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Menschenrechte
DR Kongo: Deutsches Gericht verurteilt zwei ruandische Rebellen-Führer
(Stuttgart) – Die Verurteilung durch ein deutsches Gericht von zwei ruandischen Rebellen-Führern wegen Verbrechen in der Demokratischen Republik Kongo ist ein wichtiger Beitrag, um den Opfern von Massenverbrechen im Kongo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so Human Rights Watch heute.
Am 28. September 2015 verurteilte ein Gericht in Stuttgart Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni, den Präsidenten und den Vize-Präsidenten der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (Forces Démocratiques pour la Libération du Rwanda, FDLR), zu 13 beziehungsweise acht Jahren Haft. Das Gericht sprach Murwanashyaka schuldig wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit fünf Angriffen der FDLR im Osten des Kongos und wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung. Musoni wurde ebenfalls wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, allerdings von den Vorwürfen freigesprochen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt zu haben.
AufklappenNach dem Einmarsch der ruandischen Armee fliehen diese Menschen aus Angst vor Vergeltungsschlägen der FDLR aus ihren Dörfern. Region Masisi, Nord-Kivu, Demokratische Republik Kongo, Februar 2009.
© 2009 Michael Kavanagh„Das Urteil eines deutschen Gerichts gegen ruandische Rebellen-Führer wegen Verbrechen im Kongo zeigt, dass die Welt für Kriegsverbrecher kleiner geworden ist“, so Géraldine Mattioli-Zeltner, Advocacy-Direktorin der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Das Stuttgarter Gericht ist zwar weit entfernt vom Osten des Kongos, aber seine Richter haben Tausenden Kongolesen endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, deren Menschenrechte die FDLR auf schrecklichste Weise verletzt hat.“
Die FDLR wurde lange Zeit nicht strafrechtlich wegen der schweren Gräueltaten verfolgt, die sie an der kongolesischen Zivilbevölkerung begangen hat. Dies war der erste Prozess, bei dem sich zwei Führer der Rebellengruppe verantworten mussten. Die deutschen Behörden sollen Maßnahmen ergreifen, damit die betroffene Bevölkerung im Kongo von diesem wichtigen Urteil erfährt, etwa indem die Opfer Zugang zu relevanten Informationen erhalten.
Die FDLR ist eine überwiegend ruandische Hutu-Rebellengruppe im Osten des Kongo. Einige ihrer Führer waren im Jahr 1994 am Genozid im benachbarten Ruanda beteiligt. Murwanashyaka und Musoni lebten seit mehreren Jahren in Deutschland,als sie im November 2009 verhaftet wurden. Beiden wurden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt, die zwischen den Jahren 2008 und 2010 von FDLR-Kämpfern im Osten des Kongos verübt worden sein sollen, sowie die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Der Prozess begann im Mai 2011. Ein schriftliches Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht. Murwanashyaka und Musoni können gegen das Urteil und das Strafmaß Berufung einlegen.
Das Verfahren war das erste unter dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch, das das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in das deutsche Recht integriert. Es befugt deutsche Gerichte, zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid zu ermitteln und die Verantwortlichen zu verfolgen, unabhängig davon, wo die Verbrechen verübt wurden. Im April 2009 wurde im Bundeskriminalamt eine Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) geschaffen, die darauf spezialisiert ist, Ermittlungen zu schwersten internationalen Verbrechen durchzuführen.
Die Ermittlungen in und die Verfolgung von komplexen Verbrechen, die Tausende Kilometer entfernt verübt wurden, stellt das deutsche Justizsystem vor große Herausforderungen.
Etwa wurden mehrere Anklagepunkte aus den Bereichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Laufe des Verfahrens fallen gelassen, da Beweise fehlten. Das warf Fragen auf, wie gründlich die deutschen Behörden ermittelt haben. Besondere Maßnahmen waren nötig, um die Sicherheit und den Schutz von Opfern und Zeugen zu gewährleisten. Die zum Teil schlechte Qualität von Übersetzungen aus Sprachen, die im Kongo und in Ruanda gesprochen werden, ins Deutsche führte vor Gericht zu Auseinandersetzungen darüber, wie verwertbar einzelne Aussagen waren.
Auch sind manche Vorschriften des deutschen Verfahrensrechts für diese Art von Prozessen ungeeignet. So müssen etwa die Namen von Opfern, die als Zivilparteien im Prozess auftreten, veröffentlicht werden. Dadurch konnten kongolesische Opfer aus Sicherheitsgründen nicht am Prozess teilnehmen.
Die deutschen Justizbehörden sollen aus diesem Prozess lernen, um zukünftige Strafverfahren wegen schwerster internationaler Verbrechen zu verbessern.
Deutschland und andere Länder, die über entsprechende Gesetze verfügen, sollen weiterhin zu schwerwiegenden, im Ausland verübten Verbrechen ermitteln, insbesondere wenn eine Strafverfolgung in den Ländern selbst nicht möglich ist.
Im Jahr 2012 erließ der IStGH einen Haftbefehl gegen den militärischen Führer der FDLR, General Sylvestre Mucacumura, der sich mutmaßlich im Ost-Kongo aufhält und sich bislang erfolgreich den Justizbehörden entzieht.
Der Stuttgarter Schuldspruch unterstreicht, wie wichtig es ist, den Militärkommandanten der FDLR zu verhaften, dessen Truppen grauenhafte Menschenrechtsverletzungen im Ost-Kongo verübt haben. Die kongolesischen Behörden und die UN-Friedensmission sollen dringend dem Haftbefehl des IStGH folgen und sicherstellen, dass sich auch Mudacumura vor Gericht verantworten muss.
„Trotz der Komplexität des Verfahrens haben die deutschen Behörden das Richtige gemacht. Mit diesem Prozess haben sie bewiesen, dass Deutschland kein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher ist“, so Mattioli-Zeltner. „Die Regierung soll daran arbeiten, zukünftige Verfahren unter dem Völkerstrafgesetzbuch zu verbessern. Zudem soll die Arbeit der Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen politisch und finanziell weiterhin starke Unterstützung erhalten.“
Europa: Nationale Gerichtshöfe bauen Reichweite der Justiz aus
(Den Haag) - Regierungen sollen sich drei europäische Länder mit Führungsrolle zum Vorbild nehmen, wenn sie die Straflosigkeit für schwerste internationale Verbrechen bekämpfen wollen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Spezialisierte Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit Vertretern der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Einwanderungsbehörde können die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen weltweit vor Gericht bringen und gewährleisten, dass Kriegsverbrecher selbst nach der Flucht aus dem eigenen Land keinen sicheren Aufenthaltsort finden.
In dem 109-seitigen Bericht „The Long Arm of Justice: Lessons from Specialized War Crimes Units in France, Germany, and the Netherlands” wird untersucht, wie Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen in den drei Ländern agieren und welche wichtigen Erfahrungen sie gemacht haben. An den Orten, wo derartige Verbrechen begangen werden, ist es um die Justiz zumeist schlecht bestellt, deshalb wenden die Gerichte der drei Staaten wie auch in anderen Ländern häufiger das seit langem geltende Prinzip der „weltrechstprinzip“ an, um Personen strafrechtlich zu verfolgen, die des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen verdächtigt werden, und zwar unabhängig davon, wo die Verbrechen begangen wurden und welche Nationalität Opfer und Angeklagte haben.
