RG, 13.03.1917 - II 540/16
1. Zur Anwendung des § 154 Abs. 1 BGB.
2. Unter welchen Voraussetzungen kann der Gläubiger Bezugsfolgen geltend machen, wenn die Bestimmung der Leistungszeit dem Schuldner überlassen ist?
Tatbestand
Im November 1914 kaufte die Beklagte von der Klägerin eine größere Menge von Brotbeuteln, die für Heereszwecke bestimmt waren und Ende Februar 1915 ausgeliefert sein sollten. Nachdem die Beklagte einen Teil der Beutel erhalten hatte, trafen die Parteien im Februar 1915 eine Vereinbarung über die weitere Behandlung einer restlichen Menge von 52000 Stück. Die Klägerin bestimmte der Beklagten am 20. März 1915 zur Abnahme und Bezahlung eines Postens von 20000 Stück erfolglos eine Nachfrist. Mit der Klage verlangte sie bezüglich dieser 20000 Stück und der weiter von der nachträglichen Vereinbarung betroffenen 32000 Stück Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Das Landgericht wies bezüglich der 32000 Stück die Klage ab und erklärte im übrigen den Klaganspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt. Das Berufungsgericht wies die ganze Klage ab. Auf die Revision der Klägerin wurde das Berufungsurteil, soweit es die 20000 Stück betrifft, aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Gründe
... "Bezüglich des Postens von 32000 Stück nehmen beide Vorinstanzen an, daß die Parteien bei den Verhandlungen vom Februar 1915 die endgültige Annullierung des Geschäfts vereinbart haben. Insoweit ist das Berufungsurteil nicht angefochten. Bezüglich der weiteren 20000 Stück gelangt das Berufungsgericht in Anwendung des § 154 Abs. 1 BGB. zu dem Ergebnis, daß ein die Abnahme- und Zahlungspflicht der Beklagten begründender Vertragsabschluß nicht vorliege, weil es bei der maßgebenden Besprechung vom 11. Februar zu einer Einigung über die Zeit der Abnahme nicht gekommen sei. Diese Beurteilung wird von der Revision mit Recht beanstandet.
Nach dem Vorbringen der Parteien ist für die Anwendung der Vorschrift des § 154 a. a. O. kein Raum. Die Beklagte hat behauptet, 32000 Stück seien bei der erwähnten Besprechung unbedingt annulliert worden, wegen der - noch abzunehmenden - übrigen 20000 Stück habe sie der Klägerin erklärt, daß sie die Ware nach der Türkei, vielleicht auch nach Bulgarien oder Österreich-Ungarn absetzen wolle, sich aber mit Rücksicht auf das damalige Verhalten Rumäniens, das die Ware nicht durchlasse, an irgendwelche Abruffristen nicht binden könne; damit sei die Klägerin einverstanden gewesen. Zur Zeit der Nachfristbestimmung vom 20. März 1915 habe deshalb die Klägerin die Erfüllung noch nicht verlangen können, die Durchfahrt durch Rumänien habe nicht stattfinden können, auch sei es noch nicht gelungen gewesen, die Ware in der Türkei oder in Bulgarien unterzubringen, solche Abschlüsse und die Sicherstellung der Durchfuhr durch Rumänien hätten eine viel längere Zeit erfordert. Demgegenüber hat die Klägerin vorgetragen, die Parteien seien bei der erwähnten Besprechung darüber einig gewesen, daß rascheste Lieferung der noch abzunehmenden 20000 Stück stattzufinden habe. Die Beklagte habe bezüglich der Lieferfristen ausdrücklich auf die für den ursprünglichen Abschluß maßgebenden Vereinbarungen hingewiesen, bei dem ursprünglichen Abschlusse habe aber die Beklagte nach den kürzesten Fristen gefragt, in welchen geliefert werden könne. Nach Treu und Glauben habe sie, die Klägerin, die Erklärung der Beklagten, daß sie bezüglich des Abrufs der einzelnen Lieferungen sich freie Hand vorbehalte, nur dahin verstehen können, daß nur ein Abruf innerhalb angemessener kurzer Frist in Frage komme. Daß die Ware nach der Türkei oder nach Bulgarien oder Österreich-Ungarn geliefert werden solle und daß sie sich wegen des Verhaltens Rumäniens nicht an Abnahmefristen binden könne, habe die Beklagte nicht gesagt.
