BVerfG, 08.11.1960 - 2 BvR 177/60
1. Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht jedem zu, der von dem Verfahren eines Gerichts der Bundesrepublik unmittelbar betroffen wird, gleichgültig, ob er eine natürliche oder eine juristische, eine inländische oder eine ausländische Person ist.
2. Die Verfassungsbeschwerde dient der Durchsetzung der Grundrechte und der grundrechtsähnlichen Rechte. Deswegen muß jedem die Befugnis zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde zustehen, der Träger eines der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte sein kann.
Beschluß
des Zweiten Senats vom 8. November 1960
– 2 BvR 177/60 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der ..., Société Anonyme, Paris, ..., Bevollmächtigter: Rechtsanwalt ..., München ..., gegen den Beschluß der 4. Strafkammer des Landgerichts München I - IV Qs 158/59 - vom 8. Oktober 1959.
Entscheidungsformel:
Der Beschluß der 4. Strafkammer des Landgerichts München I vom 8. Oktober 1959 - IV Qs 158/59 - verletzt Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht München I zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Beschwerdeführerin sandte im Februar 1959 eine Anzahl Farbdiapositive an eine Münchener Fotogroßhandlung. Die Sendung wurde auf dem Hauptzollamt München angehalten, in polizeiliche Verwahrung genommen und sodann beschlagnahmt. Durch Beschluß vom 4. September 1959 ordnete das Amtsgericht München die Einziehung und Unbrauchbarmachung an mit der Begründung, daß es sich um unzüchtige Abbildungen im Sinne des § 184 StGB handele. Gegen den am 9. September 1959 zugestellten Beschluß legte die Beschwerdeführerin durch einen Münchener Anwalt, der zunächst ohne Vollmacht der in Paris domizilierenden Beschwerdeführerin auf Anregung des Münchener Adressaten der Sendung handelte, am 2. Oktober 1959, einem Freitag, beim Landgericht München I sofortige Beschwerde ein, die mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Beschwerdefrist verbunden war. Eine Begründung wurde dabei nur für den Wiedereinsetzungsantrag gegeben mit dem Zusatz, daß die Anwaltsvollmacht und eine materielle Beschwerdebegründung nachgereicht würden. Die Beschwerdeschrift wurde nach Beifügung der Akten des Amtsgerichts und einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft am 8. Oktober 1959, einem Donnerstag, der 4. Strafkammer des Landgerichts vorgelegt. Ungeachtet eines vom gleichen Tage datierten Aktenvermerks, wonach ein Schriftsatz nachgereicht würde, verwarf die Strafkammer die Beschwerde (unter Gewährung der beantragten Wiedereinsetzung) noch am gleichen Tage "aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses, die durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet werden". Gegen diesen, am 16. Oktober 1959 zugestellten Beschluß hat die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 12. November, eingegangen am 14. November 1959, Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Gemäß § 94 BVerfGG hat das Bundesverfassungsgericht dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz in München von der Verfassungsbeschwerde Kenntnis gegeben. Das Ministerium hat in seiner Stellungnahme ausgeführt, daß die Beschwerdeführerin, eine französische Aktiengesellschaft mit dem Sitz in Paris, nach den einschlägigen Prozeßnormen parteifähig sei, das durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierte Recht auf rechtliches Gehör in Anspruch nehmen könne und damit legitimiert sei, die Verfassungsbeschwerde zu erheben. In der Sache selbst weist das Ministerium darauf hin, daß die Beschwerdeführerin immerhin vom 2. bis 8. Oktober Zeit gehabt hätte, ihre Beschwerdebegründung zu ergänzen.
Die Beschwerdeführerin hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte, auf Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Auch eine ausländische juristische Person ist berechtigt, wegen Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG Verfassungsbeschwerde zu erheben. Art. 19 Abs. 3 GG steht dem nicht entgegen. Wenn aus dieser Vorschrift überhaupt zu folgern sein sollte, daß ausländische juristische Personen nicht Träger von Grundrechten sein können, so könnte das jedenfalls nur für die in Abschnitt I des Grundgesetzes gewährten Rechte gelten. Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht, wie schon der Wortlaut dieser Vorschrift erkennen läßt, jedem zu, der von dem Verfahren eines Gerichts der Bundesrepublik unmittelbar betroffen wird, gleichgültig, ob er eine natürliche oder eine juristische, eine inländische oder eine ausländische Person ist. Wollte man aus dem Kreis der möglichen Verfahrensbeteiligten eine bestimmte Gruppe (hier: ausländische juristische Personen) herausnehmen und ihr die in Art. 103 Abs. 1 GG gegebene Sicherung versagen, die allen anderen - also auch dem prozessualen Gegner der ausländischen juristischen Person - zukommt, so würde darin ein Einbruch in eines der zentralen Prinzipien des Grundgesetzes, den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, liegen.
Die Verfassungsbeschwerde dient der Durchsetzung der Grundrechte und der grundrechtsähnlichen Rechte. Deswegen muß jedem die Befugnis zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde zustehen, der Träger eines der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte sein kann. Die Beschwerdeführerin behauptet die Verletzung des ihr zustehenden Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Verfassungsbeschwerde ist daher zulässig.
2. Das Landgericht hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt, indem es ihre Beschwerde verwarf, ohne zur Nachreichung der angekündigten Beschwerdebegründung genügend Zeit zu lassen und hierfür gegebenenfalls eine Frist zu setzen. Die zwischen der Einreichung der Beschwerde (2. Oktober 1959) und der Entscheidung (8. Oktober 1959), liegende Frist, in welche auch noch ein Wochenende fiel, war im vorliegenden Falle keinesfalls ausreichend, da der Verkehr der in Paris ansässigen Beschwerdeführerin mit ihrem Münchener Anwalt naturgemäß Zeit erforderte und die Sache erkennbar nicht eilbedürftig war (vgl. BVerfGE 4, 190 [192]; 6, 12 [15]; 8, 89 [91]).
Die angefochtene Entscheidung kann auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruhen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht nach Prüfung der von dem Anwalt der Beschwerdeführerin angekündigten Beschwerdebegründung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Wie die Beschwerdeführerin in ihrer Verfassungsbeschwerde vorgetragen hat, würde sie insbesondere geltend gemacht haben, daß die beschlagnahmten Abbildungen nicht unzüchtig im Sinne des § 184 StGB seien (was andere Gerichte der Bundesrepublik Deutschland angeblich anerkannt hätten), und daß auch die rechtlichen Voraussetzungen einer Anwendung der §§ 40 und 41 StGB nicht gegeben seien. Für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ist maßgebend, daß diese Argumente nicht ohne weiteres als verfehlt betrachtet werden können.
Der angefochtene Beschluß war somit aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht München I zurückzuverweisen.