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BVerfG, 09.06.1970 - 1 BvL 24/69

Daten
Fall: 
Kurzzeitige Freiheitsstrafe
Fundstellen: 
BVerfGE 28, 386 NJW 1970, 1453 MDR 1970, 823
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
09.06.1970
Aktenzeichen: 
1 BvL 24/69
Entscheidungstyp: 
Beschluss

Zur Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 1 StGB.

Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Ersten Senats vom 9. Juni 1970 gemäß § 24 BVerfGG
-- 1 BvL 24/69 --
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung der §§ 14 Abs. 1 und 27 b Abs. 1 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Art. 1 Nr. 4 und des Art. 106 Abs. 1 Nr. 1 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. 1 S. 645) - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Amtsgerichts Minden i. W. vom 1. September 1969 - 3 Ds 492/79 -.

Entscheidungsformel:
§ 14 Absatz 1 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Artikels 1 Nr. 4 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (Bundesgesetzbl. I S. 645) und § 27 b Absatz 1 des Strafgesetzbuches in der nach Artikel 106 Absatz 1 Nr. 1 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 1. September 1969 bis zum Ablauf des 31. März 1970 anzuwendenden Fassung sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Gründe

I.

1.

Die Bestimmungen des Art. 1 Nr. 4 und des Art. 106 Nr. 1 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) haben mit Wirkung vom 1. September 1969 an die Verhängung kurzzeitiger Freiheitsstrafen eingeschränkt. Durch diese Vorschriften haben § 27b Abs. 1 StGB für eine Übergangszeit vom 1. September 1969 bis zum 31. März 1970 und vom 1. April 1970 an der den § 27 b Abs. 1 StGB seit diesem Tage ersetzende § 14 Abs. 1 StGB folgenden Wortlaut erhalten:

Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verhängt das Gericht nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen.

Diese Regelung, die in erster Linie bei wahlweiser Androhung von Geld- und Freiheitsstrafe gilt, ist auch in Fällen, in denen das Gesetz Geldstrafe nicht oder nur neben Freiheitsstrafe oder nur bei mildernden Umständen androht und eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder darüber nicht in Betracht kommt, für die Zumessung einer Ersatzgeldstrafe anzuwenden (§ 14 Abs. 2 bzw. 27 b Abs. 2 Satz 1 StGB).

Vor Inkrafttreten der neuen Regelung enthielt das Strafgesetzbuch keine die kurze Freiheitsstrafe beschränkende Bestimmung. Lediglich für die Fälle, in denen das Gesetz für ein Vergehen oder eine Übertretung Geldstrafe nicht oder nur neben Freiheitsstrafe androhte und eine Freiheitsstrafe von weniger als drei Monaten verwirkt war, war auf eine Ersatzgeldstrafe zu erkennen, wenn der Strafzweck durch eine Geldstrafe erreicht werden konnte (§ 27 b StGB a.F.).

2.

Der Betroffene des Ausgangsverfahrens ist angeklagt, mit seinem Personenkraftwagen infolge Fahruntüchtigkeit auf Grund Alkoholgenusses fahrlässig zwei Menschen verletzt und anschließend Verkehrsunfallflucht begangen zu haben. Das vorlegende Amtsgericht hält ihn auf Grund der Hauptverhandlung im Sinne der Anklage für schuldig und möchte gegen ihn wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung (§ 315 c Abs. 1 Ziff. 1 a und Abs. 3 StGB) in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung (§§ 230, 232 StGB) und wegen Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB) auf eine Gesamtstrafe unter sechs Monaten Gefängnis erkennen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Das Gericht sieht sich hieran jedoch durch die neugefaßten Vorschriften des § 14 Abs. 1 bzw. des § 27 b Abs. 1 StGB gehindert; nach Auffassung des Gerichts sind die Voraussetzungen für die Verhängung einer Freiheitsstrafe nach Maßgabe dieser Vorschriften nicht erfüllt, so daß nur eine Geldstrafe in Betracht kommt.

3.