„Universelle Gerichtsbarkeit ist ein wichtiges Sicherheitsnetz für Opfer, die sich ansonsten nirgendwo an die Justiz wenden können“, sagte Leslie Haskell, Expertin für internationale Justiz von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen sorgen dafür, dass in diesen Fällen etwas geschieht – und vermitteln Personen, die die Menschenrechte verletzen, eine ganz klare Botschaft: Die Zeiten sind vorbei, in denen derartige Verbrechen straffrei blieben und man es sich in einem hübschen Exil gemütlich machen konnte.“
Häufig sind nationale Gerichtshöfe der Länder, in denen Verbrechen begangen wurden, nicht imstande, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Dies kann mit zerstörten juristischen Institutionen, unzureichender Gesetzgebung oder fehlenden Ressourcen zu tun haben. Manche Staaten tun sich auch schwer damit, der Gerechtigkeit Genüge zu tun, wenn ranghohe Regierungsvertreter in die Verbrechen verwickelt sind. Internationale Tribunale, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs, können in derartigen Fällen zwar Abhilfe schaffen, doch aufgrund von Einschränkungen ihrer Jurisdiktion und ihrer Ressourcen nicht den vollen Anforderungen der Justiz gerecht werden. Die von den speziellen Abteilungen propagierte universelle Gerichtsbarkeit hat sich dagegen zu einem wichtigen Instrument entwickelt, um Personen, die für schwere völkerrechtliche Straftaten verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen.
Für den Bericht wurden Staatsanwälte, Ermittlungsrichter, Polizeiermittler, Beamte von Einwanderungsbehörden, Anwälte der Verteidigung und der Opfer, Regierungsvertreter, Akademiker, Aktivisten und Gerichtsbeobachter in den drei Ländern befragt. Auf dieser Grundlage wurden die Erfolge der Abteilungen für Kriegsverbrechen beurteilt und untersucht, welchen Problemen diese Abteilungen weiterhin ausgesetzt sind. Die dienstälteste und stabilste Abteilung zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen ist in den Niederlanden. Sie kann gut als Vorbild für Regierungen dienen, die über die Gründung einer ähnlichen Einrichtung nachdenken. In dem Bericht wird auf Verfahren in jedem der Länder eingegangen sowie auf den Abschluss der ersten Gerichtsverfahren, die von den entsprechenden Abteilungen in Frankreich und Deutschland initiiert worden waren.
Die meisten schwebenden Verfahren gibt es in Frankreich, wo noch mehr als zwei Dutzend Fälle gegen ruandische Staatsbürger offen sind, denen Beteiligung am Völkermord von 1994 vorgeworfen wird. In Frankreich finden zudem bahnbrechende Ermittlungen gegen zwei französische Unternehmen statt, die Überwachungstechnik nach Libyen und Syrien verkauft haben – Technik, die mutmaßlich dazu verwendet wurde, Regierungsgegner zu kontrollieren, was letztlich dazu führte, dass diese Personen verhaftet und gefoltert wurden.
Schwere völkerrechtliche Verstöße auf der Grundlage der weltrechstprinzipzu untersuchen, ist eine besonders komplexe Angelegenheit, weil die Verbrechen vor vielen Jahren im Ausland und in großem Umfang stattfanden. Zudem könnenBeweise über verschiedene Länder verteilt sein. Zwei der wichtigsten Leistungen der Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen stellen die innovativen Ermittlungstechniken dar sowie die Fähigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft, im Ausland zu ermitteln, und zwar auch in den Ländern, wo die Verbrechen begangen wurden.
„Für Polizisten und Staatsanwälte, die den Umgang mit nationalen Verbrechen gewohnt sind, kann es eine einschüchternde Erfahrung sein, gegen Völkermörder und Kriegsverbrecher aus weit entfernten Ländern zu ermitteln und sie anzuklagen“, so Haskell. „Um dieser Herausforderung bestmöglich Herr zu werden, sollte die Erfahrung in spezialisierten Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit dem notwendigen Personal, der notwendigen Erfahrung und den notwendigen Ressourcen gebündelt werden.“
Polizei und Staatsanwaltschaft in den Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen haben gelernt, mit den vielen Schwierigkeiten umzugehen, die diese Fälle in der Praxis mit sich bringen – beispielsweise glaubwürdige Opfer und Zeugen zu finden, beim Umgang mit Dolmetschern und anderen Experten oder wenn es darum geht, die Kooperation ausländischer Justizbehörden zu gewährleisten. Wie Human Rights Watch feststellte, hat das Personal dieser spezialisierten Abteilungen seine Ermittlungstechniken durch Versuch-und-Irrtum- verbessert und wertvolle Erfahrungen gemacht, die in künftigen Fällen von Nutzen sein können.
Darüber hinaus hat Human Rights Watch Bereiche ausgemacht, in denen Verbesserungsbedarf besteht, beispielsweise wenn es darum geht, sich bei Ermittlungen im Ausland nicht unnötig abhängig von den dortigen Behörden zu machen, oder beim besseren Zeugen- und Opferschutz. Dokumentarische oder forensische Beweise sind häufig nur schwer zu finden, deshalb kommt in derartigen Verfahren den Aussagen von Zeugen und Opfern – von denen viele noch immer in dem Land leben, in dem die Verbrechen begangen wurden – ganz besondere Bedeutung zu. Diese Personen gehen für sich und ihre Angehörigen oftmals hohe Risiken ein, wenn sie mit den Justizbehörden kooperieren. In nahezu allen Fällen sei der Zeugenschutz eine Hauptsorge gewesen, sagen Polizei und Staatsanwaltschaft der drei Länder.
In Deutschland hat die Bundesstaatsanwaltschaft auch ohne spezifische Verdächtige breit angelegte vorläufige Untersuchungen zu Verbrechen in mehreren Konfliktländern, darunter Syrien, eingeilet. Diese „strukturellen Ermittlungen“ dienen dazu, Informationen zu Verbrechen zusammenzutragen und mögliche Opfer und Zeugen in Deutschland zu identifizieren, die von Nutzen sein könnten, wenn zu einem späteren Zeitpunkt in Deutschland oder einem anderen Land Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Seit Ende 2013 bittet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylsuchende aus Syrien, in einem Formular zu beantworten, ob sie Zeuge von Kriegsverbrechen wurden und ob sie die Verantwortlichen benennen können.
„Spezialisierte Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen haben die Erfahrung gemacht, dass es einfacher ist, kurz nach dem Verbrechen Beweise zu sammeln als nach vielen Jahren. Syrien ist hervorragend dafür geeignet, diese Lektion in die Praxis umzusetzen“, so Haskell. „Die nationalen Behörden sollen alle in ihrem Land zur Verfügung stehenden Beweise für schwere Völkerrechtsverstöße sammeln lassen, auch durch Flüchtlinge, damit diese Beweise später für Anklagen genutzt werden können.“
Ohne den politischen Willen ist die Gründung von Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen nicht machbar. Genauso ist der politische Wille unerlässlich, damit die spezialisierten Abteilungen erfolgreich arbeiten können. Schließlich sind die Fälle, mit denen sie sich befassen, oftmals politisch heikel und von Spannungen auf diplomatischer Ebene begleitet – vor allem dann, wenn sich die Ermittlungen auf ranghohe ausländische Staatsvertreter erstrecken.
