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Art. 63 GG - Wahl des Bundeskanzlers (Kommentar)
(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.
(2) ¹Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. ²Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.
(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.
(4) ¹Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. ²Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. ³Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.
- 1. Art. 63 Abs. 1 GG: Wahl des Bundeskanzlers
- 1.1. Wortlaut und Systematische Stellung
- 1.2. Historischer Kontext und Entwicklung
- 1.3. Wahl auf Vorschlag des Bundespräsidenten
- 1.4. Wahl durch den Bundestag ohne Aussprache
- 1.5. Bedeutung der Kanzlerwahl im parlamentarischen Regierungssystem
- 1.6. Funktion und Rolle des Bundespräsidenten im Wahlprozess
- 1.7. Schlussfolgerung aus der verfassungsrechtlichen Perspektive
- 2. Art. 63 Abs. 2 GG: Mehrheitserfordernis und Ernennung des Bundeskanzlers
- 2.1. Wortlaut und Bedeutung des Artikels
- 2.2. Die Kanzlermehrheit als Ausdruck parlamentarischer Legitimation und Stabilität
- 2.3. Bedeutung der formalen Ernennung durch den Bundespräsidenten
- 2.4. Verfahrensrechtliche Aspekte der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang
- 2.5. Verfassungsrechtliche und politische Implikationen des ersten Wahlgangs
- 2.6. Ernennung und Amtseinführung als Bestandteil der demokratischen Legitimation
- 3. Art. 63 Abs. 3 GG: Kanzlerwahl nach erfolglosem ersten Wahlgang
- 3.1. Wortlaut und Bedeutung
- 3.2. Bedeutung der Vierzehn-Tage-Frist
- 3.3. Das Quorum der Mehrheit der Mitglieder
- 3.4. Rolle des Bundespräsidenten im zweiten Wahlgang
- 3.5. Verfassungsrechtliche Funktionen und politische Praxis des zweiten Wahlgangs
- 3.6. Systematische Einordnung und verfassungspolitische Überlegungen
- 3.7. Politische Dynamiken und das Szenario einer erneuten Pattsituation
- 4. Art. 63 Abs. 4 GG: Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers im dritten Wahlgang
- 4.1. Wortlaut und Struktur des Art. 63 Abs. 4 GG
- 4.2. Funktion und verfassungsrechtliche Einordnung
- 4.3. Ablauf des dritten Wahlgangs und Erfordernis der relativen Mehrheit
- 4.4. Handlungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten nach dem dritten Wahlgang
- 4.5. Voraussetzungen und Schranken der Auflösungskompetenz des Bundespräsidenten
- 4.6. Verfassungsrechtliche Debatten und Literaturmeinungen
- 4.7. Systematische Einbindung in das Grundgesetz
1. Art. 63 Abs. 1 GG: Wahl des Bundeskanzlers
1.1. Wortlaut und Systematische Stellung
Art. 63 Abs. 1 GG regelt das Verfahren zur Wahl des Bundeskanzlers, der zentralen Person im System der Exekutive der Bundesrepublik Deutschland. Der Wortlaut gibt vor, dass der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten und ohne Aussprache durch den Bundestag gewählt wird. Der Artikel legt somit das Grundprinzip für das Wahlverfahren des Kanzlers und die zentrale Rolle des Bundestages fest, der als Volksvertretung die legitime Grundlage der Regierungsbildung bildet. Art. 63 GG ist Teil der Bestimmungen zur Bundesregierung, insbesondere zur Organisation und Legitimation ihrer Führung, und steht in engem Zusammenhang mit Art. 62 GG, der die Bundesregierung als aus Bundeskanzler und Bundesministern bestehend beschreibt, sowie mit Art. 67 GG, der das Verfahren des konstruktiven Misstrauensvotums normiert.
1.2. Historischer Kontext und Entwicklung
Der Wahlmodus des Bundeskanzlers gemäß Art. 63 GG unterscheidet sich deutlich von vorhergehenden Regelungen zur Ernennung von Regierungschefs in der deutschen Verfassungsgeschichte. In der Weimarer Republik wurde der Reichskanzler vom Reichspräsidenten ernannt, was eine ausgeprägte Machtfülle des Präsidenten zur Folge hatte und zu Krisensituationen führte, insbesondere dann, wenn Reichstag und Reichspräsident in politische Gegensätze gerieten.
Artikel 53 WRV
Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.Artikel 54 WRV
Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.
Das Grundgesetz wollte durch Art. 63 GG sicherstellen, dass die Wahl des Kanzlers in erster Linie von der Legislative abhängt und somit vom demokratisch legitimierten Parlament ausgeht. Dieser Wahlprozess zielt darauf ab, eine Abhängigkeit der Exekutive von der Legislative herzustellen und eine klare demokratische Legitimation des Bundeskanzlers zu gewährleisten. Die Regelung in Art. 63 Abs. 1 GG dient daher auch dem Schutz vor einer übermäßigen Konzentration von Macht in der Exekutive, wie sie in der Weimarer Zeit festzustellen war.