Durch Beschluß vom 1. September 1969 hat das Amtsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 27 b Abs. 1 StGB in der vom 1. September 1969 bis zum 31. März 1970 geltenden Übergangsfassung und § 14 Abs. 1 StGB in der vom 1. April 1970 an geltenden Fassung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zur Begründung der Vorlage hat es ausgeführt: Die neue Regelung, die im vorliegenden Fall die Verhängung einer Geldstrafe gebiete, verletze Art. 1 Abs. 1 GG, weil sie die Entscheidungsfreiheit des Richters bei der Wahl der Strafart zu stark einenge und ihn daran hindere, stets eine dem Grad des Verschuldens und der Schwere der Tat gerecht werdende Strafe festzusetzen. Sie wirke sich nicht nur zum Schaden der Allgemeinheit insbesondere dadurch aus, daß sie in zahlreichen Fällen dem Interesse des Verletzten an einer strengen Bestrafung des Täters nicht gerecht werde und den Strafzweck der allgemeinen Abschreckung nicht in geeigneter Weise berücksichtige. Vielmehr nehme sie dem Richter auch die Möglichkeit, bei sogenannter "kleiner Kriminalität" zum Wohle des Täters die Einrichtung der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung auszunutzen und die Wiedergutmachung des vom Täter angerichteten Schadens durch Bewährungsauflagen durchzusetzen. Ferner erhielten dadurch, daß der Richter "zur Verteidigung der Rechtsordnung" eine Freiheitsstrafe selbst dort verhängen müsse, wo zur Einwirkung auf den Täter eine Geldstrafe ausreiche, generalpräventive Überlegungen einen zu starken Einfluß auf die Bemessung der Strafe, die nach Art. 1 Abs. 1 GG die Schuld des Täters nicht übersteigen dürfe. Insoweit sei die Neuregelung auch nicht aus dem Gesichtspunkt der Abwehr einer Notstands- oder Krisensituation heraus zu rechtfertigen.

II.

Die zur Nachprüfung gestellten Rechtsvorschriften sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Die Anweisung an den Richter, kurzzeitige Freiheitsstrafen nur in Ausnahmefällen zu verhängen, hält sich im Rahmen der vom Grundgesetz insoweit dem Gesetzgeber überlassenen Gestaltungsfreiheit. Der Vorwurf, daß die neue Regelung den Richter daran hindere, bei der Bestimmung der Strafart im Einzelfall die ihm durch Art. 1 Abs. 1 GG aufgegebene Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde zu erfüllen, ist unbegründet. Die Vorschriften, die dem Richter Zurückhaltung bei der Verhängung von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten auferlegen, sind im Gegenteil Ausdruck des Bestrebens, über den Straftäter gerade in Besinnung auf die Wertvorstellungen des Grundgesetzes von der Persönlichkeit es Einzelnen und seiner Würde eine gerechte, dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragende Strafe zu verhängen. Dadurch soll die Strafart - besser als bisher - nach Eignung und Wirkung denjenigen Aufgaben angepaßt werden, die die Strafe im Einzelfall nach Maßgabe von Tat und Täter zu erfüllen hat. Anlaß für die neue Regelung war die Erkenntnis von dem geringen kriminalpolitischen Wert der kurzen Freiheitsstrafe unter sechs Monaten. Solche Freiheitsstrafen reichen für eine nachhaltige Erziehungsarbeit nicht aus, haben oft schädliche, sogar verbrechenfördernde Wirkung auf die Bestraften und belasten den Strafvollzug sachlich, personell und finanziell unverhältnismäßig. Deshalb hat u.a. auch der Zweite und Dritte Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger im Jahre 1960 in London und im Jahre 1965 in Stockholm eine weitgehende Einschränkung kurzer Freiheitsstrafen gefordert (vgl. hierzu ferner den Ersten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses des Bundestages für die Strafrechtsreform - BTDrucks. V/4094 S. 5 f. - sowie die Protokolle des Ausschusses, insbesondere 5. Wp. S. 36 ff., 47 ff., 527 ff., 562 ff., 572, 885 ff., 2134 ff., 2240, 3250). Aus diesen Gründen bezweckten die hier zur Prüfung stehenden Gesetzesänderungen, den Richter ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die kurzzeitige Freiheitsstrafe, die in der Strafpraxis der Gerichte überwog, nur Ausnahmecharakter haben solle. Eine solche gesetzgeberische Maßnahme beeinträchtigt nicht die Würde des strafrechtlich Verfolgten, sondern erkennt den Wert seiner Persönlichkeit gerade an.