Der in den Niederlanden herrschende starke politische Wille, der Straflosigkeit einen Riegel vorzuschieben, hat zur Gründung einer spezialisierten Abteilung der Einwanderungsbehörde geführt. Diese überprüft Asylsuchende mit dem Ziel, Personen keinen Flüchtlingsstatus zu gewähren, denen schwere völkerrechtliche Verbrechen vorgeworfen werden. Haben Beamte der Einwanderungsbehörde den Verdacht, eine Person könnte ein schweres völkerrechtliches Verbrechen begangen haben, alarmieren sie die Polizei und die Staatsanwaltschaft und übergeben alle Informationen, die für eine strafrechtliche Ermittlung von Belang sein könnten.
Ebenfalls von zentraler Bedeutung für die erfolgreiche Arbeit von Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen ist die Kooperation untereinander. Die Europäische Union hat ein Netzwerk erschaffen, in dem Vertreter nahezu aller 28 EU-Mitgliedstaaten sowie eine Handvoll Beobachterstaaten zwei Mal im Jahr zusammenkommen, um über rechtliche und praxisbezogene Themen ihrer Arbeit zu sprechen und Informationen zu speziellen Fällen zu teilen. Die beeindruckenden Erfolge dieser Initiative haben zu ähnliche Bemühungen anderer Kooperationsgremien der EU sowie der Afrikanischen Union geführt.
„Das Genozid-Netzwerk der EU hat die internationale Zusammenarbeit beträchtlich verbessert und könnte noch mehr erreichen, wenn die Brüsseler Institutionen mehr politische Rückendeckung und zusätzliche Ressourcen bereitstellen würden“, sagte Haskell. „Die EU-Staaten verfügen über das Potenzial, bei der weltrechstprinzipan vorderster Front zu stehen und eine Führungsrolle zu übernehmen, damit die Verantwortlichen für die abscheulichen Verbrechen in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik und in anderen Konfliktgebieten zur Verantwortung gezogen werden.“
UN-Mitgliedstaaten sollen sich gegen Besuch al-Bashirs aussprechen
(New York) – Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und andere UN-Mitgliedstaaten sollen sich öffentlich gegen eine Teilnahme des sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir an der UN-Vollversammlung aussprechen, da gegen diesen ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts (IStGH) wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Darfur besteht. Die Regierungen sollen klarstellen, dass sie mit al-Bashir, falls dieser nicht von seinem Besuch absieht, keinerlei Umgang pflegen und nicht an Veranstaltungen teinehmen werden, an denen al-Bashir teilnimmt.
Vertretern der amerikanischen Regierung zufolge hat al-Bashir ein Visum beantragt, um an der UN-Vollversammlung teilzunehmen, deren Generaldebatte für den Zeitraum vom 24. September bis 2. Oktober 2013 anberaumt ist. Gegen al-Bashir bestehen zwei Haftbefehle des IStGH wegen Verbrechen in Darfur, der eine wegen Völkermordes, der andere wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der IStGH hatte Ermittlungen eingeleitet, nachdem der UN-Sicherheitsrat im März 2005 in seiner Resolution Nr. 1593 die Lage in Darfur an den Gerichtshof überwiesen hatte.
„Sollte al-Bashir bei der UN-Vollversammlung erscheinen, würde er die Bemühungen des Sicherheitsrats für die Strafverfolgung der Verbrechen in Darfur in dreister Weise auf die Probe stellen“, so Elise Keppler, stellvertretende Direktorin der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Das letzte, was die UN jetzt braucht, ist ein Besuch von einem IStGH-Flüchtling.“
Mit al-Bashirs Besuch würde zum ersten Mal eine Person die USA und die UN besuchen, gegen die ein Haftbefehl des IStGH vorliegt. Bislang vermieden viele Staaten – Unterzeichner und Nicht-Unterzeichner des IStGH-Statuts gleichermaßen – al-Bashirs Besuche, indem sie ihn zur Entsendung anderer Vertreter der sudanesischen Regierung aufforderten, Treffen räumlich und zeitlich verschoben oder seine Visite schlichtweg absagten. Zu diesen Staaten gehören Südafrika, Malaysia, Sambia, die Türkei, die Zentralafrikanische Republik, Kenia und Malawi.
Die USA verurteilten al-Bashirs geplanten Besuch zur UN-Vollversammlung. Am 16. September bezeichnete Samantha Power, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, diesen als „bedauerlich, zynisch und äußerst unagemessen“.
In Reaktion auf al-Bashirs geplanten UN-Besuch appellierte Human Rights Watch an alle UN-Mitgliedstaaten, die möglichen rechtlichen Konsequenzen zu bedenken. Die Vertragsstaaten des IStGH sind durch das Römische Statut verpflichtet, bei der Verhaftung Strafverdächtiger mit dem Gerichtshof zu kooperieren. Auch die UN-Sicherheitsratsresolution 1593, welche die Lage in Darfur an den IStGH verweist, fordert alle Staaten und die betroffenen regionalen sowie andere internationalen Organisationen auf, uneingeschränkt mit dem Gericht zusammenzuarbeiten. Die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1949 verlangt in Artikel 4: „Personen, die Völkermord [...] begehen, sind zu bestrafen, gleichviel ob sie Regierungsvertreter, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind.“
Die Resolution 1593 verpflichtet den Sudan zur Kooperation mit dem IStGH. Auch in einer Präsidententerklärung des Sicherheitsrats aus dem Jahr 2008 wird der Sudan aufgefordert, mit dem Gericht zusammenzuarbeiten, damit das Land die Resolution 1593 einhält. Der Rat verfolgte diese Erklärung jedoch nicht angemessen weiter.
Menschenrechtler und Nichtregierungsorganisationen mobilisieren, insbesondere in Afrika, gegen jegliche Reisen al-Bashirs und für seine Auslieferung an den IStGH. Zuletzt reichte die nigerianische Koalition für den IStGH in Nigeria Klage ein, als al-Bashir das Land unerwartet besuchte, um an einer Konferenz der Afrikanischen Union teilzunehmen. Die öffentliche Verurteilung seines Besuchs trug zweifellos zu seiner abrupten Abreise bei.
„Al-Bashir gehört an genau einen Ort: Vor den IStGH, wo er sich wegen der abscheulichen Verbrechen in Darfur verantworten muss“, so Keppler. „Die zahllosen Opfer in Dafur verdienen es, ihn dort zu sehen - und nicht in den Sälen der Vereinten Nationen.“
Covid-19-Apps bergen Risiken für Menschenrechte
(New York) – Die mobilen Tracking-Programme, mit denen Regierungen gegen die Ausbreitung von Covid-19 vorgehen wollen, bergen erhebliche Risiken für den Schutz der Menschenrechte, so Human Rights Watch heute anlässlich der Veröffentlichung eines detaillierten Frage-Antwort-Papiers. Während der Nutzen dieser Programme zur Eindämmung der Pandemie noch nicht bewiesen ist, könnten sie unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes zu unnötigen und unverhältnismäßigen Überwachungsmaßnahmen führen.
