RG, 09.12.1881 - II 406/81

Daten
Fall: 
Anatozismus
Fundstellen: 
RGZ 6, 325
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
09.12.1881
Aktenzeichen: 
II 406/81
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Mainz
  • OLG Darmstadt

Ist die Übereinkunft, welche der Schuldner einer Geldsumme mit dem Gläubiger dahin trifft, daß dieselbe Zinsen tragen, letztere aber alljährlich zum Kapitale geschlagen und wieder verzinst werden sollen, mit der Vorschrift des Art. 1154 Code civil vereinbar?

Tatbestand

In einem Privatakte vom 11. Mai 1866 erklärte S., Gutsbesitzer zu O., daß er zufolge Abrechnung vom 1. Mai 1857 dem Sch., bezw. dessen Ehefrau aus einem Kelleranschlage, Ackerpacht und Darlehn, sowie den vertragsmäßig hinzugekommenen Zinsen die Summe von 2794 fl. 17 kr. schuldig geworden sei, und, da es ihm nicht möglich gewesen, Zahlungen zu leisten, mit den Eheleuten Sch. das Übereinkommen getroffen habe, daß dieser Betrag wieder Zinsen tragen solle, und alljährlich die Zinsen ohne weiteres zum Kapital geschlagen und selbst wieder verzinst werden sollten; daß er hiernach nunmehr seinen genannten Gläubigern, denen alle ihnen seither zustehenden Rechte vorbehalten blieben, zufolge geschehener Berechnung die Summe von 4334 fl. 49 kr. mit weiteren Zinsen vom 1. Mai 1866 an zu verschulden bekenne.

Zugleich stellte sich in dem genannten Akte J. S., Landwirt zu S., als für die anerkannte Forderung nebst Zubehör mit dem Hauptschuldner samtverbindlich und als Selbstzahler dar.

Der von dem Gläubiger gegen letzteren erhobenen Klage, welche Zahlung eines Betrages von 12762,22 M nebst weiteren Zinsen vom 1. Mai 1879 forderte, setzte der Beklagte die Einrede der fünfjährigen Zinsenverjährung entgegen, und machte geltend, daß letztere durch die Übereinkunft vom 11. Mai 1866 nicht ausgeschlossen werde.

Dieser Verteidigung des Beklagten gemäß wurde, in Übereinstimmung mit dem ersten Richter, gegen die Annahme des Oberlandesgerichtes vom Reichsgerichte erkannt aus folgenden Gründen:

Gründe

"Das Oberlandesgericht führt aus. daß die Stipulation in dem Vertrage vom 11. Mai 1866, wonach die Zinsen der anerkannten Schuldsumme alljährlich berechnet, aber ohne weiteres zum Kapital geschlagen, wieder Zinsen tragen sollten, die Wirkung habe, daß die Zinsen zu Kapital würden, die Fälligkeit desselben teilten und der Verjährung des Art. 2277 Code civil entzogen seien; das Oberlandesgericht nimmt ferner an, daß eine solche Stipulation schon nach Art. 1154 Code civil ausdrücklich erlaubt sei, gegenwärtig aber, nachdem letzterer durch das die Zinsbeschränkungen beseitigende Reichsgesetz aufrecht erhalten worden, nicht weniger als rechtlich zulässig angesehen werden müsse. Dieser Annahme kann indeß nicht beigepflichtet werden, und ist vielmehr eine Vertragsbestimmung der hier vorliegenden Art mit der Vorschrift des Art. 1154 a. a. O. als unvereinbar zu erachten.

