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BGH, 29.07.1970 - 2 StR 221/70

Daten
Fall: 
Garantenstellung des Angegriffenen
Fundstellen: 
BGHSt 23, 327; JZ 1971, 432; JuS 1971, 74; MDR 1971, 59; NJW 1970, 2252
Gericht: 
Bundesgerichtshof
Datum: 
29.07.1970
Aktenzeichen: 
2 StR 221/70
Entscheidungstyp: 
Urteil
Richter: 
Baldus, Kirchhof, Müller, Baumgarten, Meyer
Instanzen: 
  • LG Trier, 15.12.1969

Die Verletzung eines Angreifers in Notwehr macht in der Regel den Angegriffenen nicht zum Garanten für das Leben des Angreifers.

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts in Trier vom 15. Dezember 1969
1. im Schuldspruch dahin geändert, daß der Angeklagte der unterlassenen Hilfeleistung (§ 330 c StGB) schuldig ist,
2. im Strafausspruch mit den Feststellungen hierzu aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht in Koblenz zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Der Eröffnungsbeschluß legt dem Angeklagten Totschlag zur Last, weil er einen Zechkumpan bei einem Streit auf der Heimfahrt durch einen Messerstich ins Herz getötet hat. Vom Vorwurf des vollendeten Totschlags hat ihn die Jugendkammer in dessen wegen Notwehr freigesprochen. Sie nimmt weiter an, der Verletzte sei nach dem Stich nicht mehr zu retten gewesen. Der Angeklagte habe ihn jedoch in Unkenntnis hiervon hilflos zurückgelassen und dabei billigend in Kauf genommen, daß der Tod erst infolge mangelnder Hilfeleistung eintreten werde. Die Jugendkammer hat ihn deshalb wegen versuchten Totschlags zu zwei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Seine Revision, mit der er die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts rügt, hat teilweise Erfolg.

1. Unzutreffend ist allerdings die Ansicht der Revision, der Angeklagte sei wegen einer anderen als der in Anklage und Eröffnungsbeschluß genannten Tat verurteilt worden. Das gesamte mit der Tötung im Zusammenhang stehenden Geschehen bis zum Weggang des Angeklagten von dem Schwerverletzten ist bei natürlicher Betrachtung eine Tat im Sinne des § 264 StPO. auch solche Teile des einheitlichen Tatgeschehens, die in der Anklageschrift nicht strafrechtlich gewürdigt worden sind, müssen zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht werden (BGHSt 16, 200). Das hat zur weiteren Folge, daß bei Verurteilung unter dem einen rechtlichen Gesichtspunkt nicht unter einem anderen gleichzeitig freigesprochen werden darf. Der Freispruch ist hier somit gegenstandslos, was bei der Kostenentscheidung zu berücksichtigen ist.

Die weiteren Verfahrensrügen sind offensichtlich unbegründet.

2. Die Ansicht der Jugendkammer, der Angeklagte habe durch Unterlassen der Hilfeleistung einen Totschlagsversuch begangen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Die Jugendkammer beurteilt das Verhalten des Angeklagten unter dem Gesichtspunkt eines unechten Unterlassungsdeliktes. Voraussetzung hierfür ist, daß der Täter zur Erfolgsabwendung verpflichtet war. Er muß Garant für den Schutz des bedrohten Rechtsgutes sein. Das ist der Fall, wenn er die Gefahrenlage - schuldhaft oder schuldlos - herbeigeführt hat. Die Frage, ob das gefährdende Vorverhalten rechtswidrig sein muß, braucht hier nicht allgemein beantwortet zu werden (vgl. hierzu BGHSt 19, 152). Jedenfalls reicht die Verletzung eines Angreifers in Notwehr regelmäßig nicht aus, um eine Garantenstellung des Angegriffenen zu begründen.

Soweit ersichtlich, ist die Frage noch nicht entschieden worden. Die Meinungen im Schrifttum sind geteilt. Garantenstellung des Angegriffenen verneinen u.a. Welzel, Deutsches Strafrecht § 28 A I 4; Dreher, StGB 31. Aufl., vor § 1 Anm. D I 4; Schönke/Schröder, StGB 15. Aufl., Vorbem. Rdn. 120 d; Mezger, Strafrecht 13. Aufl., § 29 III 2 c; Eb. Schmidt, Niederschriften Gr. StR.Komm. Bd. 2 S. 269; Henkel, MonSchr. Krim. 1961, S. 183; Rudolphi, die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 180 ff. Entgegengesetzter Ansicht sind u.a. Maurach, Deutsches Strafrecht AT, § 46 III C 4, Baumann, Strafrecht AT, § 18 II 3 c, Vogt, ZStrW Bd. 63, 403, Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, S. 266 ff..

