RG, 06.11.1917 - III 183/17
Unfallversicherung. Zur Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens nach § 901 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung.
Tatbestand
Der Kläger, welcher von der beklagten Stadtgemeinde als Heizer und Reparaturschlosser angestellt war und nebenbei auch die im Kellergeschosse des Rathauses aufgestellten Ventilatoren zu bedienen und zu reinigen hatte, führt eine von ihm am 8. Juni 1915 erlittene Verletzung an der linken Hand auf einen Unfall zurück, den er bei der Reinigung des Kollektors am elektrischen Antriebsmotor des einen Ventilators erlitten haben will. Er behauptet, daß er bei dieser Arbeit mit der Hand, an der er einen Schlag verspürt habe, zurückgefahren und hierbei in das Schaufelrad des mit einem Drahtnetze nicht versehenen Ventilators hineingeschlagen sei. Die Haftung der Beklagten leitet er daraus ab, daß sie eine Schutzvorrichtung am Ventilator nicht habe anbringen lassen. Das Landgericht sprach dem Kläger das geforderte Schmerzensgeld zu und erklärte den Klaganspruch im übrigen, d. h. soweit er auf Entschädigung wegen Verdienstausfalls gerichtet ist, dem Grunde nach für gerechtfertigt. Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Beklagten zurück. Auf die Revision wurde dieses Urteil aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen.
Gründe
"Die Beklagte führt über die Nichtanwendung des § 901 Abs. 2 RVO. mit Recht Beschwerde. Die Verwendung des elektrischen Antriebsmotors legt im Hinblick auf § 537 Abs. 1 Nr. 2, § 538 Nr. 3 § 544 Abs. 1 Nr. 1 RVO. die Annahme nahe, daß es sich um einen entschädigungspflichtigen Betriebsunfall handelt. Das Berufungsgericht mußte daher sein Verfahren so lange aussetzen, bis die Entscheidung über den Anspruch des Klägers auf Unfallentschädigung im Verfahren nach der Reichsversicherungsordnung ergangen war. Die Beklagte ist an der Geltendmachung des in Frage stehenden Revisionsgrundes nicht dadurch behindert, daß sie die Verletzung des § 901 Abs. 2 in den Vorinstanzen nicht gerügt und den Ventilatorbetrieb als einen nicht versicherungspflichtigen bezeichnet hat. Unter der Herrschaft der Unfallversicherungsgesetze bestand die Möglichkeit, daß der Unfallverletzte Arbeiter, der Entschädigungsansprüche sowohl vor den Versicherungsinstanzen wie auch durch Klage gegen den Betriebsunternehmer geltend machte, infolge einer verschiedenen Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines Betriebsunfalls ungerechtfertigterweise keine oder doppelte Entschädigung zugebilligt erhielt. Zwar war nach § 135 Abs. 3 des hier in Betracht zu ziehenden Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes wie jetzt nach § 901 Abs. 1 RVO. die Entscheidung jener Frage durch die Versicherungsinstanzen für die Gerichte maßgebend (RGZ. Bd. 60 S. 36, Bd. 71 S. 3, insbes. S. 5). Durch diese Vorschrift wurde jedoch dem gekennzeichneten Mißstande dann nicht vorgebeugt, wenn die Versicherungsinstanzen zur Zeit des Erlasses der gerichtlichen Entscheidung noch nicht geurteilt hatten. Um auch in diesem Falle die Maßgeblichkeit der versicherungsrechtlichen Entscheidung zu gewährleisten und widersprechende Urteile auszuschließen, wurde den Gerichten durch § 901 Abs. 2 die vorher in ihrem Ermessen stehende Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens (RGZ. Bd. 54 S. 33) bis zum Austrage des Verfahrens nach dem Versicherungsrechte zur Pflicht gemacht (vgl. die Motive zum Entw. der RVO. S. 332 flg.). Angesichts des öffentlichen Interesses, dem sonach die Vorschrift dienen will, verbietet sich die Annahme, daß die Beklagte durch die Unterlassung von Widerspruch gegen den Verfahrensmangel ihr Rügerecht verloren habe (§§ 558, 530, § 295 Abs. 2 ZPO.). Die Tatsache, daß während des Revisionsverfahrens die Ausschlußfrist des § 1546 RVO. verstrichen ist, macht die Aussetzung, wie sich aus § 1547 ergibt, nicht ohne weiteres gegenstandslos. Darüber, ob der Anspruch auf Unfallentschädigung durch den Fristablauf ausgeschlossen ist, haben die Versicherungsinstanzen zu befinden (s. auch die Entsch. des VI. Zivilsenats vom 20. Januar 1916 Rep. VI. 364/15). Ob für die Aussetzung auch dann noch Raum bleibt, wenn nach Ansicht des Gerichts die Ausschlußwirkung des Fristablaufs außer allem Zweifel steht oder wenn der Verletzte selbst erklärt, daß er die Ausnahmebestimmungen des § 1547 nicht für sich in Anspruch nehmen wolle, bedarf keiner Entscheidung. Die Ergebnisse der Streitverhandlung in den Vorinstanzen bieten in diesen Richtungen keine ausreichenden Unterlagen bar.
Daß die Aussetzung auch insoweit Platz zu greifen hat, als es sich um den Anspruch auf Schmerzensgeld handelt, unterliegt bei dem Zusammenhange des § 901 mit §§ 898, 899, welche auch die Ansprüche des Verletzten auf Ersatz von immateriellem Schaden ausschließen (RGZ. Bd. 74 S. 27), keinem Bedenken."