Hierfür spricht zunächst die Entstehungsgeschichte desselben. Wie im römischen Rechte, so war auch im alten französischen Rechte der Anatozismus, mochte es sich um bereits verfallene oder künftige Zinsen handeln, grundsätzlich verboten. In Übereinstimmung hiermit sprach denn auch das Projekt des Art. 51 Code civil in dessen erstem Absatze aus: "il n'est point du d'intérêts-d'intérêts" und es enthielten sodann die Abs. 2 und 3 eine im wesentlichen dem Art. 1155 Code civil entsprechende Bestimmung. Bei der Beratung im Staatsrate wurde demnächst die Frage erörtert, ob nicht verfallene Zinsen ( intérêts échus "liquidés") durch eine Klage oder neue Übereinkunft wieder sollten Zinsen tragen können, und diese Frage ist mit der Beschränkung, daß es sich dabei um erfallene Zinsen von wenigstens einem Jahre handeln müsse, bejaht. In diesem Sinne ist dann der Art. 1154 redigiert und Gesetz geworden. Vgl. Fenet, Bd. 13 S. 11. 61 flg. 236; Marcadé, Bd. 4 S. 428 und Demolombe, Bd. 24 S. 643. Für die Zulässigkeit einer Vertragsklausel, durch welche im voraus bestimmt wird, daß künftig erfüllende Zinsen zum Kapital geschlagen werden und wieder Zinsen tragen sollten, ist in jener legislatorischen Beratung keinerlei Anhaltspunkt zu finden. Der Art. 1154 a. a. O. hat hiernach die Bedeutung, daß er das seit den ältesten Zeiten bestehende und von ihm nicht grundsätzlich aufgehobene Verbot des Anatozismus insoweit beschränkt, daß es gestattet ist, Zinsen, die wenigstens von einem Jahre rückständig sind, im Wege der Klage oder der vertraglichen Übereinkunft Zinsen tragend zu machen.

Damit stimmt denn auch der Wortlaut des Gesetzes völlig überein.

Der Art. 1154 spricht von "intérêts échus" - im Gegensatze zu intérêts à échoir-, d. h. von Zinsen, die verfallen sind, wenn der Rechtsakt, der sie zinstragend macht, eintritt; als solche Rechtsakte stellt derselbe Klage und Vertrag in gleicher Linie nebeneinander, und geht, wie sich das klar aus der Fassung des Art. 1155 ergiebt, von dem Gedanken aus. daß die Zinseszinsen vom Tage der Klage oder der Übereinkunft laufen, sodaß es keinem irgend begründeten Zweifel unterliegen kann, daß das Gesetz lediglich einen der Fälligkeit nachfolgenden Vertrag im Auge hat.

Zu dieser Annahme führt dann weiter auch die ratio legis, welche in dem Satze: " ne debitor usuris obruator" ihren Ausdruck findet. Auf dieser ratio, welche den Schuldner gegen das durch die Anhäufung der Zinsen bewirkte übermäßige Anwachsen der Schuld schützen will, beruht zunächst die fünfjährige Verjährung des Art, 2277 a. a. O., und greift dieselbe ganz besonders. da durch das Berechnen von Zinseszinsen jenes Anwachsen in gesteigerter Progression eintritt, bei der Frage des Anatozismus Platz. Den ruinösen Folgen desselben ist aber, wie erhellt, ein Schuldner, der sich einer Stipulation der hier fraglichen Art unterworfen und damit auf Tilgung der einzelnen Zinsbeträge und Anrufung des Art. 2277 verzichtet hat, im vollsten Maße preisgegeben, während sich die Lage des Schuldners. dem das Gesetz zu Hilfe kommen will, wesentlich günstiger gestaltet, wenn man den Art. 1154 a. a. O. in dem vorstehend entwickelten Sinne auffaßt. Ein lehrreiches praktisches Beispiel liefert in dieser Beziehung der gegenwärtige Fall selbst, wo die Schuld, von der es sich handelt, am 1. Mai 1857 "2794" Gulden betrug und mit Berechnung von Zinseszinsen bis zum 1. Mai 1879 auf den Betrag von "12762 M " angewachsen ist. Das Oberlandesgericht sucht nun zwar auszuführen, daß dem wiederholt bestätigten Vertragswillen der Parteien gegenüber jene ratio die Gültigkeit der fraglichen Stipulation nicht ausschließen könne, übersieht aber dabei, daß letztere gegen eine auf Gründen der öffentlichen Wohlfahrt beruhende Gesetzesvorschrift verstößt.