Das Frage-Antwort-Papier „Mobile Location Data and Covid-19“ analysiert verschiedene Ansätze, wie Behörden Ortungs- und Umgebungs-Daten von Mobiltelefonen und anderen Geräten nutzen wollen, und nimmt deren Risiken für den Schutz der Privatsphäre unter die Lupe. Das Papier untersucht den bisherigen Einsatz dieser Technologien in China, Israel, Südkorea, den USA und anderen Staaten und liefert Empfehlungen und Richtlinien, um die Menschenrechtsrisiken bestimmter Instrumente oder Programme zu beurteilen, die sich auf mobile Ortungsdaten stützen.
„Während eines Gesundheitsnotstands mögen gewisse Einschnitte in die Rechte der Bevölkerung zu rechtfertigen sein. Doch aktuell fordert man die Menschen auf, ihre Privatsphäre und persönlichen Daten preiszugeben, um sie in unerprobte Technologien einzuspeisen“, so Deborah Brown, Senior Digital Rights Researcher bei Human Rights Watch. „Die Eindämmung der Pandemie und die Rückkehr zur gesellschaftlichen Normalität sind wichtige Ziele, doch sie lassen sich auch ohne durchdringende Überwachungsmaßnahmen erreichen.“
Der Schutz des menschlichen Lebens und der Gesundheit sind für Entscheidungsträger in der ganzen Welt von höchster Bedeutung. Dennoch sollten Regierungen und Privatwirtschaft keine unerprobten Technologien propagieren oder zum Einsatz bringen. Die Geschichte der Notstandsmaßnahmen hat gezeigt, dass, wenn Überwachungsmaßnahmen eingeführt werden, diese üblicherweise zu weit gehen, ihre Ziele verfehlen und – einmal genehmigt – auch nach Wegfall ihrer Begründung fortbestehen. Mobile Tracking-Programme, die als vorübergehende Maßnahme bis zur Eindämmung der Pandemie und Verfügbarkeit eines Impfstoff vorgesehen sind, könnten zu dauerhaften Instrumenten eines erweiterten Überwachungsregimes werden.
Wenn die Privatsphäre in unverhältnismäßiger Weise preisgegeben wird, kann dies der Einschränkung weiterer Rechte Tür und Tor öffnen, etwa im Hinblick auf die Reisefreiheit, die freie Meinungsäußerung oder die Vereinigungsfreiheit. Die Auswertung mobiler Netzdaten liefert fein abgestufte, in Echtzeit verfügbare Möglichkeiten, gezielt bestimmte Personenkreise auszuwählen. Damit können Regierungen drakonische Quarantänemaßnahmen durchsetzen. Dies ist besonders problematisch, solange wirksame und transparente Beschränkungen für die Sammlung, Speicherung und Verwendung der Daten fehlen. Geraten die Informationen in die Hände von Regierungen, die bereits weitreichende Überwachungsmaßnahmen betreiben wie in China oder Russland, könnten sie zu verstärkter Diskriminierung und Repression führen.
Human Rights Watch warnt davor, bei der Bekämpfung von Covid-19 einseitig auf mobile Ortungsdaten zu setzen, da dies gesellschaftliche Randgruppen ohne zuverlässigen Internet- und Mobilfunkzugang ausschließt und deren Gesundheit und Lebensgrundlage gefährden kann. Randgruppen wie Wanderarbeiter, Geflüchtete und Wohnungslose leben häufig auf engem Raum, was die Genauigkeit der Kontaktverfolgung per App beeinträchtigt. Andere Minderheiten dürften den Tracking-Technologien angesichts jahrzehntelanger menschenrechtswidriger Überwachung und Unterdrückung mit großer Skepsis begegnen.
„Mobiles Tracking schafft bei der Bekämpfung der Pandemie ein Zweiklassensystem, welches die ärmsten und schutzbedürftigsten Menschen abhängt“, so Amos Toh, Experte für künstliche Intelligenz und Menschenrechte. „Wenn Minderheiten und Randgruppen nicht wirklich einbezogen werden, dann können technologiebasierte Ansätze dazu führen, die systematische Ungleichbehandlung all jener Menschen zu verstärken, die durch das Virus ohnehin schon schwer getroffen sind.“
Es bestehen ernste Zweifel, ob die Initiativen zum Tracking von Covid-19 internationale Menschenrechtsstandards hinsichtlich Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit erfüllen können. Human Rights Watch fordert alle Regierungen auf, vor dem Einsatz solcher Technologien die Frage zu beantworten, ob diese wissenschaftlich gerechtfertigt sind und inwieweit sie das Infektionsrisiko einzelner Personen falsch einschätzen oder die Öffentlichkeit irreführen könnten. Die Behörden sollten zudem prüfen, ob andere Mittel zur Pandemiebekämpfung zur Verfügung stehen, welche die Menschenrechte weniger stark einschränken. Dazu sollten auch erprobte Eindämmungsmaßnahmen wie die manuelle Kontaktverfolgung und die Ausweitung des Zugangs zu Tests und Behandlungen gehören.
„Bevor wir datengestützte Technologien einsetzen, sollten wir uns grundlegende Fragen stellen: Wird es funktionieren? Was ist der Preis für unsere Freiheit und Gesundheit?“ so Brown. „Der Faktor Zeit ist entscheidend. Doch ist eine Pandemie nicht die richtige Zeit, um hastig zu handeln und weiteren Schaden anzurichten.“
Internet-Shutdowns in COVID-19-Krise beenden
Mann mit seinem Handy in Srinagar, Kashmir, 30. Januar 2020.
© 2020 AP Photo/Dar Yasin
Update: Äthiopien hat nach dreimonatiger Unterbrechung angekündigt, die Telefon- und Internetverbindung nach West-Oromia wiederherzustellen
(New York) - Das vorsätzliche Abschalten oder die Beschränkung des Zugangs zum Internet verstößt gegen Menschenrechtsstandards und kann während einer Gesundheitskrise wie der COVID-19-Pandemie tödliche Folgen haben, so Human Rights Watch. Regierungen, die jetzt das Internet abschalten, etwa in Bangladesch, Äthiopien, Indien und Myanmar, sollen diese Maßnahme unverzüglich beenden, um Leben zu retten.
Während einer Gesundheitskrise ist der schnelle Zugang zu verlässlichen Informationen von entscheidender Bedeutung. Menschen nutzen das Internet, um sich über Gesundheitsmaßnahmen, Bewegungseinschränkungen und relevante Nachrichten zu informieren, so dass sie sich selbst und andere schützen können.
„Die Abschaltung des Internets verhindert, dass die Menschen wichtige Informationen und Dienstleistungen erhalten“, sagte Deborah Brown, Expertin für digitale Rechte. „Während dieser globalen Gesundheitskrise haben solche Shutdowns unmittelbare, negative Folgen für die Gesundheit und das Leben der Menschen. Zudem untergraben sie die Bemühungen, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen.“
Für Menschen auf der ganzen Welt, die entweder freiwillig oder aufgrund staatlicher Vorgaben zu Hause bleiben, ist das Internet für die Kommunikation mit Ärzten, der Familie und Freunden von entscheidender Bedeutung. Für viele Kinder und andere Menschen ist der Internetzugang notwendig, um weiterhin lernen zu können, da Schulen auf der ganzen Welt geschlossen werden.
