BVerfG, 17.10.1967 - 1 BvR 760/64

Daten
Fall: 
Betheldiener
Fundstellen: 
BVerfGE 22, 287; DÖV 1968, 666; JZ 1968, 376; NJW 1968, 31
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
17.10.1967
Aktenzeichen: 
1 BvR 760/64
Entscheidungstyp: 
Reschluss
Richter: 
Müller, Stein, Ritterspach, Haager, Rupp-v. Brünneck, Böhmer, Brox, Zeidler
Instanzen: 
  • AG Wiesbaden, 11.10.1963 - 2 Ms 67/63
  • LG Wiesbaden, 30.01.1964 - 2 Ms 67/63
  • OLG Frankfurt, 28.10.1964 - 1 Ss 345/64

Zur Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Ersten Senats vom 17. Oktober 1967
– 1 BvR 760/64 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. des Betheldieners G., 2. der Wachturm Bibel- und Traktatgesellschaft, Deutscher Zweig e. V., Wiesbaden-Dotzheim, Am Kohlheck, Greiffstraße 2, vertreten durch den 2. Vorsitzenden... - Bevollmächtigter zu 1. und 2.: Rechtsanwalt... - gegen 1. das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 28. Oktober 1964 - 1 Ss 345/64 - 2. Das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 30 Januar 1964 - 2 Ms 67/63 (Ns) - 3. das Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 11. Oktober 1963 - (81) 2 Ms 67/63.
Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerden werden verworfen.

Gründe

I.

1. Der Beschwerdeführer G... gehört der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Er hat im Jahre 1954 die Wassertaufe in dieser Gemeinschaft empfangen. Seit 1956 arbeitet er in Wiesbaden als Drucker in dem Verlag der Beschwerdeführerin, der Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft, Deutscher Zweig e. V. Sie ist die rechtliche Organisation der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. In dieser Eigenschaft gehört der Beschwerdeführer dem sogenannten "Bethel" an, das ein kleiner Kreis ausgewählter Zeugen Jehovas in Gemeinschaftsunterkunft ist. In dem Haus dieser Gemeinschaft wohnt er; dort befindet sich seine Arbeitsstätte; hier erhält er freie Wohnung und Verpflegung sowie ein geringes monatliches Taschengeld.

Mit dem Musterungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Wiesbaden vom 27. April 1959 wurde festgestellt, daß der Beschwerdeführer für den Wehrdienst zur Verfügung stehe und sich zum Wehrdienst zu stellen habe. Auf seinen Antrag wurde er aber durch Bescheid des Kreiswehrersatzamtes Mainz für berechtigt erklärt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern; gleichzeitig wurde er dem zivilen Ersatzdienst zur Verfügung gestellt. Mit dem Hinweis darauf, daß er hauptamtlich tätiger Geistlicher der Zeugen Jehovas sei, beantragte er am 13. Februar und 11. Dezember 1961, ihn von jeglichem Wehr- und Ersatzdienst zu befreien. Diese Anträge lehnte der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung mit Bescheid vom 5. Juli 1962 ab; gleichzeitig teilte er dem Beschwerdeführer seine Heranziehung zum zivilen Ersatzdienst mit. Nachdem sein Widerspruch gegen diese Maßnahmen zurückgewiesen worden war, wurde der Beschwerdeführer durch den Einberufungsbescheid des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 13. August 1962 ab 1. Oktober 1962 zur Dienstleistung bei der Ersatzdienstgruppe in Tübingen einberufen. Der hiergegen von ihm eingelegte Widerspruch wurde zurückgewiesen. Eine beim Verwaltungsgericht in Köln gegen die Einberufung zum zivilen Ersatzdienst erhobene Anfechtungsklage hat der Beschwerdeführer mit der Begründung zurückgenommen, daß das Verwaltungsgericht eine gleichliegende Klage abgewiesen habe und daß er finanziell nicht in der Lage sei, den Rechtsweg in die höhere Instanz zu beschreiten. Der Beschwerdeführer hat den Dienst nicht angetreten.