Das Oberlandesgericht hat nun seine entgegengesetzte Annahme, daß die Vertragsbestimmung, welche hier in Frage steht, nach Art. 1154 gestattet sei, nicht näher motiviert, kann sich aber darauf berufen, daß es sich mit einem Teile der Rechtslehrer, sowie der herrschenden Praxis der Gerichte in Frankreich in Übereinstimmung befindet. Vgl. Aubry & Rau Bd. 4 S. 110 Note 38. Die Gründe aber, welche zur Unterstützung dieser Ansicht angeführt worden: daß es nach Art. 1130 Code civil gestattet sei, über künftige Gegenstände zu kontrahieren, daß der Art. 1154 nur den Zweck habe, das Zinsennehmen von Zinsen, die von weniger als einem Jahre rückständig seien, auszuschließen, eine Stipulation der vorliegenden Art auch überhaupt nicht gegen denselben verstoße, da es sich dabei auch um Zinsen von erfallenen Zinsen handle; - daß es dem Vertragswillen der Parteien anheimgegeben sein müsse, im einzelnen Falle die Zinsen zum Kapitale zu schlagen, unter welcher Voraussetzung dann nur von der dreißigjährigen Verjährung die Rede sein könne, - vermögen dem ausgeführten gegenüber nicht als überzeugend zu gelten. Auch der Hinweisung darauf, daß nach dem Rechte des Code civil - Art. 1907 - die Höhe der vertragsmäßigen Zinsen gesetzlich nicht beschränkt gewesen, ist eine Bedeutung schon um deswillen nicht beizulegen, weil die legislatorischen Gründe, welche die Freigebung des vertragsmäßigen Zinsfußes rechtfertigen, nicht zugleich auch mit Notwendigkeit die unbeschränkte Zulassung des Anatozismus bedingen. Die meisten neueren französischen Schriftsteller, Demolombe, Bd. 24 Nr. 646 flg., Demante, Bd. 5 S. 106 flg., ferner Laurent, Bd. 16 Nr. 338 flg., - vgl. Puchelt, Zeitschr. Bd. 11 S. 240 - sodann Zachariä-Puchelt, Bd. 2 S. 318 Nr. 38, Behaghel, Bad. bürgerl. Recht Bd. 2 S. 26, sprechen sich gegen die Zulässigkeit einer Vertragsbestimmung, wie sie hier in Frage steht, aus - und in diesem Sinne wird auch von den rhein-preußischen Gerichten erkannt (vgl. Rheinisches Archiv, Bd. 55 II, S. 91 und Bd. 63 I. S. 198).

Was endlich das Bundesgesetz vom 14. November 1867 angeht, welches späteren Datums, als der hier fragliche Vertrag vom 11. Mai 1866 ist, so überläßt dasselbe die Höhe der vertragsmäßigen Zinsen der freien Vereinbarung; es bleiben aber - §. 4 - in betreff der Zinseszinsen die bestehenden privatrechtlichen Bestimmungen unverändert. Aus diesem Gesetze ist also für die Auffassung des Oberlandesgerichtes irgend eine Unterstützung nicht herzuleiten.

Nach all diesem erscheint die in Frage stehende Vertragsbestimmung rechtlich unwirksam. Wesentlich verschiedener Art würde allerdings eine Klausel sein, die einfach dahin lautete, daß, wenn der Schuldner an dem festgesetzten Tage die Zinsen nicht pünktlich entrichte, er kraft des Vertrages im Verzüge sich befinden und Zinsen derselben zu zahlen verpflichtet sein solle; die rechtliche Bedeutung einer solchen Klausel ist aber hier nicht zu erörtern."