Die Abschaltung des Internets kann größere Auswirkungen auf Frauen, lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Personen, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen haben, die das Internet für Online-Dienste in Anspruch nehmen. Diese Gruppen sind am ehesten auf das Internet angewiesen, um ihre physische Sicherheit zu schützen, Zugang zu Informationen und Versorgung im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zu erhalten und am sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, insbesondere da Frauen unverhältnismäßig mehr Verantwortung für die Kinderbetreuung und Bildung übernehmen und die Isolation zu psychischem Leid führen oder dieses verschlimmern kann.
Die wirtschaftlichen Einbußen durch Internet-Störungen sind erheblich. Da Bewegungsfreiheit zunehmend eingeschränkt wird, sind viele Einzelpersonen und Unternehmen bei ihrer Arbeit nun verstärkt auf das Internet angewiesen.
In den letzten Jahren ist das Internet immer häufiger abgeschaltet worden, in der Regel während Wahlen, regierungsfeindlichen Protesten oder bewaffneten Konflikten. Dreiunddreißig Länder haben laut Access Now im Jahr 2019 insgesamt 213 Internetabschaltungen erzwungen. Die Begründungen der Regierungen reichten von der Notwendigkeit, sog. Fake News zu bekämpfen, bis hin zum Schutz der öffentlichen und nationalen Sicherheit.
In Indien wurden seit 2012 die meisten Internetabschaltungen vorgenommen. Dort waren es insgesamt mindestens 385. In Jammu und Kaschmir verhängte die indische Regierung im August 2019 einen vollständigen Kommunikationsstillstand, der Familien daran hinderte, miteinander zu kommunizieren und die lokale Wirtschaft lahmlegte. Die Telefondienste wurden nach und nach wiederhergestellt, aber erst nachdem der Oberste Gerichtshof die Internetabschaltung im Januar 2020 für rechtswidrig befunden hatte, wurde auch dieser Dienst teilweise - und auch nur mit 2G-Geschwindigkeit - wiederhergestellt.
Seit der Verbreitung von COVID-19 in Indien berichten Menschen, dass sie Websites nicht aufrufen können, die Informationen über die Pandemie enthalten, da die Geschwindigkeit stark eingeschränkt und der Zugriff auf alles, was über Textnachrichten hinausgeht, fast unmöglich ist. Die in Neu-Delhi ansässige Internet Freedom Foundation hat die Regierung aufgefordert, „Ärzten und Patienten alle Hilfsmittel, auch das Hochgeschwindigkeits-Internet, zur Verfügung zu stellen, um Leben zu retten“.
In Äthiopien haben möglicherweise Millionen von Menschen in West-Oromia keine Informationen über COVID-19, weil die Regierung die Internet- und Telefondienste schon vor Monaten abgeschaltet hat. Dies verhindern die Kommunikation von Familien untereinander, hat lebensrettende Dienste unterbrochen und zu einem Informationsstillstand während der Aufstände gegen die Regierung in der Region beigetragen.
In Myanmar blockiert die Regierung das Internet für mehr als eine Million Menschen in den Staaten Rakhaing und Chin. Im Juni vergangenen Jahres beschränkte sie erstmals den Zugang in acht Townships in Rakhaing und in einem weiteren in Chin, was Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in Konfliktgebieten, die Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Arbeit von Menschenrechtsbeobachtern hat. Im September hob die Regierung die Beschränkungen in fünf Townships in Rakhine und in Chin auf, setzte sie aber am 3. Februar 2020 erneut in Kraft.
In Bangladesch hindern ein Internetausfall und eine Einschränkung der Telefondienste in den Rohingya-Flüchtlingslagern humanitäre Gruppen daran, auf die Bedrohung durch COVID-19 zu reagieren. Diese Maßnahmen gefährden die Gesundheit und das Leben von fast 900.000 Flüchtlingen in Cox's Bazar und den benachbarten Orten.
Vor fast vier Jahren verurteilte der UN-Menschenrechtsrat erstmals Maßnahmen, die den Zugang zu oder die Verbreitung von Informationen im Internet verhindern oder stören, und forderte die Länder auf, von solchen Maßnahmen Abstand zu nehmen. In der vergangenen Woche sagten führende internationale Experten für Meinungsfreiheit, dass die Abschaltung des Internets während des COVID-19-Ausbruchs nicht zu rechtfertigen sei.
Am 27. März drängte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte alle Regierungen, jegliche Abschaltungen des Internets und der Telekommunikation zu beenden. „Inmitten der COVID-19-Krise müssen faktenbasierte und relevante Informationen über die Krankheit, ihre Verbreitung und die Reaktion darauf ausnahmslos alle Menschen erreichen“, so eine entsprechende Erklärung.
Nach internationalem Recht sind Regierungen verpflichtet, sicherzustellen, dass alle Beschränkungen von Online-Informationen gesetzlich legitimiert sind, eine notwendige und angemessene Reaktion auf eine bestimmte Bedrohung darstellen und im Interesse der Öffentlichkeit liegen.
Niemals sollen breit angelegte, willkürliche Abschaltungen eingesetzt werden, um den Informationsfluss zu stoppen oder die Möglichkeit der Menschen zur politischen Meinungsäußerung zu beeinträchtigen. Während einer Gesundheitskrise kann ein solches Vorgehen Leben kosten, so Human Rights Watch.
Regierungen ordnen zwar die Abschaltung des Internets zwar an, aber die Internetanbieter sind für die Umsetzung verantwortlich. Die Internetanbieter sollen alles tun, um ungerechtfertigte Internet-Shutdowns zu verhindern, indem sie unter anderem eine Rechtsgrundlage für jede Abschaltungsanordnung fordern und Anträge so interpretieren, dass sie die am wenigsten einschneidenden Einschränkungen verursachen. Sie sollen ihrer Verantwortung gemäß den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte Vorrang einräumen und eine Mitschuld an Menschenrechtsverletzungen, insbesondere während der COVID-19-Pandemie, vermeiden.
Die Anbieter sollen die Kunden im Voraus über Abschaltungen informieren und die Rolle der Regierung und die rechtliche Grundlage für die Einschränkung von Netzwerken und Diensten darlegen.
Menschenrechtsorganisationen können sich der von Access Now koordinierten #KeepItOn-Kampagne anschließen. Sie können sich an Dokumentation, Aufklärung, Engagement der politischen Entscheidungsträger, technischer Unterstützung und rechtlichen Interventionen gegen die Abschaltungen des Internets beteiligen.
„Während einer globalen Pandemie, in der Menschen auf der ganzen Welt isoliert sind und der Zugang zu Informationen über Leben oder Tod entscheiden kann, soll endlich ein Moratorium für die Abschaltung des Internets verhängt werden“, sagte Brown. „Die Regierungen sollen den sofortigen Zugang zu einem möglichst schnellen und offenem Internet für alle sicherstellen.”
Bekleidungsmarken lassen Arbeiter in Asien während Pandemie im Stich
Arbeiterinnen einer Textilfabrik mit Schutzmasken am Ende ihrer Schicht, nahe Phnom Penh, Kambodscha, 20. März 2020.
