BGH, 15.05.1973 - 4 StR 172/73
Hat sich der Angeklagte entweder des schweren Raubes oder der Unterschlagung schuldig gemacht, so ist er auf der wahldeutigen Grundlage "Diebstahl oder Unterschlagung" zu verurteilen (teilweise Aufgabe und Fortführung von BGHSt 21, 152).
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 17. November 1972
a) im Schuldspruch dahin geändert, daß der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung entweder in Tateinheit mit Diebstahl oder in Tatmehrheit mit Unterschlagung (Wahlfeststellung) verurteilt wird (§§ 223 a, 242, 246, 73, 74 StGB),
b) im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Dem Angeklagten ist Straßenraub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Die Strafkammer hat eindeutig nur feststellen können, daß der Angeklagte den Kellner W., mit dem er gezecht hatte, in einer Toreinfahrt zu Boden geschlagen, ihn mehrfach getreten, dann auf den Bürgersteig geschleift und dort noch einmal getreten hat und daß er jedenfalls später im Besitz von dessen Armbanduhr gewesen ist. Warum er W. zusammengeschlagen und wann und auf welche Weise er den Besitz an der Uhr erlangt hat, hat sie dagegen nicht eindeutig klären können. Sie hält zwei Geschehensabläufe gleichermaßen für möglich: Der Angeklagte hat entweder in Raubabsicht gehandelt und W. die Uhr während der Gewaltanwendung weggenommen oder W. aus Arger darüber verprügelt, daß dieser nicht mehr mit ihm weiter trinken wollte, und die Uhr später auf dem Boden, wohin sie während der Prügelei zufällig gelangt ist, gefunden. Einen anderen Geschehensablauf hält sie für ausgeschlossen.
Die Strafkammer hat den Angeklagten aufgrund dieser Sachlage (nur) wegen gefährlicher Körperverletzung zu 1500 DM Geldstrafe verurteilt. Eine Verurteilung auch wegen schweren Raubes oder wegen Unterschlagung oder auf der nach ihrer Ansicht allein in Betracht zu ziehenden wahldeutigen Grundlage "schwerer Raub oder Unterschlagung" hat sie aus Rechtsgründen abgelehnt.
Die dagegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat Erfolg.
Die Rechtsauffassung der Strafkammer deckt sich allerdings weitgehend mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Kann - von der im vorliegenden Fall eindeutig festgestellten Körperverletzung einmal abgesehen - vom Tatrichter, wie hier, trotz Ausschöpfung aller verfügbarer Erkenntnisquellen eine eindeutige Tatfeststellung nicht getroffen werden (vgl. BGHSt 12, 386 [388]), kommt eine Verurteilung nur in Betracht, wenn entweder die festgestellten mehreren möglichen Verhaltensweisen in einem sog. "Stufenverhältnis" zueinander stehen oder die Voraussetzungen für eine Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage vorliegen oder der Sonderfall des sog. "Auffangtatbestandes" gegeben ist (vgl. BGHSt 22, 154 [156] m. Nachw.; BGHSt 23, 203 [204]). Ein Stufenverhältnis zwischen Unterschlagung und Raub besteht nicht (vgl. BGHSt 9, 390 [397]; 23, 203 [206 ff.]); ebensowenig ist § 246 StGB - anders als beispielsweise § 330 a StGB - ein Auffangtatbestand (vgl. BGHSt 9, 390 [395 ff.]). Der Untersuchung bedarf danach nur die Frage der sog. Wahlfeststellung.
Nach der Entscheidung des Reichsgerichts RGSt 68, 257 und der ihr folgenden ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Voraussetzung einer Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage, daß die mehreren möglichen (einander ausschließenden) Verhaltensweisen rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind. Das hat der Senat in seinem Urteil BGHSt 21, 152 eingehend dargelegt. Weder die im Schrifttum geübte Kritik (vgl. u.a. Deubner NJW 1967, 738; Dreher MDR 1970, 369; Tröndle in LK 9. Aufl. Nach § 2 StGB Rn. 37; auch Hruschka zuletzt NJW 1971, 1392) noch die Ausführungen der Revision geben, jedenfalls für den vorliegenden Fall, Veranlassung, von diesem auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 22, 154 [156]; 23, 203 [204]; 23, 360) anerkannten Erfordernis abzugehen.
Danach sind die Voraussetzungen für eine Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage (u.a.) zwar gegeben zwischen den, wenn auch nicht in gleicher, so doch in ähnlicher Weise von der Allgemeinheit mißbilligten Verhaltensweisen des Diebstahls und der Unterschlagung. Beide Tatbestände sind nahe miteinander verwandt; das geschützte Rechtsgut ist dasselbe, und der Täterwille ist durch eine gleichartige, eigene Sachherrschaft erstrebende Mißachtung fremden Eigentums gekennzeichnet (BGHSt 16, 184 [187]). Im Verhältnis des (schweren) Raubes zur Unterschlagung fehlt es jedoch, wie die Strafkammer zutreffend angenommen hat, an der rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit. Diese Straftaten setzen beim Täter eine andere Sinnesart voraus. Wie der Senat dies bereits für das ähnlich gelagerte Verhältnis zwischen Raub und Hehlerei in BGHSt 21, 152 [154] ausgeführt hat, verletzt der Räuber zudem nicht nur - wie der auf gleicher Stufe mit dem Dieb stehende Täter der Unterschlagung - das Eigentum, sondern außerdem die persönliche Freiheit seines Opfers, also ein auf einer nicht vergleichbaren Ebene liegendes Rechtsgut. Seine Tat verdient auch nach allgemeinem Rechtsempfinden eine ungleich schärfere Mißbilligung. Eine Verurteilung auf der wahldeutigen Grundlage "schwerer Raub oder Unterschlagung" ist also nicht zulässig.