Auszugehen ist davon, daß der in Notwehr Handelnde sich in einer wesentlich anderen Lage befindet, als gewöhnlich der Urheber einer Gefahrensituation. Die Gefährdungshandlung des Angegriffenen, also die Verteidigung gegen den Angreifer, beruht nicht auf seiner freien Entschließung, sondern ist durch das rechtswidrige Verhalten des Angreifers herausgefordert und ausgelöst. Dieser besondere Umstand muß sich auf die rechtliche Stellung des durch die Verteidigungshandlung gefährdeten Angreifers auswirken. Wer durch einen rechtswidrigen Angriff eine Selbstgefährdung herbeiführt, kann hierdurch nicht erzwingen, daß der Angegriffene als Garant zu seinem Beschützer wird. Damit ist der Angreifer keineswegs schutzlos gestellt. Der durch § 330 c StGB strafbewehrte allgemeine Anspruch auf Hilfeleistung verbleibt ihm ohnehin, weil ein Unglücksfall im Sinne dieser Bestimmung auch dann vorliegt, wenn der Betroffene die Notlage selbst hervorgerufen hat (BGHSt 6, 147, 152). Den Angegriffenen darüber hinaus mit der Garantenstellung zu belasten, widerspricht dem Sinn des Notwehrrechts. Denn damit wäre der Angreifer stärker geschützt, als ein ohne eigene und fremde Schuld Verunglückter. Wie zu entscheiden wäre, wenn in einem Falle echter Notwehr der Angreifer zurechnungsunfähig oder sonst schuldlos ist, kann hier offen bleiben.

Ein durch Unterlassen begangenes Tötungsdelikt scheidet somit aus.

3. Dagegen hat sich der Angeklagte der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 330 c StGB schuldig gemacht.

Nach den Feststellungen hätte zwar der Verletzte nur durch eine innerhalb von ungefähr zehn Minuten vorgenommene Operation vielleicht noch gerettet werden könne. Unter den gegebenen Umständen war aber ein ärztlicher Eingriff innerhalb so kurzer Zeit nicht zu erreichen. Auch wenn in dessen die zumutbare Hilfeleistung - hier die Benachrichtigung eines Arztes - den Tod nicht mehr hätte abwenden können, entfällt damit noch nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten. Die Hilfeleistungspflicht nach § 330 c StGB gründet sich auf das Gebot allgemeiner Nächstenhilfe und ist nicht abhängig von dem Eintritt oder Nichteintritt eines Erfolges. Nur wenn von vornherein offenkundig ist, daß jede Hilfe nutzlos wäre und der an sich Pflichtige dessen sicher ist, entfällt die Anwendbarkeit des § 330 c StGB. Das hat der Bundesgerichtshof schon wiederholt entschieden (BGHSt 17, 166; BGH JR 1956, 347 mit Anmerkung von Maurach; BGH Urteile vom 13. Dezember 1956 - 4 StR 492/56 -; 17. Dezember 1957 - 5 StR 520/57 -; 14. Mai 1963 - 1 StR 138/63 -). In einem Urteil des erkennenden Senats vom 24. Februar 1960 - 2 StR 579/59 - handelte es sich um einen Fall offensichtlicher Nutzlosigkeit einer Hilfeleistung. Eine solche Ausnahme lag hier jedoch nicht vor. Nach den Feststellungen sah der Angeklagte, daß der Verletzte noch lebte und hilfsbedürftig war; er nahm auch an, daß diesem noch geholfen werden konnte. Daß er möglicherweise eine Bestrafung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen Trunkenheit am Steuer befürchtete, entband ihn nicht von seiner Hilfeleistungspflicht, wie die Jugendkammer zutreffend ausführt (vgl. BGHSt 11, 353).

Da der Angeklagte gemäß § 265 Abs. 1 StPO darauf hingewiesen worden ist, daß er wegen unterlassener Hilfeleistung statt wegen Totschlags verurteilt werden könne, hat der Senat selbst den Schuldspruch geändert, was die Aufhebung des Strafausspruchs zur Folge hat.