(c) 2020 AP Photo/Heng Sinith (London) – Die Geschäftspraktiken von Bekleidungsmarken in der Corona-Krise verschärfen die Not von Millionen Textilarbeiterinnen und -arbeitern in Asien, so Human Rights Watch. Zahlreiche Markenanbieter und Einzelhändler haben Bestellungen storniert, ohne Verantwortung für ihre finanziellen Verpflichtungen zu übernehmen, selbst wenn die Produkte bereits fertiggestellt waren.Dies verstärkt den Verlust von Arbeitsplätzen durch Kündigungen und vorläufige Entlassungen und widerspricht den Verpflichtungen der Unternehmen im Rahmen der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sowie dem OECD-Leitfaden zu verantwortlichen Lieferketten im Bekleidungs- und Schuhsektor. Viele Hersteller in Asien haben Liquiditätsengpässe und können aufgrund des Verhaltens der Markenanbieter die Löhne ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter sowie andere Kosten nicht bezahlen.
„Dies sind sehr schwierige Zeiten. Doch auch wenn Bekleidungsmarken harte geschäftliche Entscheidungen treffen müssen, um die COVID-19-Krise zu überstehen, sollten sie die Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Markenprodukte fertigen, nicht im Stich lassen“, so Aruna Kashyap, Senior Counsel in der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch. „Die Markenhersteller sollten Maßnahmen ergreifen, um den verheerenden wirtschaftlichen Folgen für die Beschäftigten in ihren globalen Lieferketten und ihre Familien Einhalt zu bieten.“
Human Rights Watch befragte elf Hersteller und Branchenexperten, darunter auch Vertreter der Markenanbieter, zu den Folgen der COVID-19-Krise für die Fertigungsbetriebe in Bangladesch, Myanmar, Kambodscha und anderen asiatischen Staaten. Zudem wurden Emails der Markenanbieter an ihre weltweiten Zulieferer ausgewertet und Organisationen zum Schutz von Arbeitnehmerrechten interviewt.
Die COVID-19-Pandemie hat den Absatz der Markenanbieter und Einzelhändler im Bekleidungssektor einbrechen lassen. Viele von ihnen ließen Filialen schließen, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen. Bei ihrem Krisenmanagement nutzen die Anbieter häufig unfaire Praktiken im Einkauf, welche Human Rights Watch bereits im April 2019 in dem Bericht „Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly“ angeprangert hatte.
Im März 2020 erklärten Fertigungsbetriebe aus verschiedenen Ländern gegenüber Human Rights Watch, dass nur die wenigsten Markenanbieter sich im Rahmen ihrer Bestellungen auch an den geschäftlichen Risiken beteiligten. Der ehemalige Leiter einer Textilfabrik in Kambodscha sagte, seiner Erfahrung nach diktierten die Markenanbieter sämtliche Zahlungsbedingungen und ließen keinerlei Verhandlungsspielraum. Große Marken und Einzelhändler bezahlten nicht im Voraus und verfügten nach Lieferung der Ware über ausgedehnte Zahlungsfristen.
Im Gegensatz dazu seien mit den kleinen und mittelständischen Anbietern, mit denen die Fabrik zusammengearbeitet habe, bessere Bedingungen ausgehandelt worden. Diese hätten bis zu 30 Prozent des Bestellpreises zum Zeitpunkt des Einkaufs der Rohmaterialien bezahlt, den Rest innerhalb von sieben bis zehn Tagen nach Lieferung bzw. Fertigstellung.
Vorauszahlungen und verkürzte Zahlungsfristen ermöglichen den Herstellern einen besseren Cashflow, so dass sie Löhne pünktlich zahlen können. Die überwiegende Mehrheit der Markenanbieter und Einzelhändler bietet derartige Zahlungsbedingungen jedoch nicht an. In dem Ende 2018 erschienenen Bericht Better Buying Purchasing Practices Index Report gaben 73 Prozent der befragten Zulieferbetriebe an, die Markenanbieter und Einzelhändler, mit denen sie Geschäfte trieben, böten keine Vorkasse oder günstige Zahlungsbedingungen an.
Während der COVID-19-Krise forderten globale Markenanbieter und Einzelhändler ihre Zulieferer auf, „flexibel“ und „verständnisvoll“ zu sein. Sie stellten folgende Forderungen:
- Stornierung von Bestellungen für Ware, welche die Arbeiterinnen und Arbeiter bereits hergestellt hatten;
- Stornierung von Bestellungen für Ware, die sich bereits in der Fertigung befand;
- Preisnachlässe auf Produkte, die bereits geliefert wurden, rückwirkend bis Januar;
- keine Übernahme finanzieller Verantwortung oder Festlegung, wann Zahlungen erfolgen, selbst in Fällen, in denen Bestellungen bereits erfolgt oder in Bearbeitung waren.
Am 27. März veröffentlichten das Zentrum für Globale Arbeiterrechte (Center for Global Workers’ Rights) und das Konsortium für Arbeiterrechte (Worker Rights Consortium) eine Studie über die Folgen der COVID-19-Krise in Bangladesch, für die 316 Fertigungsbetriebe befragt wurden. Diese gaben an, dass Markenanbieter und Einzelhändler sich in über 95 Prozent der Fälle weigerten, Kurzarbeitslöhne für beurlaubte Angestellte oder Abfindungen für entlassene Mitarbeiter mitzutragen.
Gemäß der UN-Leitprinzipien und des OECD-Leifadens für den Bekleidungssektor tragen Markenanbieter eine Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte. Sie sollten Risiken, welche Menschenrechtsprobleme innerhalb ihrer Lieferketten begünstigen oder hervorrufen könnten, erkennen und mindern. Dazu sollten sie tatsächliche und mögliche Auswirkungen auf die Menschenrechte abschätzen, Erkenntnisse in ihr Handeln integrieren, Gegenmaßnahmen nachverfolgen, offenlegen, wie sie gegen Missstände vorgehen, und gemeinsam mit externen Partnern dafür sorgen, dass ihre Maßnahmen zum Schutz der Menschenrecht nachweislich wirksam sind.
Bislang haben die H&M-Gruppe, Inditex (Zara und andere Marken) sowie Target USA Schritte in die richtige Richtung unternommen. Sie und wahrscheinlich auch andere Unternehmen haben sich verpflichtet, bereits fertiggestellte oder in Produktion befindliche Ware abzunehmen und vereinbarungsgemäß zu bezahlen.
Andere Markenanbieter sollten ähnliche Maßnahmen einleiten, um eine faire Behandlung ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter zu gewährleisten, einschließlich der Ausbezahlung von Löhnen und anderen Vergütungen sowie der Minimierung von Stellenstreichungen. Knapp 200 institutionelle Investoren wandten sich in einem Appell an Unternehmen und forderten sie auf, Lieferantenverhältnisse im größtmöglichen Umfang aufrecht zu erhalten und Zulieferer schnell zu bezahlen.
Einige globale Textilmarken haben ihre Lieferketten auf die Produktion von Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den medizinischen Gebrauch umgestellt. Die Unternehmen und die relevanten Regierungen sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter, die diese lebenswichtigen medizinischen Versorgungsgüter herstellen, unterstützen. Sie sollten angemessene Schutzausrüstung erhalten und entsprechend der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz geschützt werden.
Die Herstellung von Schutzausrüstung wird jedoch als alternative Beschäftigung nicht ausreichen. In Bangladesch wurden laut Schätzungen bereits eine Million Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen oder in unbezahlten Urlaub geschickt. Der Großteil hat keinen Lohn oder andere Zahlungen nach örtlichem Recht erhalten. In Myanmar haben bislang 20.000 Arbeitnehmer ihren Job verloren und ein Branchenexperte schätzt, das binnen einer Woche bis zu 70.000 Textilarbeiterinnen und -arbeiter arbeitslos werden könnten. In Kambodscha rechnet eine Schätzung mit 200.000 Stellenstreichungen im Textilsektor.
