BVerfG, 25.01.1972 - 1 BvL 3/70
1. Art. 6 Abs. 4 GG (Mutterschutz) enthält einen bindenden Auftrag an den Gesetzgeber.
2. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß die schwangere Arbeitnehmerin in den Kündigungsschutz nach dem Mutterschutzgesetz in den Fällen, in denen dem Arbeitgeber die Schwangerschaft zur Zeit der Kündigung nicht bekannt war, jedenfalls dann verliert, wenn sie trotz Kenntnis der Schwangerschaft die in § 9 Abs. 1 S 1 MuSchG vorgesehene Mitteilungsfrist schuldhaft versäumt.
Beschluß
des Ersten Senats vom 25. Januar 1972
- 1 BvL 3/70 -
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 9 Abs. 1 Satz 1 des Mutterschutzgesetzes in der Fassung vom 18. April 1968 (BGBl. I S. 315) - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Arbeitsgericht Hannover vom 12. Dezember 1969 - 2 Ca 255/69 -.
Entscheidungsformel:
§ 9 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes zum Schutze der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz - MuSchG) in der Fassung vom 18. April 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 315) ist jedenfalls insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar, als danach der Arbeitgeber einer schwangeren Arbeitnehmerin kündigen darf, wenn er von der Schwangerschaft keine Kenntnis hat und die Arbeitnehmerin es schuldhaft unterläßt, ihm fristgerecht die ihr im Zeitpunkt der Kündigung bekannte Schwangerschaft mitzuteilen.
Gründe
I.
1.
§ 9 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zum Schutze der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz - MuSchG) in der Fassung vom 18. April 1968 (BGBl. I S. 315) lautet:
Die Kündigung gegenüber einer Frau während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung ist unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird.
2.
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens wurde im April 1969 als Friseuse beim Beklagten eingestellt. Im Mai 1969 erfuhr sie von ihrem Hausarzt, daß sie schwanger sei. Am 25. Juni 1969 kündigte ihr der Beklagte mit tariflicher Frist.
Mit ihrer beim Arbeitsgericht erhobenen Klage, die am 17. Juli 1969 dem Beklagten zugestellt wurde, begehrte die Klägerin die Feststellung, daß die Kündigung aufgrund der Bestimmungen des Mutterschutzgesetzes unwirksam sei und das Arbeitsverhältnis fortbestehe.
Das Arbeitsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt,
ob die in § 9 MuSchG genannte Mitteilungsfrist wegen Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 4 GG nichtig sei.
Das Arbeitsgericht führt dazu aus, die Klage sei abzuweisen, wenn die Frist mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei dem beklagten Arbeitgeber die Schwangerschaft weder zur Zeit der Kündigung bekannt gewesen noch innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt worden. Dagegen sei der Klage stattzugeben, wenn die Fristregelung von zwei Wochen verfassungswidrig und im Wege der Lückenausfüllung die Dreiwochenfrist des § 4 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) anzuwenden sei.
Das Arbeitsgericht hält die Zweiwochenfrist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 4 GG, Art. 3 GG und dem Sozialstaatsprinzip. Dazu führt es aus:
Der Gesetzgeber habe nicht beachtet, daß Art. 6 Abs. 4 GG es ihm untersage, die Ausschlußfristen bei Kündigungen zuungunsten der Schwangeren zu regeln. Für den allgemeinen Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz genüge es, daß die Klage innerhalb von drei Wochen beim Arbeitsgericht eingereicht werde; bei unverschuldeter Fristversäumung werde auch eine verspätete Klage noch zugelassen. Dagegen gelte nach dem Mutterschutzgesetz eine Frist von zwei Wochen für die Erklärung an den Arbeitgeber, ohne daß bei Fristversäumung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgesehen sei. Dadurch könnten besonders für die nicht verheirateten Frauen schwere Härten eintreten; denn diese befolgten weniger als verheiratete Frauen das Gebot des § 5 Abs. 1 Satz 1 MuSchG, dem Arbeitgeber die Schwangerschaft und den mutmaßlichen Tag der Entbindung mitzuteilen. Werde ihnen gekündigt, versäumten sie oft die Mitteilungspflicht; vielfach kennten sie die Frist gar nicht. Wenn die Kündigung unangreifbar geworden sei, fänden die Frauen schwer einen neuen Arbeitsplatz, da zumindest Groß- und Mittelbetriebe bei der Einstellung nach dem Bestehen einer Schwangerschaft zu fragen und Schwangere nicht einzustellen pflegten. Derart schwerwiegende Folgen bereits an die Versäumung der Zweiwochenfrist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG zu knüpfen, widerspreche der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 4 GG.