1.3. Wahl auf Vorschlag des Bundespräsidenten
Die Wahl des Bundeskanzlers erfolgt gemäß Art. 63 Abs. 1 GG auf Vorschlag des Bundespräsidenten. Der Vorschlag ist der erste Schritt im Prozess und bildet die Grundlage für die Kanzlerwahl durch den Bundestag. Der Bundespräsident hat in der Wahl des Kanzlers eine bedeutende, wenn auch eingeschränkte Rolle. Er besitzt zwar das Vorschlagsrecht, jedoch keine Entscheidungsbefugnis, da die Wahl letztlich dem Bundestag vorbehalten bleibt. In der Praxis bedeutet dies, dass der Bundespräsident bei der Wahl eine vermittelnde und vorbereitende Funktion übernimmt, jedoch nicht die endgültige Entscheidung trifft. Seine Aufgabe besteht darin, einen Kandidaten vorzuschlagen, der nach seiner Einschätzung über die notwendige Mehrheit im Bundestag verfügt. Art. 63 Abs. 1 GG betont somit den demokratischen Charakter der Kanzlerwahl und die klare Verlagerung der Entscheidungsbefugnis auf das Parlament.
Der Vorschlag des Bundespräsidenten kann nur einmal erfolgen und ist rechtlich bindend für das weitere Verfahren. In der politischen Praxis wird der Vorschlag des Bundespräsidenten in enger Abstimmung mit den Parteien des Bundestages getroffen, um sicherzustellen, dass der Kandidat über eine stabile Mehrheit im Bundestag verfügt. Dies erfordert ein sorgfältiges politisches Abwägen und eine Abstimmung zwischen den politischen Akteuren, um eine reibungslose Regierungsbildung zu gewährleisten. Da der Vorschlag des Bundespräsidenten eine gewisse Bedeutung für die Stabilität der Regierung hat, wird erwartet, dass der Bundespräsident seine Entscheidung auf eine fundierte politische Analyse stützt und die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag genau berücksichtigt.
1.4. Wahl durch den Bundestag ohne Aussprache
Art. 63 Abs. 1 GG legt fest, dass die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag ohne Aussprache erfolgt. Diese Regelung dient dazu, den Wahlprozess auf das Wesentliche zu reduzieren und eine klare, unmissverständliche Entscheidung zu ermöglichen. Die Entscheidung über den Bundeskanzler soll somit in einem formellen, konzentrierten Verfahren getroffen werden, das eine ausufernde politische Debatte vermeidet. Die Wahl des Kanzlers ist somit als reine Abstimmungsfrage gestaltet, die keine Aussprache oder Erläuterung zulässt. Damit wird auch der Würde und Neutralität des Amtes des Bundespräsidenten Rechnung getragen, der sich aus der parteipolitischen Diskussion um die Kandidatenfrage weitgehend heraushält.
Diese Form des Wahlprozesses fördert die Effizienz der Regierungsbildung und unterstreicht die sachliche, konzentrierte Art der Entscheidungsfindung in Bezug auf die Besetzung des wichtigsten Amts in der Bundesregierung. Der Verzicht auf eine Aussprache soll sicherstellen, dass die Wahl als reiner Ausdruck des parlamentarischen Willens und nicht als Forum für parteipolitische Auseinandersetzungen verstanden wird. Gleichzeitig wird dadurch vermieden, dass parteipolitische Konflikte die Entscheidung über die Kanzlerschaft unnötig verzögern oder erschweren könnten.
1.5. Bedeutung der Kanzlerwahl im parlamentarischen Regierungssystem
Art. 63 Abs. 1 GG betont den parlamentarischen Charakter der Bundesregierung, indem er die Wahl des Kanzlers dem Bundestag überträgt. Das Prinzip der Wahl durch das Parlament bildet eine zentrale Grundlage der parlamentarischen Demokratie, in der die Regierung auf der Grundlage des Vertrauens und der Mehrheit des Parlaments arbeitet. Der Kanzler kann nur mit der Zustimmung des Bundestages sein Amt antreten, was sicherstellt, dass die Exekutive in ihrer Tätigkeit auf die Unterstützung des Parlaments angewiesen ist und diesem gegenüber rechenschaftspflichtig bleibt. Die Wahl des Kanzlers stellt eine entscheidende Weichenstellung im Regierungssystem dar und bestimmt maßgeblich die politische Richtung und Stabilität der Bundesregierung.
Die Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf den Bundestag sichert die demokratische Legitimation des Kanzlers und schafft die Grundlage für eine stabile Regierung. Indem der Bundestag die Wahl trifft, ist die Exekutive direkt auf die Unterstützung der gewählten Volksvertretung angewiesen, was auch eine besondere Verantwortung des Parlaments für die Stabilität und Arbeitsfähigkeit der Regierung mit sich bringt. Die klare Mehrheitserfordernis verhindert, dass eine Regierungsbildung ohne ausreichende parlamentarische Basis zustande kommt und sorgt für eine zuverlässige Machtverteilung im politischen System.