Die Regierungen dieser Länder verfügen nicht über die finanziellen Möglichkeiten, um ähnliche Hilfspakete wie die Staaten des globalen Westens auf den Weg zu bringen. Internationale Geber und Finanzinstitutionen sollten sich deshalb auf die Entwicklung und Umsetzung von Plänen konzentrieren, welche die wirtschaftliche und soziale Not der Arbeiter unmittelbar lindern. Zudem sollten sie längerfristige Maßnahmen in Gang bringen, um die soziale Absicherung von Arbeitnehmern zu verbessern.
„Globale Bekleidungsmarken, internationale Geber und Finanzinstitutionen sollten ihre Kräfte mit den Organisationen zum Schutz der Arbeiterrechte bündeln und dafür sorgen, dass einkommensschwache Arbeitnehmer während der COVID-19-Krise Unterstützung erhalten“, so Kashyap. „Doch wir brauchen auch langfristige Maßnahmen: Die Pandemie hat gezeigt, dass es höchste Zeit ist für eine bessere soziale Absicherung der Textilarbeiterinnen und -arbeiter sowie für verpflichtende Regeln gegen die unfairen Geschäftspraktiken der Markenanbieter in ihren Lieferketten.“
Coronavirus gefährdet Millionen Beschäftigte in globalen Lieferketten
Eine Arbeiterin in einer Textilfabrik in Eldorado Park, Johannesburg, stellt Gesichtsmasken her, Dienstag, 24. März 2020
© 2020 AP Photo/Shiraaz MohamedDie Arbeit von etwa 450 Millionen Menschen ist abhängig von globalen Lieferketten. Vielen wird jetzt wegen der Corona-Pandemie der Lohn gekürzt oder sie verlieren ihren Job.
Weltweit schlieβen Unternehmen ihre Läden, stornieren Aufträge oder stoppen die Produktion ganz. Die Textilindustrie ist davon besonders betroffen. Doch auch andere Sektoren, wie der Bergbau, die Schmuck- oder die Autoindustrie, müssen sparen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den Lieferketten dieser Unternehmen arbeiten, leiden am meisten unter der Krise.
COVID-19 hat allen unmissverständlich klar gemacht: Unternehmen sind durch ein globales Netz von Lieferketten miteinander verbunden. Das Verhalten von groβen Firmen hat enorme Auswirkungen auf diejenigen, die am Ende der Lieferketten stehen.
Wie sollen also Unternehmen jetzt handeln, wenn sie ihrer Verantwortung gerecht werden wollen?
Einige Firmen, die jetzt vorübergehend geschlossen haben, zahlen Arbeiter und Arbeiterinnen in den Lieferketten weiter. So haben sich Zulieferfirmen und die Gewerkschaft der Textilarbeiterinnen und -arbeiter in Südafrika darauf geeinigt, dass volle Lohnzahlungen sechs Wochen lang während des Lockdowns weiterlaufen. Im Gegensatz dazu haben Zulieferer in Myanmar, Kambodscha und Bangladesch die Fabriken geschlossen, ohne auch nur die bereits abgeschlossene Arbeit zu entlohnen. Die gobalen Marken, die sich aus diesen Ländern beliefern lassen, sollten ihre Aufträge, die bereits ausgeführt sind oder noch abgeschlossen werden, jetzt auch bezahlen. Einige Unternehmen, wie H&M, haben dies bereits zugesichert. Doch viele andere lassen die Zulieferer einfach in der Luft hängen.
Dort wo Fabriken noch geöffnet sind, muss die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter geschützt werden, indem Schutzkleidung verteilt wird, auf ausreichend Abstand geachtet wird und flexible Arbeitsvereinbarungen getroffen werden. Auch muss es in den globalen Lieferketten möglich sein, schnell bezahlten Urlaub nehmen zu können, wenn man selbst krank wird oder für Angehörige sorgen muss.
Viele Unternehmen stellt die Corona-Krise vor eine enorme Herausforderung. Doch sie dürfen deshalb nicht ihre Arbeiterinnen und Arbeiter in den Lieferketten im Stich lassen. Firmen sollen alles für deren Sicherheit tun und dafür, dass den Arbeiterinnen und Arbeitern weiter ihr Lohn gezahlt wird. Nur so können ihre Familien überleben. Insgesamt ist jetzt eine gute Zeit, um die Lieferketten genauer unter die Lupe zu nehmen. Arbeiterinnen und Arbeiter sollen gemäβ internationaler Standards geschützt sein und dieser Schutz soll bereits in den Preisen, die Unternehmen ihren Zulieferern bezahlen, berücksichtigt sein.
Konzerne in die Verantwortung nehmen: Neue Impulse für Menschenrechtsverpflichtungen von Unternehmen
Im Neuen Jahr sollten Sie besonders auf eine wichtige Entwicklung achten: In immer mehr Ländern könnte es nationale Gesetze geben, die die Verantwortung von Unternehmen gegenüber Arbeitern, Gemeinden und der Umwelt einfordern.
Millionen Erwachsene und Kinder auf der ganzen Welt werden als Arbeiter Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Sie beschaffen die Rohstoffe, schuften auf den Bauernhöfen und stellen Produkte für den globalen Markt her. Sie sind das letzte Glied in der globalen Lieferketten für sämtliche Produkte, angefangen bei alltäglichen Gütern wie Gemüse und Meeresfrüchten bis hin zu Luxusartikeln wie Schmuck und Designerkleidung, die weltweit in den Verkaufsregalen landen.
„Ruth“, 13 Jahre alt, ist eine von ihnen. Wir trafen sie während unserer Recherchen auf den Philippinen bei der Goldverarbeitung in der Nähe einer Mine. Dort mischte sie mit bloßen Händen giftiges Quecksilber in zermahlenes Golderz. Sie erzählte uns, dass sie seit ihrem 9. Lebensjahr arbeitet. Die Schule hatte sie vorher abgebrochen. Häufig bekommt sie kein Geld von dem Mann, der ihr die Säcke mit Golderz zur Verarbeitung gibt.
Es ist ein gefährliches Leben auf der untersten Stufe dieser globalen Leiter. Im Jahr 2013 starben über 1.100 Arbeiterinnen und Arbeiter und 2.000 wurden verletzt, als das Rana Plaza Fabrikgebäude in Dhaka, Bangladesch zusammenbrach. In dem Gebäude waren fünf Textilfabriken untergebracht. Seitdem gab es einige Fortschritte bei der Sicherheit in den Fabriken in Bangladesch, nachhaltige Reformen gab es jedoch weder dort noch in anderen Ländern. Um mit den Erwartungen der Verbraucher Schritt zu halten, müssen Frauen weiterhin eine ganze Reihe von Arbeiterrechtsverletzungen in Bangladesch und anderen Ländern ertragen. Im Januar 2019 brach der Tailings-Staudamm von Brumadinho in Brasilien. Mindestens 250 Menschen – die meisten davon Arbeiter – kamen hierbei ums Leben und eine Welle von Giftschlamm wurde losgetreten. Der Damm hatte Abfälle aus einem Bergwerk gesammelt, in dem Eisenerz gefördert wird. Dieses wird weltweit im Bauwesen, im Maschinenbau, in der Automobilindustrie und in anderen Industriezweigen verwendet.