Das bedeutet indessen nicht, daß der Täter freizusprechen wäre oder jedenfalls, wie hier, wegen seiner über die eindeutig festgestellte gefährliche Körperverletzung hinausgehenden strafwürdigen Verhaltensweisen, die ebenfalls, wenn auch nur wahlweise festgestellt sind, nicht zur Verantwortung gezogen werden könnte. Das wäre von der Rechtsordnung nicht zu billigen. In einem solchen Falle hat sich die rechtliche Würdigung vielmehr nur auf das rechtsethisch und psychologisch Vergleichbare dieser Verhaltensweisen zu beschränken. Das ist hier der Diebstahl und die Unterschlagung.
Nun hat zwar das Gericht den ihm durch Anklage und Eröffnungsbeschluß unterbreiteten Sachverhalt grundsätzlich unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen, im Falle einer Wahlfeststellung in bezug auf jede der als möglich festgestellten Verhaltensweisen. Etwas anderes ist jedoch geboten, wenn einer solchen (Gesamt-) Würdigung unter einem der mehreren Gesichtspunkte ein rechtliches Hindernis entgegensteht wie beispielsweise der Mangel des Strafantrages oder die Verjährung. Dann ist das Gericht zu einer auf die übrigen Gesichtspunkte beschränkten rechtlichen Würdigung gezwungen. An diesen Rechtsgedanken anknüpfend hat der Bundesgerichtshof in BGHSt 15, 266 entschieden, daß die Verurteilung auf der wahldeutigen Grundlage "Diebstahl oder Hehlerei" nicht deshalb unzulässig sei, weil der Täter für den Fall des Diebstahls weiterer Gesetzesverletzungen in Tateinheit damit schuldig sei, denen auf der Seite der Hehlerei nichts Vergleichbares gegenüberstehe; diese weiteren Gesetzesverletzungen sind lediglich aus der Beurteilung auszuscheiden (vgl. auch die Anmerkung von Busch in LM Nr. 25 zu § 267 Abs. 1 StPO). In dieser Entscheidung ist weiter ausgeführt: Es sei kein Anlaß ersichtlich, die Zulässigkeit einer Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage deshalb zu verneinen, weil es bei rechtlicher Gesamtbeurteilung der beiden in Betracht kommenden Geschehensabläufe an der Vergleichbarkeit fehle, obwohl sie für einen bestimmten Teilbereich zweifelsfrei gegeben sei. Sonst wäre der Angeklagte in unverständlicher Weise gegenüber einem Täter bevorzugt, bei dem die Verwirklichung zusätzlicher Tatbestände aus Rechtsgründen ausscheide. Der Angeklagte könne in keiner Beziehung dadurch beschwert sein, daß bestimmte Tatbestände aus der Beurteilung ausgeschieden würden.
Diese zutreffenden Erwägungen müssen auch für den vorliegenden Fall gelten. In dem Tatbestand des Raubes ist der des Diebstahls voll enthalten. Es kann aber keinen Unterschied machen, ob das als nicht vergleichbar bei der Beurteilung auszuscheidende Teilgeschehen im Verhältnis zum Diebstahl einen fremden Straftatbestand, z. B. den der Untreue, oder einen qualifizierten Tatbestand wie den des Raubs verletzt. Die rechtliche Würdigung hat sich in einem solchen Fall nach Ausscheiden der qualifizierenden Raubmerkmale auf den Grundtatbestand des Diebstahls zu beschränken (so auch Willms LM Nr. 30 zu § 267 Abs. 1 StPO; Oellers MDR 1967, 506; Schönke/Schröder 16. Aufl. § 2 b Rn. 14 a; Tröndle in LK 9. Aufl. Nach § 2 StGB Rn. 31; vgl. auch Nüse JR 1959, 305). Soweit der Senat, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch im Ergebnis, in der bereits erwähnten Entscheidung BGHSt 21, 152 eine andere Rechtsauffassung vertreten hat, hält er nicht mehr an ihr fest.
Da die Strafkammer in beiden als möglich angenommenen Geschehensabläufen gefährliche Körperverletzung als erwiesen angesehen hat, sind vorliegend allerdings nicht die den Raub qualifizierenden Tatbestandsmerkmale selbst, also die Gewaltanwendung, aus der Beurteilung auszuscheiden, sondern hat die Gewaltanwendung lediglich als Mittel der Wegnahme außer Betracht zu bleiben. Die Verurteilung ist danach auf der wahldeutigen Grundlage "Diebstahl in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung oder Unterschlagung und gefährliche Körperverletzung" auszusprechen. Dahin hat der Senat den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO geändert.
Über die Strafe muß neu entschieden werden. Die Strafkammer hat dabei zu beachten, daß bei einer wahlweisen Verurteilung in allen Punkten die dem Angeklagten günstigste der alternativen Tatgestaltungen zugrunde zu legen ist (vgl. auch BGHSt 15, 266).
Die Entscheidung entspricht dem in der Verhandlung vor dem Senat gestellten Antrag des Generalbundesanwalts.