Auswirkungen auf die Regierungsbildung und die Machtbalance zwischen den Verfassungsorganen
Art. 63 Abs. 1 GG legt eine klare Kompetenzverteilung fest und sichert damit eine stabile Machtbalance zwischen Bundespräsident und Bundestag. Der Bundespräsident besitzt zwar das Initiativrecht zur Vorschlagsnominierung, kann aber keine unabhängige Entscheidung über den Kanzler treffen, wodurch das parlamentarische Prinzip gewahrt bleibt. Der Bundestag hingegen hat das endgültige Entscheidungsrecht und übt damit eine wesentliche Kontrollfunktion über die Exekutive aus. Diese Kompetenzverteilung garantiert, dass der Bundeskanzler auf eine breite demokratische Legitimation gestützt ist und dass die Machtbalance zwischen den Verfassungsorganen nicht zugunsten eines Organs verschoben wird.
Durch die Kompetenzverteilung und die vorgeschriebene Mehrheitserfordernis für die Wahl des Kanzlers (einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen im ersten Wahlgang gemäß Art. 63 Abs. 2 GG) wird eine stabile Regierung gefördert, die auf einer klaren parlamentarischen Unterstützung basiert. Der Bundespräsident ist gehalten, einen Kandidaten vorzuschlagen, der voraussichtlich die Mehrheit des Bundestages erhält, wodurch eine zügige und reibungslose Regierungsbildung ermöglicht wird. Dies dient der Effizienz und Stabilität des politischen Systems und stellt sicher, dass die Exekutive auf einer verlässlichen Basis arbeiten kann.
1.6. Funktion und Rolle des Bundespräsidenten im Wahlprozess
Art. 63 Abs. 1 GG unterstreicht die wichtige, aber zurückhaltende Rolle des Bundespräsidenten im Wahlprozess des Bundeskanzlers. Der Bundespräsident hat die Aufgabe, einen Kandidaten vorzuschlagen, der die Mehrheiten im Bundestag wahrscheinlich erreichen kann. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein freies Auswahlrecht, sondern um eine Entscheidung, die im Einklang mit den politischen Mehrheitsverhältnissen und den parteipolitischen Abstimmungen steht. Der Bundespräsident fungiert somit als Moderator und Vermittler und trägt durch seinen Vorschlag zur Klärung und Beschleunigung der Regierungsbildung bei.
Der Bundespräsident nimmt hier eine integrative Rolle wahr, indem er die politische Stabilität durch seinen Vorschlag unterstützt und im Sinne der Verfassung dafür sorgt, dass die Wahl des Kanzlers im Bundestag nach festen Regeln abläuft. Art. 63 Abs. 1 GG spiegelt damit den hohen Stellenwert des Amtes des Bundespräsidenten wider, der durch seine Unabhängigkeit und Neutralität zu einer ordnungsgemäßen Regierungsbildung beiträgt, ohne in den eigentlichen Entscheidungsprozess einzugreifen.
1.7. Schlussfolgerung aus der verfassungsrechtlichen Perspektive
Art. 63 Abs. 1 GG verdeutlicht die enge Verknüpfung zwischen Bundestag und Bundesregierung und unterstreicht die Legitimation der Regierung durch das Parlament. Indem die Wahl des Kanzlers an die Zustimmung des Bundestages gebunden ist, wird das Prinzip der parlamentarischen Demokratie gestärkt, und die Exekutive bleibt in ihrer Tätigkeit auf die Unterstützung des Parlaments angewiesen. Das Verbot einer Aussprache sorgt für ein sachlich konzentriertes Wahlverfahren, das parteipolitische Konflikte minimiert und die Effizienz der Regierungsbildung fördert. Art. 63 Abs. 1 GG garantiert eine klare Machtverteilung und die demokratische Legitimation des Kanzlers, was die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Bundesregierung im deutschen Regierung
2. Art. 63 Abs. 2 GG: Mehrheitserfordernis und Ernennung des Bundeskanzlers
2.1. Wortlaut und Bedeutung des Artikels
Art. 63 Abs. 2 GG bestimmt die Voraussetzungen, unter denen der Bundeskanzler im Bundestag gewählt wird und beschreibt die formale Ernennung durch den Bundespräsidenten. Der Artikel legt fest, dass der Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers die „Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages“ auf sich vereinigen muss, um als gewählt zu gelten. Diese Mehrheit wird als sogenannte „Kanzlermehrheit“ definiert und bedeutet die absolute Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages. Die Regelung des Art. 63 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach der Gewählte die Mehrheit der Mitglieder benötigt, betont die Notwendigkeit einer breiten parlamentarischen Unterstützung für den Regierungschef und sichert die politische Stabilität der Regierung, indem sie sicherstellt, dass der Bundeskanzler auf einer stabilen Basis der Zustimmung des Bundestages beruht.
2.2. Die Kanzlermehrheit als Ausdruck parlamentarischer Legitimation und Stabilität
Die Vorgabe der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, anstatt einer einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen, hat eine spezifische verfassungsrechtliche Bedeutung. Ziel dieser Regelung ist es, dass der Bundeskanzler eine stabile Mehrheit im Bundestag hinter sich hat und seine Regierung auf einer breiten demokratischen Legitimation basiert. Die „Kanzlermehrheit“ gilt daher als besondere Mehrheit, die nur durch die Unterstützung einer absoluten Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag erreicht werden kann. Damit wird gewährleistet, dass der Kanzler über ein stabiles und tragfähiges Mandat verfügt, was die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und das Vertrauen des Parlaments in ihre Entscheidungen fördert. Die Kanzlermehrheit unterscheidet sich damit von einer einfachen Mehrheit, die lediglich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen verlangt und als solche weniger aussagekräftig in Bezug auf eine stabile Regierungsbasis wäre.