Die beanstandete Regelung würde den Täter selbst dann nicht in verfassungswidriger Weise belasten, wenn mit dem vorlegenden Gericht anzunehmen wäre, daß sie eine Geldstrafe auch dort fordert, wo eine zwar kurzzeitige, aber zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe auf den Täter einen günstigeren erzieherischen Erfolg haben würde. In diesem Zusammenhang kann dahin stehen, ob eine solche Freiheitsstrafe solange, als die Strafaussetzung nicht widerrufen ist, den Betroffenen in seiner Persönlichkeit weniger schwer trifft als etwa eine fühlbare Geldstrafe. Da auch in solchen Fällen mit einer Strafvollstreckung gerechnet werden muß, treffen die Erwägungen, die zur Einschränkung kurzzeitiger Freiheitsstrafen geführt haben, auch für die zur Bewährung ausgesetzte kurze Freiheitsstrafe zu.

Ebensowenig sind die normierten Ausnahmetatbestände verfassungsrechtlich zu beanstanden, in denen die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe zugelassen ist. Insoweit beruhen die Bestimmungen auf der vorherrschenden Auffassung, daß die Ziele der Strafrechtspflege die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe insbesondere in denjenigen Fällen notwendig machen können, in denen der Täter durch eine Geldstrafe nicht nachhaltig zu beeinflussen ist oder wo um des Bestandes und der Wahrung der Rechtsordnung willen auf eine Ahndung des Rechtsbruches mit einer Freiheitsstrafe nicht verzichtet werden kann. Bei einer völligen Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe durch Heraufsetzen der Mindeststrafdauer könnten diese Fälle entweder nicht ausreichend geahndet werden oder aber zur Verhängung einer unangemessen langen Freiheitsstrafe veranlassen (vgl. hierzu den Ersten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses des Bundestages für die Strafrechtsreform [BTDruck. V/4094 S. 5 f.] sowie die Protokolle des Ausschusses, insbesondere 5. Wp. S. 36 f., 47 ff., 527 ff., 886 ff., 2133 ff.). Die neue Regelung ist daher auch insoweit an dem Verfassungsgebot sinn- und maßvollen Strafens ausgerichtet. Die Auffassung des Amtsgerichts, daß die Vorschriften unter Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG dazu aufforderten, "zur Verteidigung der Rechtsordnung" eine die Schuld des Täters übersteigende Freiheitsstrafe allein deshalb zu verhängen, um andere potentielle Täter abzuschrecken, trifft nicht zu. Da nach der Regelung ausdrücklich nur besondere, in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegende Umstände eine Freiheitsstrafe begründen können, ist in verfassungsrechtlich ausreichender Weise gewährleistet, daß der Täter nicht für vermutete kriminelle Neigungen Dritter büßen muß, sondern nach seiner Tat und nach seiner Schuld bestraft wird. Bei der Bestimmung der Strafart um des Bestands der Rechtsordnung willen wird der Täter nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs (vgl. BVerfGE 5, 85 [204]; 7, 198 [205]; 27, 1 [6]); die Vorschrift verstößt auch nicht gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz, daß jede Strafe in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muß (BVerfGE 6, 389 [439]; 9, 167 [169]; 20, 323 [331]; 25, 269 [285 f.]).

Dr. Müller, Dr. Stein, Ritterspach, Dr. Haager, Rupp-v. Brünneck, Dr. Böhmer, Dr. Brox, Dr. Zeidler