Das Schöffengericht Wiesbaden verurteilte ihn deshalb wegen Dienstflucht, Vergehen gemäß § 37 des Gesetzes über den zivilen Ersatzdienst in der Fassung vom 13. Januar 1960 – BGBl. I S. 10 – (ErsatzdienstG), zu einer Gefängnisstrafe von 4 Monaten. Das Landgericht Wiesbaden verwarf seine Berufung, das Oberlandesgericht Frankfurt seine Revision. Zur Begründung hat das Oberlandesgericht ausgeführt: Der Beschwerdeführer sei grundsätzlich wehrpflichtig, denn er sei nicht auf Grund § 11 Abs. 1 Nr. 3 des Wehrpflichtgesetzes (WPflG) vom Wehrdienst befreit; er sei kein Geistlicher im Sinne dieser Vorschrift. Der Beschwerdeführer sei auch nicht, wie er meine, den Angehörigen eines römisch-katholischen Ordens gleichzustellen. Zwar seien katholische Ordensangehörige durch Art. 6 des Reichskonkordats (RK) vom Wehrdienst befreit. Es könne aber dahinstehen, inwieweit die Stellung des Beschwerdeführers im "Bethel" der Zeugen Jehovas mit der Stellung eines Ordensmitgliedes vergleichbar sei. Denn zwischen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas und der Bundesrepublik Deutschland sei keine dem Konkordat entsprechende Regelung getroffen worden.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde beantragen die Beschwerdeführer, die ergangenen Strafurteile aufzuheben. Sie rügen Verletzung der Art. 3, 4, 19 Abs. 3 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 ff. WRV.

Sie machen geltend, die Strafgerichte hätten den geistlichen Status des Betheldieners verkannt und ihn zu Unrecht weder einem Geistlichen noch einem Angehörigen katholischer Orden gleichgestellt und damit zugleich die Bekenntnisparität und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften verletzt. Die Beschwerdeführerin fühlt sich durch die gegen den Beschwerdeführer ergangenen Urteile selbst unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt. Der rechtliche Status eines Geistlichen könne nicht losgelöst von der Institution gesehen werden, die ihn eingesetzt habe. Müsse der Beschwerdeführer Ersatzdienst leisten, dann werde sie in ihrer religiösen Arbeit wesentlich beeinträchtigt.

3. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerden für unzulässig und für unbegründet. Er trägt vor:

Die Verfassungsbeschwerden seien nicht schlüssig. Die Entscheidung über die Befreiung vom Ersatzdienst sei ausschließlich Gegenstand des Verwaltungsverfahrens und eines etwaigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Im strafrechtlichen Verfahren sei nicht nachzuprüfen, ob materiell eine Ersatzdienstpflicht bestehe. Da der gegen den Beschwerdeführer ergangene Einberufungsbescheid durch Rücknahme der Verwaltungsklage unanfechtbar geworden sei, komme es für die Bestrafung auf seine Rechtmäßigkeit nicht mehr an.

Die Verfassungsbeschwerden seien aber auch deshalb unbegründet, weil der Beschwerdeführer weder einem evangelischen oder römisch-katholischen Geistlichen noch einem katholischen Ordensangehörigen gleichzustellen sei. Ein Betheldiener sei auch in tatsächlicher Hinsicht mit einem römisch-katholischen Ordensangehörigen nicht zu vergleichen.

Schließlich könne der Beschwerdeführer in keinem Falle aus Art. 6 RK einen Anspruch auf Befreiung vom zivilen Ersatzdienst herleiten. Art. 6 RK befreie die Ordensleute nur vom Kriegsdienst mit der Waffe; eine Heranziehung von Ordensleuten zu einem Dienst ohne Waffe, z. B. als Sanitäter oder im zivilen Ersatzdienst, stehe mit dem Reichskonkordat in Einklang.

II.

Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.

1. Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg gegen die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen strafgerichtlichen Urteile erschöpft.

Gleichwohl steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde entgegen. Danach muß ein Beschwerdeführer die Beseitigung des Hoheitsaktes, dessen Grundrechtswidrigkeit er geltend macht, zunächst mit den ihm durch das Gesetz zur Verfügung gestellten anderen Rechtsbehelfen zu erreichen suchen (vgl. BVerfGE 5, 9 [10]; 8, 222 [225 f.]; 10, 274 [281]; 16, 1 [2]). Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der nur zulässig ist, wenn die gerügte Grundrechtsverletzung auf andere Weise nicht hätte beseitigt werden können. Ihre Begründung findet diese Zulässigkeitsbegrenzung darin, daß aus Gründen der Rechtssicherheit nur ausnahmsweise formell rechtskräftige oder unanfechtbare Entscheidungen anderer Gerichte oder Behörden in Frage gestellt werden sollen und das Bundesverfassungsgericht nicht durch vermeidbare Verfassungsbeschwerden seinen sonstigen Aufgaben entzogen werden darf.

Diese Begründung rechtfertigt es, das Subsidiaritätsprinzip auf die Fälle anzuwenden, in denen ein Beschwerdeführer den Versuch unterlassen hat, durch Einlegung früherer, ihm zumutbarer Rechtsbehelfe die von ihm behauptete Grundrechtsverletzung abzuwenden. Verstärkt gilt das, wenn der Gesetzgeber wie im vorliegenden Fall ein bis ins einzelne ausgestaltetes Rechtsschutzsystem zur Verfügung stellt, mittels dessen der Beschwerdeführer die von ihm in Anspruch genommene Rechtsposition – hier die Befreiung vom Wehr- und zivilen Ersatzdienst – hätte geltend machen können.

