RG, 09.11.1918 - I 150/18
Begriff der "besonders wertvollen Spitzen und besonders wertvollen Stickereien" im Sinne des § 54 Abs. 2 der Eisenbahnverkehrsordnung. Bedeutung der Bedingung der "reglementmäßigen" Einlieferung des Frachtguts an die Bahn als Voraussetzung für den Anspruch auf die Versicherungssumme.
Tatbestand
Der Kläger hat am 9. Juli 1916 auf dem Hauptbahnhof in München einen 50 cm breiten, 80 cm langen und 35 kg schweren Koffer, dessen Inhalt aus Stickereimustern (Filetmustern, Tischdecken, Spitzen, Läufern, Tabletten, Servietten usw.) bestand und zusammen 13822,20 M wert war, als Passagiergut nach Cöln aufgegeben. Der Koffer ist an dem Bestimmungsorte nicht angelangt und auch später nicht wieder zum Vorschein gekommen.
Sowohl der beklagte Eisenbahnfiskus als auch die Allianz, mit welcher der Kläger eine Reiseversicherung in Höhe von 10000 M für einen Koffer, enthaltend handgestickte Wäsche und sonstige Artikel, abgeschlossen hatte, haben die Leistung jedweder Entschädigung -- die der Kläger auf 10 000 M bemißt -- abgelehnt. Beide Vorinstanzen erkannten zuungunsten des Klägers. Seine Revision ist zurückgewiesen worden aus folgenden Gründen:
Gründe
... "Der Berufungsrichter geht von der Bestimmung des § 54 Abs. 2 EVO. aus, wonach unter anderem "besonders wertvolle Spitzen und besonders wertvolle Stickereien" zur Beförderung nur bedingt zuzulassen sind, sowie von der Vorschrift Nr. 3 der allgemeinen Ausführungsbestimmung zum § 30 EVO., wonach die im § 54 Abs. 2 unter B. Ziff. 1 bezeichneten Gegenstände zur Gepäckbeförderung nur unter der Bedingung zugelassen werden: ... b. daß der Inhalt der Gepäckstücke und der Wert, der den Höchstbetrag der Entschädigung bilden soll, angegeben und im Gepäckscheine vermerkt wird, wobei die genannten Gegenstände zur Gepäckbeförderung nicht angenommen werden, wenn der Wert oder das Interesse an der Lieferung mit mehr als 500 M angegeben wird. Der Berufungsrichter erkennt in eingehender Begründung mindestens drei im Koffer befindliche Tischdecken im Preise von 1250 M, 800 M und 600 M und einem Filetstreifen im Preise von 800 M die Eigenschaft von "besonders wertvollen Spitzen" im Sinne des § 54 der EVO. zu und folgert aus der unbestrittenen Tatsache, daß der Inhalt des Musterkoffers und der den Höchstbetrag der Entschädigung bildende Wert vom Kläger nicht angegeben und im Gepäckscheine nicht vermerkt worden ist, daß dieser gemäß § 467 HGB. seinen Ersatzanspruch gegen die Eisenbahn eingebüßt habe. Die Revision will in erster Linie die genannten Gegenstände nicht als "besonders wertvolle Spitzen und besonders wertvolle Stickereien" im Sinne des § 54 EVO. angesehen wissen. Daß der Berufungsrichter bei seiner Feststellung von einer falschen Rechtsauffassung ausgegangen ist, ist nirgends hervorgetreten. Ob man einer Spitze die Eigenschaft einer "besonders wertvollen" zuerkennen muß, ist im wesentlichen Tatfrage, wobei allerdings die allgemeine Verkehrsauffassung eine entscheidende Rolle spielt. Der Berufungsrichter hat geglaubt, diese Frage aus eigener Sachkunde im vorliegenden Falle bejahen zu dürfen. Unter solchen Umständen enthielt die Ablehnung der bezüglichen Beweisanträge seitens des Vorderrichters keinen Prozeßverstoß, denn der erkennende Richter hat nach pflichtmäßigem Ermessen darüber zu befinden, ob er der Hilfe eines Sachverständigen bedarf. Zudem hatte der Berufungsrichter bereits das Gutachten eines Sachverständigen gehört, der sich dahin geäußert hatte, daß es sich im vorliegenden Falle zwar nicht um genähte