RG, 21.09.1920 - III 143/20
Kann unter besonderen Umständen beim Fortbestand eines gegenseitigen Vertrags der eine Teil die Erhöhung der Gegenleistung fordern, wenn seine eigene Leistung unter der Veränderung der Verhältnisse wirtschaftlich zu einer völlig anderen geworden ist?
Ausgleich der beiderseitigen Interessen in solchem Falle.
Tatbestand
Die Klägerin hatte der Beklagten im Jahre 1912 Geschäftsräumlichkeiten in einem ihr gehörigen Berliner Grundstück bis zum 1. April 1915 vermietet. Der Vertrag war jedoch, da die Beklagte von dem ihr auf weitere 5 Jahre eingeräumten Vormietungsrechte Gebrauch gemacht hatte, bis Ende März 1920 weitergelaufen. Nach § 20 des Vertrags hatte die Beklagte Anspruch auf Abgabe von Wasserdampf für gewerbliche Zwecke. Die Klägerin erachtet sich wegen der seit dem Vertragsabschluß wesentlich veränderten Verhältnisse auf dem Kohlen- und Arbeitsmarkt für berechtigt, für den in der Zeit vom 1. September 1917 bis Ende Juli 1919 gelieferten Dampf von der Beklagten eine Nachzahlung auf die gemäß den vertraglichen Festsetzungen des § 20 gezahlte Vergütung zu fordern, Hilfsweise forderte sie die Feststellung, daß der Dampflieferungsvertrag nichtig sei oder daß sie doch in Zukunft Dampf nur noch zu angemessenen Preisen abzugeben habe. Ihre Klage wurde vom Landgericht wie vom Berufungsgericht abgewiesen, ihrer Revision aber stattgegeben aus folgenden Gründen:
Gründe
Zwar kann dem Berufungsgerichte nicht entgegengetreten werden, wenn es die Auffassung der Klägerin ablehnt, wonach bei richtiger Auslegung aus den Worten in § 20 Nr. 6 des Vertrags: "die Preise für gewerblichen Dampf stellen sich wie folgt" sowie aus dem weiteren Inhalte dieser Bestimmung sich eine vertragliche Abmachung des Inhalts ergeben soll, daß bei wesentlicher Veränderung der Verhältnisse auch eine Änderung des Dampfpreises einzutreten habe. Die hierauf bezüglichen Ausführungen des Berufungsgerichts bewegen sich im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet und lassen einen Rechtsirrtum nach keiner Richtung erkennen. Ebensowenig sind Einwendungen zu erheben gegen die Darlegungen des Berufungsgerichts, in denen es den Versuch der Klägerin abweist, ihren Anspruch in der Weise zu begründen, daß sie in dem hartnäckigen Festhalten der Beklagten an dem Vertragspreis einen Verstoß gegen die guten Sitten im Sinne des § 138 BGB. erblickt wissen will, woraus dann nach ihrer weiteren Meinung die jetzige Nichtigkeit der Vertragsbestimmung über den Dampfpreis folgen und damit der Weg zur Festsetzung eines angemessenen Dampfpreises nach Maßgabe der §§ 632 oder 812 BGB. eröffnet sein soll.
Dagegen erscheint das Begehren der Klägerin vom Standpunkte der sog. clausula rebus sic stantibus aus gerechtfertigt. Das BGB. kennt diesen Grundsatz nur in Anwendung auf einige wenige Sonderfälle und auch das Reichsgericht hat, wie der erkennende Senat erst noch jüngst in einem Urteile vom 8. Juli 1920 ausgesprochen hat (RGZ. Bd. 99 S.259), ihn nicht als einen allgemein durchgreifenden anerkannt.
Dagegen hat das Reichsgericht in den letzten Jahren in einer Reihe von Entscheidungen sowohl des erkennenden Senats als auch anderer Senate dem durch den ungeahnten Verlauf und Ausgang des Krieges herbeigeführten Umsturz und Umschwung aller wirtschaftlichen Verhältnisse ausnahmsweise eine derartige Einwirkung auf bestehende Verträge eingeräumt, daß es das Begehren einer Vertragspartei auf Lösung des Vertragsverhältnisses dann als berechtigt erachtet hat, wenn ihr das Aushalten des Vertrags unter den neuen, völlig veränderten Zuständen wirtschaftlich nicht mehr zugemutet werden konnte. Die Anknüpfung an das positive Gesetzesrecht boten und bieten die §§ 242 (157) und 325 BGB. Beherrschen nach den ersteren Vorschriften Treu und Glauben die Erfüllungspflicht des Schuldners wie dementsprechend gegenseits auch das Erfüllungsrecht des Gläubigers - sein Recht auf die Erfüllung -, so kann unter diesem Gesichtspunkte die Erfüllung eines Vertrags nicht mehr geschuldet und gefordert werden, wenn infolge der völligen Veränderung der Zustände die Vertragsleistung jetzt wirtschaftlich zu einer ganz anderen geworden ist, als wie sie ursprünglich von beiden Parteien gedacht und gewollt war. Und ist im § 325 BGB. unter Unmöglichkeit nicht nur die tatsächliche, sondern auch die wirtschaftliche Unmöglichkeit zu verstehen, so tritt damit im Gesetz die clausula rebus sic stantibus insoweit unverhüllt zutage.