Die Beschränkung der Ausschlußfrist auf zwei Wochen verstoße auch gegen Art. 3 GG und das Sozialstaatsprinzip. Für die Ungleichbehandlung im Vergleich zu § 4 KSchG fehle ein sachlicher Grund. Ferner sei Art. 3 Abs. 3 GG verletzt, weil schwangere Arbeitnehmerinnen gegenüber nichtschwangeren Arbeitnehmerinnen und gegenüber allen männlichen Arbeitnehmern benachteiligt würden.
3.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat namens der Bundesregierung mitgeteilt, er habe die Arbeitsminister und Senatoren für Arbeit der Bundesländer gebeten, ihm ihre Erfahrungen bei der Anwendung der Fristbestimmung des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG mitzuteilen. Aus den Antworten sei ersichtlich, daß die Zahl der Fälle, in denen die werdende Mutter die Frist schuldlos nicht eingehalten habe, weil sie ihre Schwangerschaft nicht kannte, verhältnismäßig gering sei. Die Minister und Senatoren hätten geantwortet, die Zahl dieser Fälle sei verhältnismäßig gering. Die Zweiwochenfrist werde in den meisten Fällen aus Unkenntnis der gesetzlichen Bestimmungen versäumt. Deshalb werde durch eine Verlängerung der Frist auf drei Wochen der Schutz der werdenden Mutter nicht wesentlich verbessert. Die Auffassung des Arbeitsgerichts, daß der Kündigungsschutz des § 9 MuSchG vornehmlich den in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Arbeitnehmerinnen zugute komme, werde durch die Berichte der Länder nicht bestätigt. Im übrigen sehe die Bundesregierung davon ab, zu dem Vorlagebeschluß Stellung zu nehmen.
II.
Die Vorlage ist zulässig. Im Vorlagebeschluß ist hinreichend dargelegt, daß die gestellte Frage für das vorlegende Gericht entscheidungserheblich ist.
Jedoch muß die Vorlagefrage dahin eingeschränkt werden, daß die Verfassungsmäßigkeit der Fristbestimmung nur für die Fälle zu prüfen ist, in denen die werdende Mutter, obwohl sie zur Zeit der Kündigung ihre Schwangerschaft kannte, die fristgerechte Mitteilung schuldhaft versäumt hat. Denn im Ausgangsfall war der Klägerin ihre Schwangerschaft bereits mehrere Wochen vor der Kündigung bekannt, und es lagen keine Gründe vor, die einer fristgerechten Mitteilung entgegengestanden hätten. Es können also die Fälle unberücksichtigt bleiben, in denen eine schwangere Arbeitnehmerin ihre Schwangerschaft nicht kennt oder bei Kenntnis die fristgerechte Mitteilung schuldlos unterläßt.
III.
Die in § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG genannte Frist ist, soweit sie zur Prüfung steht, mit dem Grundgesetz vereinbar.
1.
Die Regelung verstößt nicht gegen Art. 6 Abs. 4 GG. Danach hat jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Diese Norm enthält nicht nur einen Programmsatz, sondern einen bindenden Auftrag an den Gesetzgeber, dessen Erfüllung nicht in seinem freien Belieben steht. Dafür spricht schon der Wortlaut, aber auch die Entstehungsgeschichte. Gegenüber Art. 119 Abs. 3 WRV hat Art. 6 Abs. 4 GG bewußt eine andere konkretere Fassung erhalten, wonach der Schutz nicht mehr allgemein auf "die Mutterschaft" bezogen, sondern "jeder Mutter" zugesprochen ist. Art. 6 Abs. 4 GG ist ebenso wie Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 6, 55 [76]) und Art. 6 Abs. 5 GG (vgl. BVerfGE 25, 167 [173]) Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die für den gesamten Bereich des privaten und öffentlichen Rechts verbindlich ist. Es kann hier offenbleiben, ob diese Norm eine Frau nur während der Schwangerschaft schützt oder ob sie darüber hinaus auch einen verfassungsrechtlichen Schutz jeder Frau bedeutet, die Mutter geworden ist. Denn wenn der Mutterschutz überhaupt Bedeutung haben soll, dann vor allem für die Zeit der Schwangerschaft, um die es hier allein geht.
