einzelheiten nicht kümmerte und deshalb von der Verwendung einfacher Haken nichts wußte, hat sich das Berufungsgericht nicht ausgesprochen. Es kann aber nicht zweifelhaft sein, daß sich der Beklagte auch im letzteren Falle einer Außerachtlassung derjenigen Aufmerksamkeit, zu der er vermöge seines Gewerbes als Bauunternehmer besonders verpflichtet war (§ 903 Abs. 1 und 4 RVO.), schuldig gemacht haben würde. Der Berufungsrichter hält die Klägerin für beweispflichtig nicht bloß dafür, daß der Beklagte im gegebenen Falle schuldhaft gegen die Unfallverhütungsvorschriften verstoßen habe, sondern auch dafür, daß bei Benutzung von Haken der vorgeschriebenen Art der Unfall des N. verhütet worden wäre; bei Erbringung auch dieses letzteren Beweises, meint das Berufungsgericht, würde der ursächliche Zusammenhang zwischen der Zuwiderhandlung gegen die Unfallverhütungsvorschriften und dem Unfalle dargetan sein. Diese Auffassung verstößt, wie die Revision mit Recht geltend macht, gegen die Grundsätze über die Beweislast.

Die Unfallverhütungsvorschriften stellen den von der zuständigen Behörde kraft öffentlicher Gewalt festgesetzten Niederschlag der in dem betreffenden Gewerbe gemachten Betriebserfahrungen dar. Sie sind, wenn auch keine Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB., für den Betriebsunternehmer regelmäßig schlechthin bindend und gestatten dem eigenen abweichenden Ermessen des Betriebsinhabers nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen einen Spielraum (vgl. Jur. Wochenschr. 1913 S. 197 Nr. 7, 1911 S. 335 Nr. 41). Sinn und Zweck der Unfallverhütungsvorschriften als eines Inbegriffs von Normen, deren Befolgung nach der Erfahrung eine erhöhte Sicherheit gegen Betriebsunfälle bieten soll, führen zu der Annahme, daß die Zuwiderhandlung gegen diese Vorschriften Betriebsunfälle zu verursachen geeignet ist und daß der Zuwiderhandelnde gerade durch die Nichtbefolgung der Vorschriften eine Bedingung des Unfallerfolges gesetzt hat. Dadurch, daß der Schaden möglicherweise auch bei Befolgung der Unfallverhütungsvorschriften eingetreten wäre, wird der ursächliche Zusammenhang nicht ausgeschlossen. Zunächst hat demnach die Klägerin ihrer Beweispflicht genügt, wenn sie die Nichtbefolgung jener Vorschriften seitens des Beklagten dartut. Sache des Beklagten ist es dann, im Wege des Gegenbeweises Umstände darzutun, die den Schluß auf das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhanges für den besonderen Fall als unberechtigt erscheinen lassen.

Bei seinen Ausführungen darüber, daß die Klägerin den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Außerachtlassung des § 16 Nr. 12 UVB. und dem Unfalle des N. nicht erwiesen habe, ist dem Berufungsgericht übrigens noch eine weitere Unrichtigkeit unterlaufen. Das Urteil geht davon aus, daß es angesichts des § 16 Nr. 12, wonach der Unternehmer die Wahl zwischen Doppelhaken und Karabinerhaken habe, genüge, wenn die Sicherheit, die der Doppelhaken bot, mit der durch den einfachen Haken gewährleisteten Sicherheit in Vergleich gestellt werde. Weiter wird erörtert, auf Grund der Ausführungen der Sachverständigen sei anzunehmen, daß die Arbeiter beim Vorhandensein von Doppelhaken anstelle der einfachen Haken den herabzulassenden leeren Kübel auch nur auf einer Seite - nicht rechts und links, wo sich je eine Öse befand - mittels Hakens (Doppelhakens) an dem Aufzugsseile befestigt haben würden; und außerdem bestehe die Möglichkeit, daß sie den einen verwendeten Doppelhaken nicht ordnungsmäßig, d. h. nicht mit seinen beiden Windungen in die Öse des Kübels eingedreht hätten, in welchem Falle die Gefahr des Herausgleitens aus der Öse beim Doppelhaken größer sei als beim einfachen Haken. Sieht man nun auch davon ab, daß die hypothetische Feststellung über die Verwendung nur eines Doppelhakens lediglich auf Grund der Anführung von Sachverständigen getroffen ist, wonach ein solcher Brauch oder Mißbrauch beim Herablassen leerer Kübel ziemlich allgemein besteht, so durfte doch die bloße Möglichkeit, daß der etwa verwendete Doppelhaken unvollständig in die Kübelöse eingedreht worden wäre, nicht als festgestellte Tatsache behandelt und als solche gewürdigt werden. Völlig unberücksichtigt ist aber der Gesichtspunkt geblieben, daß der Beklagte dann, wenn der Doppelhaken aus irgendwelchem Grunde - und wäre es auch nur zufolge unsorgfältiger Handhabung von seiten der Arbeiter gewesen - keine hinreichende Sicherheit bot, zur Verwendung des bei richtigem Arbeiten der Feder eine, wie das Berufungsgericht selbst sagt, fast vollkommene Sicherheit bietenden Karabinerhakens verpflichtet war. Insofern war es, worauf auch die Revision hinweist, nicht richtig, wenn das Berufungsgericht die Frage der Verwendung des Karabinerhakens aus seinen Erwägungen gänzlich ausgeschaltet hat.

Endlich ist noch folgendes zu erwähnen. Das Berufungsgericht zieht aus seinen Darlegungen des Inhalts, daß der Klägerin der Beweis für die Verhütung des Unfalls durch Benützung der vorgeschriebenen Haken nicht gelungen sei, einen unrichtigen Schluß. Konnte die Klägerin diesen (ihr zu Unrecht zugemuteten) Beweis nicht erbringen, so hatte das vom Standpunkte des Berufungsrichters selbst aus nur die Folge, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen der Nichtbefolgung der Unfallverhütungsvorschriften und dem Unfalle zu verneinen war. Die Frage, ob der Beklagte die durch sein Gewerbe ihm besonders zur Pflicht gemachte Aufmerksamkeit außer acht gelassen hat oder nicht, ist lediglich aus der Gesamtheit der Verhältnisse heraus zu entscheiden, unter denen er dazu gelangte, bei dem Kaminneubau einfache Haken anstelle von Doppel- oder Karabinerhaken verwenden zu lassen. Dabei mag darauf hingewiesen werden, daß irgendwelche Umstände, die ein Abgehen des Beklagten von der Anordnung des § 16 Nr. 12 UVB. als gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, weder von ihm selbst angeführt noch sonst ersichtlich sind." ...