Nun lagen in den bisher entschiedenen Fällen die Dinge so, daß eine Vertragspartei auf Grund der völlig veränderten Verhältnisse Lösung des ganzen Vertragsbandes verlangte. Jetzt aber handelt es sich darum, daß beide Parteien mit ihrem Willen den Vertrag fortsetzen oder fortgesetzt haben und nunmehr eine von ihnen, hier die Klägerin, bei Fortbestand des Vertrags Erhöhung der Gegenleistung auf Grund der Behauptung beansprucht, daß ihre eigene Leistung infolge der völligen Veränderung aller maßgebenden Verhältnisse wirtschaftlich zu einer so ganz anderen geworden sei als wie sie bei Abschluß des Vertrags beschaffen war, daß der Inhalt der Gegenleistung, wenn er unverändert bliebe, zu ihrer eigenen Leistung wirtschaftlich in einem schlechthin unerträglichen Mißverhältnis stehen würde, so daß Treu und Glauben die Änderung der Gegenleistung erheischten. Der Senat hat, die Richtigkeit der Behauptungen der Klägerin vorausgesetzt, der Berechtigung ihres Begehrens die Anerkennung nicht versagen können. Bereits in der oben erwähnten Entscheidung vom 8. Juli d. J. hat der Senat die Auffassung vertreten, daß in einem derartigen Falle von der Billigkeit eine entsprechende Änderung der Vertragsleistung des anderen Teiles gefordert werde (Bd. 99 S. 260), und an diesem Standpunkte hält er auch jetzt und für den gegenwärtigen Fall fest. Allerdings hat der Senat in einer Entscheidung vom 4. Mai 1915 (Bd. 86 S. 398), wiederholt in einer späteren vorn 3. Juli 1917 (Bd. 90 S. 375), ausgesprochen, daß der Richter nicht zwecks Milderung der Härten des Krieges einen Ausgleich zwischen den Vertragsparteien schaffen könne. Allein die erste und vornehmste Aufgabe des Richters geht dahin, in seiner Rechtsprechung den unabweislichen Bedürfnissen des Lebens gerecht zu werden und sich in dieser Beziehung von den Erfahrungen des Lebens leiten zu lassen. Jener Ausspruch des Senats kann in seiner strengen Allgemeinheit nach der jetzigen Überzeugung des Senats nicht mehr aufrecht erhalten werden; er ist durch die Erfahrungen überholt, die der Senat im weiteren Verlaufe des Krieges und insbesondere durch dessen ungeahnten Ausgang und die daran sich anschließende, ebenfalls ungeahnte Umwälzung aller wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht hat. Diese Verhältnisse erfordern unbedingt ein Eingreifen des Richters in bestehende Vertragsverhältnisse dann, wenn anders nicht ein Treu und Glauben und jedem Gebote von Gerechtigkeit und Billigkeit hohnsprechender, einfach nicht zu ertragender Zustand geschaffen werden soll. Der als wünschenswert oder nötig erachtete Anhalt im positiven Rechte ist in den oben erwähnten Bestimmungen des BGB. gegeben. Rechtfertigt sich nach diesen auf Verlangen einer Partei sogar die Lösung des ganzen Vertragsverhältnis, so erscheint es um so mehr zulässig, in einem nach dem übereinstimmenden Willen beider Parteien fortbestehenden Vertragsverhältnisse eine einzelne Vertragsbeziehung zu ändern, wenn Treu und Glauben, Billigkeit und Gerechtigkeit solches zum Gebot machen. Übrigens läßt sich wohl auch der Gedanke verwerten, daß, wenn eine Vertragsleistung durch die Änderung der Verhältnisse wirtschaftlich unmöglich geworden ist, dadurch eine Vertragslücke entsteht, die der Richter nunmehr, wie auch sonst Vertragslücken, durch seine Bestimmung auszufüllen hat.