Spitzenarbeit, die als feinste gilt, sondern um Spitzenarbeit zweiten Ranges gehandelt habe, daß aber auch diesen Spitzen noch mit Rücksicht auf die Höhe des Preises und, weil Spitzen der hier fraglichen Art als Kostbarkeit wohl einem Edelsteine je nach Wert gleichgestellt werden könnten, die Eigenschaft besonders wertvoller Spitzen beizumessen sei. Im übrigen läuft der Beweisantrag des Klägers im wesentlichem darauf hinaus, was man im Spitzenhandel als ganz besonders wertvolle Spitze ansieht, was also im Spitzenhandel unter den an sich wertvollen Spitzen als das Allerhervorragendste gilt. In diesem Sinne ist aber zweifellos von der Eisenbahnverkehrsordnung der Ausdruck besonders wertvolle Spitzen nicht gemeint. In der früheren Eisenbahnverkehrsordnung waren Spitzen nicht besonders hervorgehoben und fielen damals unter den Begriff der Kostbarkeiten; deshalb heißt es auch im Zusatz I der Ausführungsbestimmungen zum internationalen Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr unter § 1: Zu den Kostbarkeiten, sind beispielsweise auch besonders wertvolle Spitzen und besonders wertvolle Stickereien zu rechnen. Wenn nach der jetzt geltenden Eisenbahnverkehrsordnung neben den "anderen Kostbarkeiten" ausdrücklich "besonders wertvolle Spitzen und besonders wertvolle Stickereien" aufgeführt werden, so ist gegenwärtig allerdings nicht mehr zu untersuchen, ob die hier fraglichen Decken sich als Kostbarkeiten darstellen, d. h. als Sachen, die im Verhältnis zu ihrem Umfang und Gewicht einen außerordentlich und ungewöhnlich hohen Wert haben, aber für die Frage, wann Spitzen die Eigenschaft einer besonders wertvollen beizumessen ist, muß doch darauf Gewicht gelegt werden, daß sie im Zusammenhange mit Edelmetallen, Edelsteinen, echten Perlen und Pretiosen sowie anderen Kostbarkeiten genannt werden.
Die Bahnverwaltung soll durch die hier fragliche Bestimmung davor geschützt werden, daß sie bei Verlust von Sendungen, in denen sich solche ungewöhnlich wertvollen Gegenstände befinden, mit unverhältnismäßig hohen Schadensersatzansprüchen, mit denen man bei gewöhnlichen Sendungen nicht rechnet, belastet wird; es soll ihr in solchem Falle freistehen, die Beförderungsbedingungen im Tarife zu bestimmen und die Beförderung als Gepäck überhaupt abzulehnen, wenn der Wert oder das Interesse an der Lieferung mit mehr als 500 M angegeben wird. Wenn nun auch aus der Befugnis der Eisenbahnverwaltung, die Gepäckbeförderung abzulehnen, falls der Wert, oder das Interesse an der Lieferung mit mehr als 500 M angegeben wird, keineswegs gefolgert werden kann, daß alle Gegenstände, welche diesen Wert übersteigen, zu den im § 54 aufgeführten Kostbarkeiten zu rechnen sind, so ist doch auf der anderen Seite klar, daß die Eisenbahnverwaltung nicht nur die wertvollsten Spitzen ersten Ranges von der freien Versendung ausschließen wollte, sondern bereits solche Spitzen, die verglichen mit Gütern, die sonst zur Gepäckbeförderung zugelassen sind, einen unverhältnismäßig hohen Wert haben. Auch wenn es sich bei den hier fraglichen Spitzen, was übrigens nicht festgestellt ist. um solche handeln sollte, die von Heimarbeitern in Oberfranken hergestellt sind, schließt das nicht aus, daß sie mit einem ungewöhnlichen Maße von Kunstfertigkeit angefertigt sind, wofür schon, wie der Berufungsrichter mit Recht hervorhebt, der unverhältnismäßig hohe Preis spricht. Den Gegensatz zu den besonders wertvollen Spitzen (wobei der Ton nicht auf besonders, sondern auf wertvoll zu legen ist) bildet die nicht besonders wertvolle Spitze.