Nach diesem Parteivorbringen ist die Vorschrift des § 154 Abs. 1 BGB. nicht anwendbar. Die Sache liegt nach dem Vorgetragenen nicht so, daß die Parteien sich über einen Punkt des Vertrags (die Zeit der Abnahme), über den eine Vereinbarung getroffen werden sollte, bei jener Besprechung noch nicht geeinigt haben und daß aus diesem Grunde Zweifel darüber bestehen können, ob der Vertrag geschlossen war. Denn nach dem Vorbringen beider Teile ist der Vertrag damals bezüglich der gesamten 52000 Stück unter Regelung aller Punkte zustandegekommen und Streit herrscht nur über den Inhalt des Vereinbarten. Dieser Streit bewegt sich, soweit er die hier in Rede stehenden 20000 Stück betrifft, um die Frage, ob die Beklagte früher oder später abzunehmen hatte, ob insbesondere die Abnahmepflicht schon am 20. März 1915, als die Klägerin die Nachfrist bestimmte, begründet war.
Es ist aber auch weiter nicht zu billigen, wenn das Berufungsgericht, bevor es dazu kommt, auf Grund des § 154 a. a. O. den Anspruch der Klägerin als hinfällig anzusehen, Erwägungen nach der Richtung anstellt, daß die Annahme einer Vereinbarung, wonach die Beklagte nach billigem Ermessen die Zeit der Abnahme zu bestimmen gehabt hätte, ausgeschlossen erscheine. Auch diese Erwägungen leiden an dem Mangel, daß dem Parteivorbringen nicht Rechnung getragen ist. Als Grundlage dient ihnen nur, daß es zu einer bestimmten Vereinbarung der Zeit der Abnahme nicht gekommen sei. Diese Annahme trifft nach dem Parteivorbringen nur in dem Sinne zu, daß es an einer ausdrücklichen und genauen Zeitangabe fehlt. Im übrigen waren aber nach dem Vorbringen beider Teile und namentlich auch nach demjenigen der Klägerin, das in der Revisionsinstanz als richtig zu unterstellen ist, die nötigen Unterlagen dafür vorhanden, daß der Richter ermessen konnte, ob die Nachfristbestimmung der Klägerin bei einer die Grundsätze von Treu und Glauben berücksichtigenden Beurteilung der gesamten Umstände zu einer Zeit erfolgt ist, in der die Klägerin berechtigt war, die Abnahme zu verlangen.
Die Revisionsbeklagten haben unter Hinweis auf das Urteil RGZ. Bd. 64 S. 114 den Standpunkt vertreten, daß die Nachfristbestimmung der Klägerin schon deshalb wirkungslos gewesen sei, weil die Leistung der beklagten Gesellschaft, die hinsichtlich der Zeit der Bewirkung in das Belieben der Schuldnerin gestellt gewesen sei, nur dadurch habe fällig werden können, daß durch richterliches Urteil der streitig gewordene Zeitpunkt der Erfüllung bestimmt wurde. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. In der erwähnten Entscheidung hat der V. Zivilsenat für einen Fall des § 315 BGB. allerdings ausgesprochen, der damalige Kläger habe, als die Beklagte den von ihm mit der Fristsetzung bestimmten Zeitpunkt der Leistung nicht habe gelten lassen, den Richter um die Bestimmung der Leistungszeit anzugehen gehabt, sei es durch Erhebung einer Feststellungsklage oder durch Erhebung der Leistungsklage; erst wenn in dieser Weise die nach dem Vertrage dem billigen Ermessen des Schuldners anheimgestellte Leistungszeit bestimmt gewesen sei, habe die Beklagte der Anwendung des § 826 BGB. ausgesetzt sein können. Ob dieser Beurteilung für den damals entschiedenen Fall, in dem es sich um den Abbau eines Tonlagers durch die Beklagte gehandelt hat, beizutreten wäre, braucht nicht erörtert zu werden. Das Ergebnis, zu dem der V. Zivilsenat damals gekommen ist, paßt jedenfalls nicht bei einem Vertragsverhältnis der hier in Rede stehenden Art. Die Vorschriften des an sich anwendbaren § 315 a. a. O. enthalten dispositives Recht und schließen deshalb nicht aus, daß nach der der Natur der Sache zu entnehmenden Absicht der Beteiligten der Eintritt der Fälligkeit einer hinsichtlich des Zeitpunktes der Bewirtung in das billige Ermessen des Schuldners gestellten Leistung und die davon abhängige Möglichkeit der Verzugsfolgen im Streitfalle nicht bedingt sind durch einen besonderen Ausspruch des Richters, sondern der richterlichen Beurteilung nur insofern unterliegen sollen, als nachzuprüfen ist, ob der Schuldner in der richtigen Weise von dem Ermessen Gebrauch gemacht hat. Eben diese Auffassung wird aber in einer Handelssache, wie sie hier vorliegt, regelmäßig als die allein berechtigte anzusehen sein. Bei solchen Sachen würde es zu einer mit den Bedürfnissen des Verkehrs unverträglichen Hemmung der Abwickelung des Geschäfts führen, wenn man die Geltendmachung von Verzugsfolgen und namentlich das Vorgehen nach § 326 BGB. erst zulassen wollte, nachdem im Prozeßwege die Fälligkeit festgestellt ist." ...