Historisch und systematisch ist die Anforderung einer absoluten Mehrheit als Reaktion auf die Erfahrungen mit instabilen Regierungsverhältnissen in der Weimarer Republik zu verstehen, in der das Amt des Reichskanzlers nicht an eine feste Mehrheit im Parlament gebunden war und vielfach nur auf kurzfristigen Mehrheitsverhältnissen beruhte. Das Grundgesetz betont durch Art. 63 Abs. 2 Satz 1 GG die Notwendigkeit einer Regierung mit fester, stabiler Unterstützung im Bundestag, um die Regierungsfähigkeit langfristig sicherzustellen. Die Erfordernis der Kanzlermehrheit unterstreicht den parlamentarischen Charakter des Regierungssystems und fördert die Verlässlichkeit und Konsistenz der Regierungspolitik.
2.3. Bedeutung der formalen Ernennung durch den Bundespräsidenten
Art. 63 Abs. 2 Satz 2 GG ordnet an, dass der vom Bundestag gewählte Bundeskanzler anschließend vom Bundespräsidenten ernannt wird. Diese Ernennung hat vorrangig eine formale Bedeutung, da der Bundespräsident durch die Ernennung die Wahl des Bundestages bestätigt und abschließend legitimiert. Der Bundespräsident verfügt bei der Ernennung des Bundeskanzlers über kein Ermessen, sondern ist an die Entscheidung des Bundestages gebunden. Die Ernennung des Bundeskanzlers ist daher als eine bloße Formalität anzusehen, die den Wahlakt rechtswirksam vollendet und den Gewählten offiziell in sein Amt einsetzt.
Diese formale Ernennung durch den Bundespräsidenten symbolisiert die Bindung der Exekutive an die parlamentarische Demokratie und unterstreicht die konstitutionelle Pflicht des Bundespräsidenten zur Neutralität und Loyalität gegenüber den parlamentarischen Entscheidungen. Der Bundespräsident agiert hier nicht als eigenständiger Machtfaktor, sondern erfüllt lediglich eine vermittelnde und bestätigende Rolle im Regierungsbildungsprozess. Damit wird auch die Stellung des Bundespräsidenten als ein weitgehend neutraler Garant der Verfassung hervorgehoben, der zwar Vorschlagsrechte besitzt (vgl. Art. 63 Abs. 1 GG), jedoch keinen Einfluss auf die inhaltliche Zusammensetzung der Bundesregierung nehmen kann.
2.4. Verfahrensrechtliche Aspekte der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang
Art. 63 Abs. 2 GG normiert das Verfahren des ersten Wahlgangs, bei dem die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages für die Wahl des Kanzlers erforderlich ist. Der Wahlvorgang selbst ist geheim und erfolgt durch schriftliche Stimmabgabe, die durch die Geschäftsordnung des Bundestages geregelt wird. Im ersten Wahlgang steht ausschließlich der Kandidat zur Wahl, den der Bundespräsident vorgeschlagen hat. Dieser erste Wahlgang stellt das entscheidende Moment im Wahlverfahren dar, da der Bundespräsident in dieser Phase noch Einfluss auf den Wahlprozess ausübt, indem er einen Kandidaten benennt, der idealerweise eine klare Mehrheit im Bundestag hinter sich vereinen kann.
Das Wahlverfahren wird durch Art. 63 Abs. 2 GG so strukturiert, dass der Bundeskanzler im ersten Wahlgang mit einer stabilen und absoluten Mehrheit gewählt wird, um mögliche Instabilitäten zu verhindern. Der Bundestag kann den Vorschlag des Bundespräsidenten jedoch ablehnen. In diesem Fall wird gemäß Art. 63 Abs. 3 GG ein weiteres Wahlverfahren eingeleitet, in dem der Bundestag auch ohne Vorschlag des Bundespräsidenten einen Bundeskanzler wählen kann. Dieses zweistufige Wahlverfahren zeigt die strukturelle Balance zwischen den Rechten des Bundestages und der moderierenden Funktion des Bundespräsidenten im Regierungsbildungsprozess.
2.5. Verfassungsrechtliche und politische Implikationen des ersten Wahlgangs
Die Möglichkeit, dass ein Kanzlerkandidat bereits im ersten Wahlgang die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, hat sowohl verfassungsrechtliche als auch politische Implikationen. Verfassungsrechtlich ist der erste Wahlgang der bevorzugte Weg, der dem Prinzip der parlamentarischen Mehrheitsregierung entspricht. Die Mehrheitserfordernis stellt sicher, dass die gewählte Person eine klare und verlässliche Unterstützung im Bundestag hat, wodurch die Handlungsfähigkeit der Regierung gestärkt wird. Politisch wird durch diese Regelung das Bestreben unterstützt, einen Konsenskandidaten zu finden, der von der Mehrheit der Abgeordneten getragen wird und die unterschiedlichen politischen Strömungen und Mehrheiten in der Volksvertretung widerspiegelt.
