RG, 27.10.1881 - Va 243/81
Ist die Bestimmung des §. 367 Nr. 14 Strafgesetzbuches auch auf Sicherungsmaßregeln zum Schutze von Nachbargebäuden zu beziehen? - Findet bei einem Baue, mit dessen Vornahme eine Erniedrigung des Grund und Bodens verbunden ist, neben A. L. R. I. 8. §. 187 auch die Bestimmung des §. 367 Nr. 14 St. G. B. Anwendung?
Tatbestand
Auf Nichtigkeitsbeschwerde des Klägers ist das zweite Erkenntnis vernichtet und die Sache zur Beweisaufnahme und nochmaligen Entscheidung in die zweite Instanz zurückgewiesen aus folgenden, den Sachverhalt ergebenden Gründen:
Gründe
"Der Beklagte hat im Mai 1878 auf seinem Grundstücke in der Stadt Essen den Keller eines zu errichtenden Wohnhauses etwa 6 Fuß tiefer ausschachten lassen, als das Fundament des dem Kläger gehörigen Nachbarhauses liegt. Infolgedessen, und weil nach Klägers Behauptung der Beklagte die an sein Grundstück stoßende Giebelmauer des klägerischen Hauses zu stützen unterlassen, auch nicht überall einen 3 Fußbreiten Wall gegen jene Mauer stehen gelassen, soll das Haus des Klägers Beschädigungen erlitten haben; weshalb Kläger im vorliegenden Prozesse vom Beklagten Schadensersatz verlangt.
Der Appellationsrichter hat das auf Abweisung der Klage in angebrachter Art lautende Urteil erster Instanz bestätigt. Die hiergegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Klägers beschuldigt den Appellationsrichter u. A. der Verletzung des §. 367 Nr. 14 St. G. B., woselbst mit Strafe bedroht wird,
"wer Bauten oder Ausbesserungen von Gebäuden, Brunnen, Brücken, Schleusen oder anderen Bauwerken vornimmt, ohne die von der Polizei angeordneten oder sonst erforderlichen Sicherungsmaßregeln zu treffen."
Diese Rüge ist auch als eine begründete anzuerkennen.
Den zweifellosen Charakter der vorerwähnten Strafbestimmung als eines auf Schadensverhütungen abzielenden Polizeigesetzes im Sinne des §. 26 A. L. R. I. 6 hat der Appellationsrichter zwar nicht in Abrede gestellt. Er erachtet dieselbe jedoch auf die dem Beklagten vom Kläger zum Vorwurf gemachte Unterlassung eines Stützens der klägerischen Giebelmauer für nicht anwendbar, weil sie sich offenbar nur auf Sicherungsmaßregeln zum Schutze des Publikums vor Unfällen, - z. B. auf das Anbringen von Warnungstafeln oder von Schutzvorrichtungen gegen das Herabfallen von Steinen - nicht aber auch auf solche Sicherungsmaßregeln beziehe, welche zum Schutze von in der Nachbarschaft befindlichen Gebäulichkeiten erforderlich sind.
Dieser einschränkenden Auslegung... steht indessen, wie die Nichtigkeitsbeschwerde mit Recht geltend macht, die ganz allgemeine Fassung der in Rede stehenden Vorschrift entgegen, welche schlechthin die Anwendung der von der Polizei angeordneten oder sonst erforderlichen Sicherungsmaßregeln verlangt, ohne in Ansehung der verschiedenen Arten möglicher Gefahren und Schäden, welchen dadurch vorgebeugt werden solle, oder in Ansehung von Personen oder Sachen, auf deren Schutz sie es abgesehen habe, irgendwie zu unterscheiden und diesbezüglich Einschränkungen zu machen. Es ist auch in der That kein Grund erfindlich, welcher den Gesetzgeber hätte veranlassen können, bei Erlaß eines polizeilichen Strafgesetzes zur Verhütung von Beschädigungen, die sich bei Gelegenheit der Vornahme von Bauten ereignen können, Einschränkungen der Art zu bestimmen und die von ihm im öffentlichen Interesse für notwendig befundene schützende Fürsorge nicht Jedermann - nicht also ebenso gut auch dem Nachbar der Baustätte wie einem jeden anderen aus dem Publikum - angedeihen zu lassen, oder sie zwar einem jeden und auch dem Nachbar, diesem aber nur in Beziehung auf Leben und Gesundheit, nicht auch in Beziehung auf sein Eigentum und insbesondere sein Haus zu statten kommen zu lassen, obschon doch durch eine Beschädigung des letzteren leicht auch Gefahren für Leben und Gesundheit der in dem Hause wohnenden Menschen entstehen können.