Um aber von vornherein jedem Mißbrauche des obigen Grundsatzes vorzubeugen, ist dreierlei für seine Anwendung zu erfordern:
Erstens müssen, wie schon mehrfach hervorgehoben, beide Parteien das Vertragsverhältnis mit ihrem Willen fortsetzen. Die Fälle der zwangsweisen Fortsetzung können hier nicht in Betracht gezogen werden. Zweitens kann nur einer ganz besonderen und ganz ausnahmsweisen Neugestaltung und Änderung der Verhältnisse, wie sie jetzt durch den Krieg eingetreten ist, die bezeichnete Wirkung eingeräumt werden. Lediglich der Umstand, daß eine spätere Veränderung der Verhältnisse nicht vorauszusehen ist und nicht vorausgesehen werden konnte, genügt nicht. Drittens aber muß in einem Falle der vorliegenden Art ein Ausgleich der beiderseitigen Interessen stattfinden. Es kann nicht allein zugunsten desjenigen, der durch die neuen Verhältnisse bei Fortdauer des Vertrags leidet und gelitten hat, eine Änderung erfolgen, sondern es müssen ebenso auch die Interessen des anderen Teiles berücksichtigt werden, der künftig mehr oder anderes leisten soll. Es darf ihm nicht der ganze Nachteil aufgebürdet werden, so daß nunmehr der Zustand für ihn ein nicht erträglicher sein und der Billigkeit und Gerechtigkeit widersprechen würde; es muß vielmehr der erwachsene Schaden angemessen zwischen beiden geteilt werden. Diesen Ausgleich richtig zu finden, ist Sache der Erfahrung des Richters und seiner verständnisinnigen Beurteilung der beiderseitigen Verhältnisse.
Überschaut man von dieser Warte aus die Lage des vorliegenden Falles, so genügt weniges zur Begründung der gefällten Entscheidung. Die Klägerin hat vorgebracht, daß sie bei dem von der Beklagten an sie bezahlten Vertragspreise für den gelieferten Dampf in der Zeit vom 1. September 1917 bis Ende Juli 1919 infolge der ungeheuren Erhöhung der Kohlen- usw. Preise den Betrag von 89 000 M "zugesetzt" habe, d. h. also offenbar einen baren Verlust in dieser Höhe gehabt habe. Dabei ist zu beachten, daß der Mietpreis für die der Beklagten vermieteten Räume jährlich nur 9362 M betrug. Am grellsten beleuchtet wird aber der in Frage stehende Zustand dadurch, daß das Mieteinigungsamt in Berlin am 21. Februar 1920 den Preis für den von der Klägerin der Beklagten zu liefernden Dampf auf die Zeit vom 31. März 1920, dem Ende der Vertragszeit, bis zum 31. März 1921, bis zu welchem Zeitpunkte das Mieteinigungsamt den von der Klägerin gekündigten Mietvertrag verlängert hat, auf mehr als das Zehnfache des Vertragspreises erhöht hat. Angesichts dieser Tatsache und der anderen offen zutage liegenden Verhältnisse wird die Ausführung des Berufungsrichters, sie habe sich bei Abschluß des Vertrags einfach insofern "verkalkuliert", als sie die Folgen eines Krieges nicht mit in Betracht gezogen habe, in keiner Weise der Wirklichkeit gerecht. Falsche Berechnungen bei einem Vertragsabschluß können selbstverständlich keine Grundlage für eine Änderung vereinbarter Preise abgeben. Allein selbst wenn man insoweit dem Gedanken des Berufungsrichters noch folgen wollte, daß die Klägerin vielleicht die Wirkungen eines möglichen Krieges mit hätte in Berücksichtigung ziehen können, so kann doch davon gar keine Rede sein, daß die Klägerin bei dem Abschluß des Vertrags im Jahre 1912 bei dem damaligen Stande des Deutschen Reichs an einen derartigen Krieg mit dem Umfange, dem Ausgang und den Wirkungen auch nur im entferntesten hätte denken und solchen Krieg in ihre Berechnungen mit hätte hineinziehen können. Kein Mensch in Deutschland ahnte derartiges und konnte es ahnen; es liegen hier außer jeder menschlichen Berechnung stehende Ereignisse vor. Der Berufungsrichter tut daher der Klägerin klares Unrecht, wenn er ihr wegen Nichtberücksichtigung der Folgen eines möglichen Krieges die Folgen des jetzigen Krieges im Verhältnis zur Beklagten allein aufbürdet. Daß die Unterlassung der Aufnahme einer Kriegsklausel in den Vertrag der Klägerin nicht zum Nachteile gereichen kann, bedarf keiner weiteren Darlegung. ... Zum Schluß ist noch folgendes zu bemerken: In einer Entscheidung des I. Zivilsenats vom 9. März 1918 I 216/17 finden sich folgende Sätze: "Klägerin will nicht von dem Vertrage loskommen, sondern sie will, daß der Vertrag bestehen bleibe, aber mit verändertem Inhalte, sei es daß der Preis erhöht werde, sei es daß sie bis zum Friedensschluß nicht zu liefern brauche. Dieses Ergebnis läßt sich auf Grund des angegebenen Gesichtspunktes nicht erreichen." Dieser Ausspruch ist klar nur auf das damalige Vertragsverhältnis und auf die damaligen Verhältnisse (1918) gemünzt. Ein Anlaß zur Anwendung des § 137 GVG. ist daher hierdurch nicht gegeben. Das ist auch um so weniger der Fall, als der I. Zivilsenat in einem Urteile vom 18. Februar 1920 I 204 / 19 Anschauungen zum Ausdruck gebracht hat, die ihrem Geiste nach mit der im vorstehenden Urteile vertretenen Auffassung wesentlich übereinstimmen.