2.6. Ernennung und Amtseinführung als Bestandteil der demokratischen Legitimation
Die Ernennung des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten hat auch symbolische Bedeutung, indem sie die Legitimation des Kanzlers als demokratisch gewählten Regierungschef bestätigt. Diese Legitimation ist nicht allein formaler Natur, sondern bringt die Verfassungstreue und Bindung des Bundespräsidenten an die parlamentarische Entscheidung zum Ausdruck. Die Ernennung stellt daher den formalen Abschluss der Kanzlerwahl dar und markiert den Beginn der Amtsführung des Bundeskanzlers. Der Akt der Ernennung kann als eine Art „Vertrauensbeweis“ des Bundespräsidenten verstanden werden, der die Entscheidung des Bundestages offiziell anerkennt und in das Amt umsetzt.
In der verfassungsrechtlichen Tradition der Bundesrepublik unterstreicht die Ernennung des Kanzlers durch den Bundespräsidenten den Respekt vor der demokratischen Entscheidung und die Sicherstellung, dass das Regierungssystem des Bundes auf einem stabilen parlamentarischen Fundament beruht. Diese Rolle des Bundespräsidenten als neutrale Instanz wird im Kontext der Kanzlerwahl besonders deutlich und stellt einen wichtigen Pfeiler des deutschen Regierungssystems dar.
3. Art. 63 Abs. 3 GG: Kanzlerwahl nach erfolglosem ersten Wahlgang
3.1. Wortlaut und Bedeutung
Art. 63 Abs. 3 GG regelt das Verfahren der Kanzlerwahl, falls der vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat im ersten Wahlgang (vgl. Art. 63 Abs. 1, 2 GG) nicht die notwendige Mehrheit auf sich vereinen konnte. Nach Abs. 3 hat der Bundestag in diesem Fall die Möglichkeit, innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Bundeskanzler zu wählen. Diese Vorschrift stellt eine Flexibilisierung im Wahlprozess dar und erlaubt es dem Bundestag, im Falle der Ablehnung des Vorschlags des Bundespräsidenten durch den Bundestag einen eigenen Kandidaten aufzustellen und in einer sogenannten zweiten Phase des Wahlverfahrens die Wahl eigenständig durchzuführen.
3.2. Bedeutung der Vierzehn-Tage-Frist
Die in Art. 63 Abs. 3 GG vorgesehene Frist von vierzehn Tagen ist eine zentrale Komponente dieses Abschnitts und verfolgt mehrere verfassungsrechtliche Zwecke. Einerseits soll sie sicherstellen, dass der Bundestag genügend Zeit hat, um Konsens über einen Kanzlerkandidaten zu finden und eventuelle Verhandlungen zwischen den Fraktionen zu führen. Der Gesetzgeber wollte damit dem Parlament eine angemessene Gelegenheit geben, eine tragfähige Mehrheit zu organisieren und alternative Kandidaten zu prüfen, falls der erste Kandidat keine ausreichende Unterstützung gefunden hat.
Die Frist von vierzehn Tagen ist daher als Versuch des Grundgesetzes zu werten, den Parlamentarismus zu stärken und die Regierungsbildung im Rahmen der demokratischen Selbstorganisation des Bundestages zu fördern. Die verfassungsrechtliche Gestaltung dieser Frist unterstreicht die Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit der Regierung möglichst zügig sicherzustellen, indem ein klarer zeitlicher Rahmen für die Konsensfindung vorgegeben wird. Eine solche Frist vermeidet potenzielle Lähmungen des politischen Systems und verhindert eine zu lange Phase der Unsicherheit.
3.3. Das Quorum der Mehrheit der Mitglieder
Art. 63 Abs. 3 GG erfordert für die Wahl eines Bundeskanzlers in diesem zweiten Wahlgang die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Dieses Quorum entspricht der sogenannten absoluten Mehrheit oder „Kanzlermehrheit“, welche nach Art. 63 Abs. 2 GG bereits im ersten Wahlgang gefordert wird. Es handelt sich hierbei um die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages, unabhängig von der Anzahl der anwesenden Abgeordneten. Durch die Beibehaltung dieses Quorums auch im zweiten Wahlgang wird sichergestellt, dass der gewählte Bundeskanzler über eine stabile und verlässliche Basis im Parlament verfügt.
Die Festlegung auf eine absolute Mehrheit unterscheidet sich von den üblichen parlamentarischen Mehrheitsregelungen, bei denen oft eine einfache Mehrheit der Anwesenden ausreicht. In der verfassungsrechtlichen Konzeption des Grundgesetzes wurde jedoch bewusst festgelegt, dass der Bundeskanzler eine stärkere Mehrheit hinter sich haben muss, um seine Rolle als Regierungschef stabil und effektiv ausüben zu können. Dieser Mechanismus soll verhindern, dass der Kanzler lediglich auf einer knappen Mehrheit oder gar nur einer Minderheit basiert, was die politische Stabilität der Bundesregierung gefährden könnte.
3.4. Rolle des Bundespräsidenten im zweiten Wahlgang
Im Gegensatz zum ersten Wahlgang (Art. 63 Abs. 1 GG) ist der Bundespräsident im zweiten Wahlgang nicht involviert. Nach Art. 63 Abs. 3 GG obliegt es allein dem Bundestag, eine Person als Kanzlerkandidaten vorzuschlagen und zu wählen. Der Bundespräsident hat kein erneutes Vorschlagsrecht und kann in dieser Phase auch nicht in den Auswahlprozess eingreifen. Dies stellt eine wesentliche Verschiebung der Verantwortung dar, die jetzt vollumfänglich beim Parlament liegt und die Bedeutung des Bundestages als zentraler Akteur in der Kanzlerwahl und Regierungsbildung hervorhebt.