Nun hat zwar der Appellationsrichter noch ausgeführt, daß, selbst bei prinzipieller Annahme der Anwendbarkeit des citierten §. 367 Nr. 14 auf einen Fall wie den vorliegenden, dennoch des Klägers Versuch, aus dieser Strafbestimmung eine Verpflichtung des Beklagten herzuleiten, bei Ausschachtung seines Grund und Bodens die Nachbarmauer zu stützen, ein verfehlter sei, weil Kläger nicht die Existenz einer Baupolizeiverordnung für die Stadt Essen, wonach der Erbauer eines Hauses unter Umständen die Wände des Hauses seines Nachbars zu stützen habe, auch nicht eine seitens der Polizei an den Beklagten erlassene Anweisung zum Stützen behauptet und unter Beweis gestellt habe, übrigens aber das nach Inhalt der Klage polizeilich von dem Stadtbauamts-Assistenten angeordnete Stützen des klägerischen Hauses nach Klägers eigener Angabe sofort erledigt worden sei. Allein auch diese Ausführung enthält eine Verletzung der in Rede stehenden Bestimmung d es Strafgesetzbuches. Denn dieselbe ergiebt, daß der Appellationsrichter der Ansicht ist, es komme nur darauf an, ob die betreffende Sicherungsmaßregel eine von der Polizei (sei es generell durch eine bestehende Baupolizeiverordnung oder speziell durch eine seitens der Behörde an den Beklagten ergangene Weisung) angeordnete gewesen sei, wobei der Appellationsrichter jedoch übersieht, daß das Strafgesetz Anwendung nicht bloß der von der Polizei angeordneten, sondern auch der sonst erforderlichen, und somit überhaupt aller derjenigen Sicherungsmaßregeln verlangt, welche im einzelnen Falle der Natur der Sache und den Umständen nach als notwendig zu erachten sind, mögen sie auch nicht gerade von der Polizei angeordnet worden sein. Der Appellationsrichter hat demnach in zweifacher Beziehung die Vorschrift der Nr. 14 des §. 367 St. G. B. verletzt und damit einen Verstoß im Sinne des §. 4 Nr. 1 der Verordnung vom 14. Dezember 1833 begangen. Sein Urteil unterliegt daher der Vernichtung." ...
In freier Beurteilung der Sachlage wird nun zunächst ausgeführt, daß der Beklagte als Eigentümer unbestreitbar wohlbefugt gewesen sei, auf seinem Grundstück einen Keller in beliebiger Tiefe auszuschachten, auch - wie er dies gethan - in einer größeren als derjenigen des Fundamentes des klägerischen Nachbarhauses; und daß Kläger, insofern er die Schadensersatzpflicht des Beklagten aus einer Nichtbeachtung der Vorschrift des §. 187 A. L. R. I. 8 herleite, den geltend gemachten Anspruch nicht hinreichend substantiiert habe. Alsdann aber heißt es weiter:
"In erster Linie hat auch Kläger seinen Schadensanspruch nicht sowohl auf das angebliche Zuwiderhandeln des Beklagten gegen §§. 187 flg., als vielmehr darauf gegründet, daß derselbe bei dem Kellerausschachten unterlassen habe, des Klägers Giebelmauer zu stützen. Und in dieser Beziehung allerdings ist der Klaganspruch als ein rechtlich begründeter anzuerkennen, sofern die bestrittenen thatsächlichen Behauptungen des Klägers sich bei stattfindender Beweisaufnahme bewahrheiten sollten. Wie bereits oben bei Beurteilung der Nichtigkeitsbeschwerde gezeigt worden ist, findet die Strafbestimmung des §. 367 Nr. 14 St. G. B. auch Anwendung, wenn bei Vornahme von Bauten solche Maßregeln unterlassen wurden, welche zur Verhütung von Beschädigungen eines der Baustätte benachbarten Gebäudes erforderlich waren. Demgemäß, und da es sich bei der in Rede stehenden Kelleranlage des Beklagten um die Vornahme eines Baues handelte, war es des Beklagten Pflicht, diejenigen Maßregeln zu treffen, welche der Natur der Sache und den Umständen nach notwendig erschienen, um das Nachbarhaus des Klägers vor einer möglichen Beschädigung durch das Ausschachten des Kellers zu bewahren. Der Annahme einer Pflicht des Beklagten hierzu auf Grund des citierten §. 