Hiernach war die Revision gegen den beklagten Fiskus abzuweisen; dasselbe gilt aber auch für die Revision gegen die beklagte Versicherungsgesellschaft. Eine reglementmäßige Einlieferung des Koffers hat nicht stattgefunden. Die beklagte Versicherungsgesellschaft hatte auch keine Verpflichtung, den Kläger auf die Vorschriften der Bahnverwaltung hinsichtlich der reglementmäßigen Einlieferung aufmerksam zu machen, sondern konnte erwarten, daß sich der Kläger über die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen seinerseits vergewisserte. Eine solche Belehrungspflicht bestand schon deshalb nicht, weil aus der Versicherung selbst nicht zu schließen:war, daß besonders wertvolle Spitzen als Reisegepäck in Frage kamen. Als Versicherungsgegenstand nennt die Versicherungspolice nur "einen Koffer, enthaltend handgestickte Wäsche und sonstige Artikel"; es ging also, über die Größe des Koffers und sein Gewicht nichts aus der Versicherung hervor. Der Ausdruck handgestickte Wäsche legte den Gedanken nicht nahe, daß es sich um besonders wertvolle Stickereien handelte, mochte auch in der Police und der Nachtragspolice der Gesamtversicherungswert auf 10000 M angegeben sein.
Nun ist allerdings zuzugeben, daß in Art. 8 der allgemeinen Versicherungsbedingungen, der von dem Beweise des Unfalls handelt, die Verpflichtung des Versicherten zur reglementmäßigen Einlieferung nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, sondern daß nur ein Attest der betreffenden Eisenbahn usw. verlangt wird, wonach unter anderem eine reglementmäßige Einlieferung stattgefunden hat. Allein der Art. 9 läßt erkennen, daß die beklagte Versicherungsgesellschaft ein großes Interesse daran hatte, dem Versicherungsnehmer eine reglementmäßige Einlieferung zur Pflicht zu machen, und daß dies durch die allgemeinen Versicherungsbedingungen hat geschehen sollen. Denn die Versicherungsgesellschaft tritt nach Vergütung des Schadens ohne besondere Zession in alle Rechte des Versicherten gegen Dritte, also auch gegen die Eisenbahn ein; sie hat also ein wesentliches Interesse daran, daß der Versicherte bei Abschluß des Frachtvertrags diejenigen Vorschriften beobachtet, von denen sein Schadensersatzanspruch gegen den Frachtführer bei Verlust des Frachtguts abhängig ist. Deshalb heißt es in Art. 9 Satz 2 ausdrücklich, daß der Versicherte für jede Handlung oder Unterlassung verantwortlich ist, durch die er die Rechte gegen Dritte beeinträchtigt. Hiernach stellt sich die reglementmäßige Einlieferung als eine Voraussetzung dar, von der die Schadensvergütung der beklagten Versicherungsgesellschaft abhängig ist.
Schließlich versagt auch der Gesichtspunkt, daß die beklagte Versicherungsgesellschaft eine Versicherung eingegangen sei, für die sie in Wirklichkeit nie aufzukommen brauche, da bei reglementmäßiger Einlieferung die Eisenbahn ohnehin hafte. Abgesehen davon, daß der Kläger durch die Versicherung gegen Verlust und Beschädigung in gewissen Fällen, in denen von der Eisenbahn Ersatz nicht geleistet zu werden braucht, geschützt ist, erlangte der Kläger, wenn er bei der Bahn den Wert oder das Interesse an der Lieferung auf 500 M angab, die Beförderung seines Koffers durch Frachtgut, Eilgut oder Postgut und behielt dann bei reglementmäßiger Einlieferung im Verlustfalle die Vergütung des vollen Schadens seitens der Beklagten; denn in den besonderen Bedingungen für die Versicherung des Reiselagers, die als Anhang zur Police 245105 beigefügt ist, schreibt die Beklagte im § 4 selbst vor, daß bei Versendung des Reiselagers oder eines Teiles davon oder der Muster per Frachtgut, Eilgut oder Post 10 Prozent des Wertes deklariert werden müßten. Bei dieser Bestimmung ist zu berücksichtigen, daß die ursprüngliche Versicherungssumme 5000 M betrug. Wie die Bestimmung des § 4 nunmehr auszulegen ist, seit durch Nachtrag 1 vom 15. Mai 1914 die Versicherungssumme auf 10000 M erhöht worden ist, kann auf sich beruhen, da es gegenwärtig nur darauf ankommt, dem Einwände des Klägers zu begegnen, die Beklagte sei mit dem Kläger eine Versicherung ohne jedes eigene Risiko eingegangen."