Nach §§ 32 ff. WPflG in Verbindung mit §§ 68 ff. und 40 ff. VerwGO kann der Wehrpflichtige den Musterungsbescheid durch Widerspruch und gegebenenfalls Klage vor dem Verwaltungsgericht anfechten. Dieselben Rechtsmittel stehen ihm nach den zitierten Bestimmungen gegen den Bereitstellungsbescheid, den Bescheid der Prüfungsausschüsse für Kriegsdienstverweigerer, den Einberufungsbescheid, den Bescheid über die Entlassung aus dem Wehrdienst und gegebenenfalls gegen Nachmusterungsbescheide zu. Der anerkannte Kriegsdienstverweigerer kann die Heranziehung zum zivilen Ersatzdienst anfechten.

Der Beschwerdeführer hätte demnach die Befreiung vom Wehr- und zivilen Ersatzdienst wegen Gleichstellung mit evangelischen oder katholischen Geistlichen bzw. mit katholischen Ordensangehörigen jedenfalls mit Rechtsbehelfen gegen die wegen seiner Heranziehung zum zivilen Ersatzdienst ergangenen Bescheide geltend machen können. Wie sich aus dem Sachverhalt ergibt, waren dem Beschwerdeführer auch die verschiedenen Anfechtungsmöglichkeiten bekannt. Er hat, nachdem er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt war, teils Anträge gestellt, teils Widersprüche eingelegt und eine Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben, die er jedoch zurückgenommen hat. In diesen Verfahren hätten die von dem Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen geklärt werden können. Bei einer ihm günstigen Entscheidung wäre es zur Einleitung eines Strafverfahrens nicht gekommen, weil die Verpflichtung zur Leistung des zivilen Ersatzdienstes bereits rechtskräftig verneint gewesen wäre. Hätten die Gerichte das Begehren des Beschwerdeführers nicht anerkannt, so hätte er die Möglichkeit gehabt, unmittelbar gegen die letztinstanzliche Entscheidung Verfassungsbeschwerde zu erheben.

Diese Rechtsschutzmöglichkeiten hat der Beschwerdeführer nicht genutzt. Er kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, daß er mangels finanzieller Mittel hierzu nicht imstande gewesen sei. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hätte er notfalls die Bewilligung des Armenrechts beantragen können. Wäre sein Gesuch wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung endgültig abgewiesen worden, hätte er damit den Rechtsweg erschöpft und unmittelbar das Bundesverfassungsgericht anrufen können. Die Erschöpfung der dem Beschwerdeführer zur Verfügung stehenden Rechtsmittel war ihm demnach auch zumutbar.

Dieser Entscheidung steht der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Oktober 1965 (BVerfGE 19, 135 ff.) nicht entgegen. Bei dieser gemäß § 24 BVerfGG ergangenen Entscheidung konnte das Gericht die Frage der Zulässigkeit dahingestellt sein lassen, weil es die Verfassungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet verworfen hat.

Unter diesen Umständen kann es nicht darauf ankommen, ob die Entscheidungen der Strafgerichte als neue selbständige Akte der staatlichen Gewalt Grundrechte oder sonstiges Verfassungsrecht verletzt haben. Es kann auch dahinstehen, ob die Strafgerichte, die die Voraussetzungen des Wehr- und Ersatzdienstes selbständig geprüft haben, hierzu auf Grund einer allgemeinen Bindungswirkung unanfechtbarer Verwaltungsbescheide berechtigt gewesen sind und ob diese Frage für die verfassungsrechtliche Prüfung der Urteile von Bedeutung sein könnte.

2. Es bedarf nicht der Entscheidung, ob die Beschwerdeführerin durch die gegen den Beschwerdeführer als ihren Betheldiener gerichteten Maßnahmen unmittelbar in einem ihrer Grundrechte betroffen ist. Selbst wenn das der Fall wäre, könnte sie die von ihr behauptete Grundrechtsverletzung jedenfalls nicht in einem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde vorbringen, deren Gegenstand die strafrechtliche Verurteilung des Betheldieners ist. Denn eine etwaige Beeinträchtigung ihrer Grundrechte könnte allenfalls in der Heranziehung eines ihrer Diener zum zivilen Ersatzdienst, nicht aber in seiner Bestrafung liegen, so daß sich die Beschwerdeführerin bereits gegen die Heranziehung hätte wenden müssen.