Diese veränderte Rolle des Bundespräsidenten verdeutlicht den primären Zweck des zweiten Wahlganges als Versuch, die Bildung einer Regierung allein aus der Mitte des Parlaments zu ermöglichen. Der Bundespräsident hat seinen Vorschlag im ersten Wahlgang bereits eingebracht und steht daher ab dem zweiten Wahlgang gewissermaßen zurück, um dem Bundestag die Möglichkeit zu geben, einen Kandidaten zu finden, der die notwendigen Mehrheiten auf sich vereinen kann.
3.5. Verfassungsrechtliche Funktionen und politische Praxis des zweiten Wahlgangs
Art. 63 Abs. 3 GG ist so konzipiert, dass er dem Bundestag einen zweiten Versuch ermöglicht, ohne erneute Einflussnahme durch den Bundespräsidenten eine Lösung für die Regierungsbildung zu finden. Dies ist verfassungsrechtlich bedeutsam, weil es die politische Autonomie des Bundestages unterstreicht und dem Parlament eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung zuweist. Durch die Loslösung von einer Vorschlagsbindung oder dem Einfluss des Bundespräsidenten wird dem Bundestag eine größere Flexibilität eingeräumt, gegebenenfalls auch alternative Kandidaten zu nominieren oder bisherige Koalitionskonstellationen neu zu verhandeln.
In der politischen Praxis ist der zweite Wahlgang jedoch von erheblicher Bedeutung. Durch die Vierzehn-Tage-Frist erhält der Bundestag die Gelegenheit, in Verhandlungen und Fraktionsgesprächen eine mehrheitsfähige Lösung zu erarbeiten, die sowohl die parteipolitischen als auch die gesamtpolitischen Erfordernisse berücksichtigt. Art. 63 Abs. 3 GG ermutigt die Bundestagsfraktionen, durch Konsensbildung und Kompromissbereitschaft einen Kandidaten zu finden, der die nötige Kanzlermehrheit erreicht, um eine stabile Regierung zu gewährleisten.
3.6. Systematische Einordnung und verfassungspolitische Überlegungen
Art. 63 Abs. 3 GG muss im Kontext der gesamten Vorschriften zur Kanzlerwahl und Regierungsbildung betrachtet werden. Während Art. 63 Abs. 1 und 2 GG dem Bundespräsidenten eine aktive Rolle zuweisen und seine Vorschlagsbefugnis betonen, bringt Abs. 3 die Verantwortung für die Wahl des Kanzlers vollständig auf die Ebene des Parlaments. Damit wird der Bundestag als zentrale demokratische Institution und Hauptträger der Regierungsbildung gestärkt, während der Bundespräsident seine Rolle als Initiator des Wahlprozesses im ersten Wahlgang ausübt.
Diese systematische Staffelung der Verantwortung – zunächst die Bindung an einen Vorschlag des Bundespräsidenten, dann die Übergabe an den Bundestag – reflektiert das Prinzip der Gewaltenteilung und der Gewaltenbalance innerhalb des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland. Es stellt sicher, dass im Falle eines Scheiterns der Wahl im ersten Wahlgang nicht sofort in eine instabile Regierungsphase übergegangen wird, sondern dass die Institutionen des Staates in einem strukturierten Verfahren weiterhin auf eine stabile Mehrheitsfindung hinarbeiten können.
3.7. Politische Dynamiken und das Szenario einer erneuten Pattsituation
Sollte der Bundestag innerhalb der Vierzehn-Tage-Frist nicht in der Lage sein, einen Kanzlerkandidaten mit der notwendigen Mehrheit zu wählen, sieht Art. 63 Abs. 4 GG ein weiteres Wahlverfahren vor, das in eine Entscheidungsphase durch den Bundespräsidenten mündet. Art. 63 Abs. 3 GG ist somit auch als Vorstufe zur dritten Phase des Wahlverfahrens zu verstehen, welche letztlich zu einer Entscheidung führen soll, um die Handlungsfähigkeit des Staates und der Regierung zu garantieren.
In der politischen Realität kann die Anwendung von Art. 63 Abs. 3 GG bedeutende Auswirkungen auf das Parteiengefüge, die Koalitionsverhandlungen und die strategische Ausrichtung der Fraktionen haben. Das Szenario eines zweiten Wahlgangs birgt eine hohe politische Dynamik, da die Fraktionen unter Zeitdruck ihre politischen Positionen und Koalitionsoptionen überprüfen müssen. Im Falle einer erneuten Pattsituation steigt der Druck auf die Fraktionen erheblich, eine Koalitionsvereinbarung oder eine Mehrheit zu finden, um eine Entscheidung durch den Bundespräsidenten in der nachfolgenden Wahlphase zu vermeiden.