367 Nr. 14 kann der Umstand, daß die privatrechtlichen Bestimmungen über Eigentumseinschränkungen zum besten des Nachbarn dem Eigentümer, welcher seinen Grund und Boden erniedrigen will, etwas weiteres als das Stehenlassen eines 3 Fußbreiten Walles gegen die nachbarliche Verzäunung nicht vorschreiben, nicht entgegengehalten werden; denn hieraus läßt sich nur folgern, daß der Beklagte nicht im Civilprozeßwege vom Kläger zur Ergreifung besonderer Sicherungsmaßregeln für dessen Haus hätte angehalten werden können, nicht aber auch, daß nicht ein auf Verhütung von Beschädigungen bei Gelegenheit der Vornahme von Bauten abzielendes Polizeistrafgesetz, welches ganz allgemein und ohne jede Ausnahme dem Bauenden Anwendung aller erforderlichen Sicherungsmaßregeln zur Pflicht macht, auch von demjenigen beobachtet werden müßte, welcher durch eine den Grund und Boden erniedrigende bauliche Anlage auf seinem Grundstück ein Nachbarhaus der Gefahr einer Beschädigung aussetzt, ohne daß, den obwaltenden Umständen nach, das Stehenbleiben eines 3 Fuß breiten Walles eine schon hinlängliche Sicherheit gegen solche Gefahr gewährt. Unerheblich ist ferner, daß Beklagter, seiner Behauptung nach, die Ausführung des ganzen Baues seines Hauses einschließlich des Kellerausschachtens einem anderen (dem Litisdenunciaten) kontraktlich übertragen hatte: im Sinne des Polizeigesetzes blieb dessenungeachtet er, der Herr des Baues. auch seinerseits ein solcher, welcher den Bau "vornahm" und daher auch für die erforderlichen Sicherungsmaßregeln zu sorgen hatte. Das A. L. R. (II. 20. §§. 773-775) hatte diese Sorge nur den "unmittelbaren Aufsehern" - den Baumeistern also - zur Pflicht gemacht. Schon das preußische St. G. B. von 1851 aber - welches für das jetzige Reichs-St. G. B. als Vorbild und Grundlage gedient hat - dehnte die Verpflichtung aus auf die Bauherren: wohlweislich zu dem Zwecke, um auch diese mit hineinzuziehen, hat man bei Redaktion des preußischen Strafgesetzbuches die betreffende Vorschrift so gefaßt, wie es im §. 345 unter Nr. 11 geschehen ist ( Goltdammer, Materialien zum pr. St. G. B. Bd. II. S. 732 Note 9; siehe auch Entscheidungen des preußischen Obertribunals Bd. 37 S. 37-38), und in wörtlich gleichlautender Fassung ist die Vorschrift später in das deutsche St. G. B. (§. 367 Nr. 14) übernommen worden. Ihre Anwendbarkeit auch auf den Beklagten als den Bauherrn kann demnach keinem Bedenken unterliegen.
War also ein Stützen der Giebelmauer des klägerischen Hauses den Umständen nach überhaupt erforderlich, um dasselbe vor einer möglichen Beschädigung durch das Ausschachten des Kellers zu sichern, dann hatte mithin auch der Beklagte dafür zu sorgen, daß diese Maßregel angewandt wurde; und unterließ Beklagter dies. so machte er sich der Vernachlässigung eines auf Schadensverhütungen abzielenden Polizeigesetzes - des citierten §. 367 Nr. 14 - schuldig und muß dem Kläger nach §. 26 A. L. R. I. 6 für allen Schaden aufkommen, welcher durch Anwendung der gedachten Sicherungsmaßregel hätte vermieden werden können." ...
Hiernach wird erörtert, über welche der streitigen Thatsachen erst nach dem angetretenen Beweis (und bez. Gegenbeweis) zu erheben sei, bevor in der Sache definitiv erkannt werden könne.