Es bedarf keiner abschließenden Prüfung, wie weit der Schutz der Mutter durch den Gesetzgeber verfassungsrechtlich geboten ist. Es kann unterstellt werden, daß Art. 6 Abs. 4 GG den Bestand des Arbeitsverhältnisses einer schwangeren Arbeitnehmerin gewährleistet und den Gesetzgeber anweist, die werdende Mutter gegen den Verlust des Arbeitsplatzes zu schützen. Einer solchen Verpflichtung widerspricht § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG, soweit er zur Prüfung steht, nicht. Der Kündigungsschutz der werdenden Mutter ist absolut; selbst bei schweren Verfehlungen gegen den Arbeitgeber ist die Kündigung ausgeschlossen. Die Zahl der Fälle, in denen eine Kündigung in einem besonderen Verfahren gemäß § 9 Abs. 3 MuSchG für zulässig erklärt wird, ist nach Mitteilung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung gering. Die Vorschrift, daß die Schwangerschaft dem Arbeitgeber binnen einer bestimmten Frist mitgeteilt werden muß, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da der Arbeitgeber wegen der ihm durch die Beschäftigung einer werdenden Mutter obliegenden erhöhten Pflichten alsbald Klarheit darüber erhalten muß, ob das Arbeitsverhältnis fortbesteht oder nicht. Die Frist von zwei Wochen ist auch so bemessen, daß die werdende Mutter bei zumutbarer Sorgfalt in der Wahrung ihrer Rechte den Kündigungsschutz nicht verlieren kann. Der Gesetzgeber verpflichtet nämlich den Arbeitgeber mit mehr als drei beschäftigten Frauen, einen Abdruck des Mutterschutzgesetzes an geeigneter Stelle zur Einsicht auszulegen oder auszuhängen (§ 18 Abs. 1 MuSchG); damit wird eine gewisse Vorsorge dagegen getroffen, daß Frauen aus Rechtsunkenntnis ihre Rechte aus dem Mutterschutzgesetz nicht geltend machen. Als Vorkehrung gegen den Verlust des Arbeitsplatzes erweist sich schon § 5 Abs. 1 Satz 1 MuSchG, wonach die werdenden Mütter dem Arbeitgeber ihre Schwangerschaft mitteilen sollen, sobald ihnen ihr Zustand bekannt ist. Verhält sich eine werdende Mutter nach dieser Vorschrift, ist sie schon dadurch vor einer Kündigung geschützt. Selbst wenn sie § 5 Abs. 1 Satz 1 MuSchG bis zu einer Kündigung nicht beachtet hat, kann sie die Wirkung der Kündigung noch dadurch abwenden, daß sie die Schwangerschaft innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung dem Arbeitgeber anzeigt. Demnach ist die Zweiwochenfrist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG jedenfalls dann mit Art. 6 Abs. 4 GG vereinbar, wenn die werdende Mutter wie die Klägerin im Ausgangsverfahren die Schwangerschaft bereits im Zeitpunkt der Kündigung kannte und schuldhaft die Frist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG hat verstreichen lassen. Die Mitteilung der Schwangerschaft an den Arbeitgeber ist der Arbeitnehmerin auch zumutbar. Sie kann nicht im Hinblick auf etwa bei ihr bestehende innere Hemmungen einen bedingungslosen Schutz zu Lasten anderer beanspruchen.
2.
Die Frist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG ist auch mit Art. 3 GG vereinbar. Zu Unrecht meint das vorlegende Gericht, aus der verschieden langen Frist im Kündigungsschutzgesetz (§ 4 Satz 1) und im Mutterschutzgesetz (§ 9 Abs. 1 Satz 1) sowie aus der Möglichkeit der Wiedereinsetzung nach Fristversäumung gemäß § 5 KSchG und dem Fehlen einer solchen Regelung im Mutterschutzgesetz eine Verletzung des Gleichheitssatzes herleiten zu können. Der Kündigungsschutz der werdenden Mutter tritt nicht an die Stelle des allgemeinen Kündigungsschutzes, sondern stellt einen zusätzlichen Schutz der werdenden Mutter dar. Schon deshalb kann der Gesetzgeber den zusätzlichen Kündigungsschutz nach dem Mutterschutzgesetz an strengere Voraussetzungen knüpfen als den allgemeinen Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz. Hieran ändert nichts, daß die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht in den Genuß des allgemeinen Kündigungsschutzes kommt, da sie nicht mehr als sechs Monate bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt war (vgl. § 1 Abs. 1 KSchG); denn bei gleicher Sachlage genießen auch nichtschwangere Arbeitnehmerinnen und männliche Arbeitnehmer keinen Kündigungsschutz.
3.
Schließlich scheidet auch eine Verletzung des allgemeinen Sozialstaatsprinzips aus. Denn Art. 6 Abs. 4 GG konkretisiert dieses Prinzip für seinen speziellen Bereich. Deshalb kann aus dem allgemeinen Prinzip hier kein weitergehender verfassungsrechtlicher Schutz hergeleitet werden.
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