Das Verfahren des Art. 63 Abs. 3 GG hat sich in der verfassungsrechtlichen Praxis als ein effektives Instrument erwiesen, um den Bundestag zur Konsensfindung anzuregen und die Bildung einer stabilen Regierung zu fördern. Es bildet damit ein zentrales Element des demokratischen Wahlprozesses, das einerseits die Eigenverantwortlichkeit des Parlaments betont und andererseits eine notwendige Eskalationsstufe zur Sicherstellung der Regierungsbildung enthält.
4. Art. 63 Abs. 4 GG: Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers im dritten Wahlgang
4.1. Wortlaut und Struktur des Art. 63 Abs. 4 GG
Art. 63 Abs. 4 GG regelt den finalen Schritt im Verfahren zur Wahl des Bundeskanzlers, der in Kraft tritt, wenn weder der Vorschlag des Bundespräsidenten gemäß Abs. 1, noch eine Wahl durch den Bundestag innerhalb der durch Abs. 3 gesetzten Vierzehntagesfrist erfolgreich sind. Der Absatz beschreibt einen „dritten Wahlgang“, der durch drei besondere Merkmale hervorsticht:
- Die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet (Satz 1).
- Unterscheidung nach Erreichen oder Verfehlen der absoluten Mehrheit (Sätze 2 und 3).
- Ernennungs- oder Auflösungsentscheidung des Bundespräsidenten, sofern keine absolute Mehrheit vorliegt (Satz 3).
4.2. Funktion und verfassungsrechtliche Einordnung
Dieser Absatz tritt nur ein, wenn die vorherigen Wahlverfahren keine Regierungsbildung ermöglicht haben. Er bringt den Wahlprozess zu einem zwingenden Abschluss, indem entweder ein Kandidat gewählt oder eine Neuwahl des Bundestages ausgelöst wird. Die Bedeutung von Art. 63 Abs. 4 GG liegt darin, einen endlosen Wahlprozess zu verhindern und die Handlungsfähigkeit des Staates zu gewährleisten. Damit soll auch eine stabile Regierungsbildung gesichert werden, die sich auf eine breite Mehrheit stützen kann, ohne jedoch die Bildung eines Minderheitskabinetts kategorisch auszuschließen.
Art. 63 Abs. 4 GG steht in engem systematischen Zusammenhang mit den vorherigen Absätzen und dem Gesamtkonzept des Grundgesetzes, wonach das Parlament die Verantwortung trägt, eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden. Die Einbeziehung des Bundespräsidenten in die Entscheidung, das Parlament aufzulösen oder einen Kandidaten ohne absolute Mehrheit zu ernennen, unterstreicht dessen Rolle als neutrales Staatsorgan, das im Rahmen einer „ultima ratio“ handelt.
4.3. Ablauf des dritten Wahlgangs und Erfordernis der relativen Mehrheit
Nach dem Wortlaut von Satz 1 des Abs. 4 wird die Wahl des Bundeskanzlers in diesem dritten Wahlgang durch eine einfache relative Mehrheit entschieden. Diese Form der Mehrheit bedeutet, dass der Kandidat mit der höchsten Stimmenzahl gewählt ist, unabhängig davon, ob eine absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf ihn entfällt. Im Unterschied zu den vorherigen Wahlgängen, in denen die absolute Mehrheit verlangt wird, wird hier das Erfordernis der absoluten Mehrheit aufgehoben. Dadurch soll vermieden werden, dass die Bundeskanzlerwahl durch ein andauerndes Patt im Bundestag blockiert wird.
Die Einführung der relativen Mehrheit in diesem Stadium ist als Notfallmechanismus konzipiert. Es ist die letzte Gelegenheit für den Bundestag, einen Kandidaten zu wählen, bevor das Staatsoberhaupt eine Entscheidung treffen muss. Die Regelung bringt damit ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel einer stabilen Mehrheitsregierung und der Vermeidung eines regierungslosen Zustands zum Ausdruck. Die verfassungsrechtliche Konstruktion bevorzugt weiterhin eine klare Mehrheit im Bundestag, toleriert jedoch eine Kanzlerwahl mit bloß relativer Mehrheit, um politische Handlungsfähigkeit sicherzustellen.
4.4. Handlungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten nach dem dritten Wahlgang
Sollte der Kanzlerkandidat die absolute Mehrheit erhalten, ist der Bundespräsident gemäß Satz 2 verpflichtet, diesen innerhalb von sieben Tagen zu ernennen. Erreicht der gewählte Kandidat jedoch nur die relative Mehrheit, sieht Satz 3 zwei Alternativen für den Bundespräsidenten vor: Er kann entweder den Kandidaten trotzdem ernennen oder den Bundestag auflösen. Die Entscheidung über eine Regierungsbildung in Form einer Minderheitsregierung liegt somit beim Bundespräsidenten und basiert auf seiner Einschätzung, ob eine solche Regierung handlungsfähig wäre oder ob eine Neuwahl des Bundestages die bessere Lösung darstellen würde.
Diese Alternativbefugnis verleiht dem Bundespräsidenten eine bedeutende Ermessensspielraum, der auf die politische und verfassungsrechtliche Lage zugeschnitten ist. Die Alternative zur Ernennung oder Auflösung basiert nicht auf dem Belieben des Bundespräsidenten, sondern ist an eine sorgfältige Abwägung der Staatswohlinteressen geknüpft. Die verfassungsrechtliche Literatur und die höchstrichterliche Rechtsprechung betonen, dass der Bundespräsident bei der Entscheidung über die Auflösung des Bundestages die Handlungsfähigkeit des Staates und die Stabilität des politischen Systems im Blick behalten muss.
4.5. Voraussetzungen und Schranken der Auflösungskompetenz des Bundespräsidenten
Die Entscheidungskompetenz zur Auflösung des Bundestages, wie sie in Satz 3 verankert ist, unterliegt verfassungsrechtlichen Schranken, insbesondere den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie und der Stabilität des politischen Systems. Da die Auflösung des Bundestages nur ausnahmsweise vorgesehen ist, handelt es sich bei dieser Kompetenz um ein außerordentliches Recht, das dem Bundespräsidenten eine hohe Verantwortung überträgt. Die Auflösung des Parlaments muss die Ultima Ratio bleiben, wenn eine Regierungsbildung auch nach der Wahl des Kanzlerkandidaten nicht möglich erscheint und die politische Handlungsfähigkeit des Staates gefährdet ist.
Verfassungspolitisch stellt die Auflösungsoption die „ultima ratio“ dar, mit der das Grundgesetz die Kontrolle über den Regierungsbildungsprozess zurück in die Hände des Souveräns, also der Wähler, gibt. Der Bundespräsident muss daher sorgfältig abwägen, ob eine Minderheitsregierung im Parlament realisierbar und stabil genug ist oder ob eine Neuwahl die bessere Lösung darstellt. In der Praxis würde er sich dabei vermutlich an den politischen Mehrheitsverhältnissen und der Bereitschaft der Parteien zur Zusammenarbeit orientieren.
4.6. Verfassungsrechtliche Debatten und Literaturmeinungen
Die Literatur diskutiert intensiv die Frage, ob der Bundespräsident im Rahmen seines Ermessens hinsichtlich der Entscheidung über die Ernennung eines Kandidaten mit relativer Mehrheit oder die Auflösung des Bundestages an politische Erwägungen gebunden ist oder ob er in dieser Entscheidung grundsätzlich frei ist. Einige Stimmen betonen, dass dem Bundespräsidenten hier eine quasi-präsidiale Kompetenz zukomme, die ihn als Hüter des Staatswohls positioniert. Andere verweisen auf die politische Rückbindung des Amtes und argumentieren, dass der Bundespräsident stets bemüht sein sollte, politische Mehrheiten zu stabilisieren, anstatt Neuwahlen anzustreben.
Eine weitere Diskussion betrifft die Frage, inwiefern der Bundespräsident im Falle der Ernennung eines Kandidaten ohne absolute Mehrheit besondere Bedingungen an dessen Kooperationsfähigkeit und parlamentarische Unterstützung knüpfen könnte. Während das Grundgesetz keine solchen Bedingungen formuliert, wird verschiedentlich vorgeschlagen, dass der Bundespräsident diese Aspekte bei seiner Entscheidung berücksichtigen sollte, um eine nachhaltige Regierungsstabilität sicherzustellen.
Darüber hinaus beleuchtet die verfassungsrechtliche Diskussion die Funktion und den Zweck der relativen Mehrheit in diesem Wahlgang. Während einige Kommentatoren darin einen notwendigen Schritt zur Sicherung der Regierungsfähigkeit sehen, kritisieren andere, dass damit die Gefahr einer Minderheitsregierung entstehe, die auf die stetige Zustimmung wechselnder Mehrheiten angewiesen sei. Dies könnte zur Folge haben, dass die politische Stabilität leidet und der Regierungsbildungsprozess durch eine Neuwahl besser gelöst werden könnte.
4.7. Systematische Einbindung in das Grundgesetz
Art. 63 Abs. 4 GG ist Teil des umfassenden Systems des Grundgesetzes zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der Exekutive. Durch die Möglichkeit der Wahl mit relativer Mehrheit wird das Ziel des Grundgesetzes, die Stabilität des Regierungssystems zu sichern, auf ein Minimum reduziert. Die besondere Rolle des Bundespräsidenten in diesem Wahlgang stellt sicher, dass die Entscheidung über eine Minderheitsregierung nicht allein dem Parlament überlassen bleibt, sondern auch die staatliche Gesamtsituation und das Staatswohl beachtet werden.
Durch die Festlegung eines klaren zeitlichen Rahmens, der das Verfahren auf höchstens drei Wahlgänge und eine Entscheidung des Bundespräsidenten beschränkt, werden langwierige und potenziell destabilisierende Regierungsbildungsprozesse vermieden. Die Frist von sieben Tagen für die Entscheidung des Bundespräsidenten und die Möglichkeit einer Neuwahl sind Ausdruck des Willens des Verfassungsgebers, auch in komplexen politischen Situationen eine rasche und abschließende Entscheidung über die Zusammensetzung der Exekutive sicherzustellen.
Insgesamt bildet Art. 63 Abs. 4 GG damit eine zentrale Notfallklausel, die sicherstellt, dass das Regierungssystem des Grundgesetzes auch in Fällen schwieriger Mehrheitsverhältnisse funktionstüchtig bleibt und die politische Stabilität nicht durch ein endloses Auswahlverfahren unterminiert wird.