Multinationale Unternehmen, einige der reichsten und mächtigsten Akteure der Welt - 69 der 100 reichsten Akteure der Welt sind Unternehmen und keine Länder - haben sich häufig ihrer Verantwortung entzogen, wenn Arbeiter, umliegende Gemeinden oder die Umwelt durch sie zu Schaden gekommen sind. Regierungen wiederum, die in Verbindung mit mächtigen Unternehmen stehen, haben oftmals die Aktivitäten von Unternehmen nicht angemessen reguliert. Oder sie haben bestehende Schutzmaßnahmen für Arbeiter, Verbraucher und die Umwelt nicht durchgesetzt oder sogar abgeschafft.
Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind freiwillige Richtlinien für die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Unternehmen. Diese Richtlinien sind jedoch nicht rechtlich durchsetzbar. Von der Industrie vorangetriebene freiwillige Standards und Zertifizierungssysteme, die in den letzten Jahren zugenommen haben, können nützlich sein, reichen aber nicht aus: Viele Unternehmen werden nur dann handeln, wenn sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. Diese Standards decken zudem wichtige Menschenrechts- und Umweltfragen in den Lieferketten der Unternehmen nicht ab, und die Systeme zur Überwachung der Einhaltung der Standards können nicht alle Probleme identifizieren und beheben. Sowohl das Rana Plaza Fabrikgebäude als auch der Staudamm von Brumadinho waren nur wenige Monate vor der jeweiligen Katastrophe von Wirtschaftsprüfern im Auftrag der Unternehmen inspiziert worden.
Die Ära, in der freiwillige Initiativen die einzige Möglichkeit waren, Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte zu bewegen, weicht nun langsam der Erkenntnis, dass neue, rechtlich durchsetzbare Gesetze notwendig sind. Obwohl die Debatten je nach Land unterschiedlich geführt werden, ist die allgemeine Tendenz vielversprechend für die Arbeiter und Gemeinden, die Teil der Lieferketten multinationaler Unternehmen sind. Die Gesetzgeber erkennen zunehmend an, dass Unternehmen die Menschenrechte - einschließlich der Freiheit von unsicheren Arbeitsbedingungen, Zwangsarbeit und Lohndiebstahl - respektieren müssen, und schaffen entsprechende Gesetze, die sie dazu verpflichten.
In den letzten Jahren haben Frankreich, die Niederlande, Australien und Großbritannien Gesetze gegen Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen verabschiedet. Einige der bestehenden Gesetze sind jedoch zahnlose Tiger. Australien und Großbritannien beispielsweise verlangen von den Unternehmen lediglich, ihre Lieferketten transparent zu gestalten und alle Maßnahmen zu melden, die sie zur Bekämpfung von Problemen wie Zwangs- oder Kinderarbeit ergreifen. Die Unternehmen sind jedoch nicht dazu verpflichtet, diesen Problemen vorzubeugen oder sie zu beheben. Darüber hinaus sind keine Strafen für Unternehmen vorgesehen, die sich nicht an das Gesetz halten.
Das französische Gesetz von 2017 ist die derzeit umfassendste und strengste Regelung. Sie verpflichtet Unternehmen dazu, die negativen Auswirkungen ihrer Lieferketten sowohl auf die Menschenrechte als auch auf die Umwelt zu identifizieren und zu vermeiden. Das Gesetz gilt auch für die Unternehmen, die von der Regierung kontrolliert werden und mit denen die Regierung zusammenarbeitet. Unternehmen in Frankreich haben 2018 die ersten „Sorgfaltspläne“ nach diesem Gesetz veröffentlicht. Die Nichteinhaltung kann rechtliche Schritte nach sich ziehen. Die erste Klage nach dem Gesetz zur Sorgfaltspflicht wurde im Oktober 2019 eingereicht. Gesetze wie das in Frankreich, das Handlungsaufforderungen an Unternehmen beinhaltet ebenso wie Konsequenzen, wenn diesen Aufforderungen nicht nachgekommen wird, und die Möglichkeit für Arbeitnehmer, Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, öffnen die Tür für einen stärkeren Schutz von Arbeitern auf der ganzen Welt.
Das Jahr 2020 verspricht weitere Fortschritte für mehr Menschen. Die Parlamente in Deutschland, der Schweiz, Dänemark, Kanada, Norwegen, Finnland und Österreich erwägen Gesetze, die den Umgang von Unternehmen mit den Menschenrechten bei ihren weltweiten Aktivitäten verändern würden. Sie gehen über reine Transparenz und Berichterstattung hinaus und verlangen, dass Menschenrechtsrisiken in den Lieferketten von Unternehmen identifiziert und Maßnahmen zu ihrer Vermeidung ergriffen werden.
In einer damit verbundenen Entwicklung prüft die Internationale Arbeitsorganisation, ob ein neues, verbindliches globales Übereinkommen über „menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“ erforderlich ist. Um diese Frage zu klären, wird die Organisation im Jahr 2020 ein Treffen mit Regierungs-, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern abhalten.
Durch eine strengere Regulierung von Lieferketten werden die Staaten eine neue internationale Erwartungshaltung für ein verantwortungsbewusstes Verhalten der Unternehmen schaffen. Zudem werden dadurch die Menschenrechte von Millionen von Arbeitern, wie für Ruth, besser geschützt, die in den Minen, Fabriken und auf den Feldern ums Überleben kämpfen.
Komala Ramachandra
Komala Ramachandra is a Senior Researcher in the Business and Human Rights Division of Human Rights Watch. Her current research focuses on inequality and predatory corporate practices that affect the poor. Before joining Human Rights Watch, Komala was a staff attorney and later the South Asia Director at Accountability Counsel, where she supported communities to defend their human rights and natural resources. She worked on cases in Peru, Mexico, India, and Nepal, holding international companies and banks accountable for harm they had caused. She has been engaged in policy advocacy around the world, seeking to ensure that national laws and institutional policies support transparency, accountability, and access to remedy. Prior to this, Komala lived and worked with mining affected communities in Oaxaca, Mexico, and with agricultural workers in Telangana, India. She has a BA in economics and political science from Northwestern University and a JD from Harvard Law School.
Größere Transparenz in der Bekleidungsbranche
Dezember 18, 2019 Video Surge in Garment Industry Transparency
Laws Needed to Ensure Companies Adopt Human Rights Practices
(New York) – Textilunternehmen, Schuhhersteller und deren Händler haben in den vergangenen drei Jahren große Schritte hin zur Offenlegung von Informationen über ihre Lieferketten ergriffen, so ein heute veröffentlichter Bericht eines Bündnisses von Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen und Arbeitsrechtsinitiativen. Mit seinem „Transparency Pledge“ hatte das Bündnis Mindeststandards für die Transparenz in Lieferketten definiert. Dadurch soll es Initiativen für den Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten, Beschäftigten und Konsumenten möglich sein, herauszufinden, wo die Produkte einer Marke hergestellt werden.Dem 15-seitigen Bericht „Fashion’s Next Trend: Accelerating Supply Chain Transparency in the Garment and Footwear Industry“ zufolge sind zahlreiche Marken und Einzelhändler dazu übergegangen, Informationen über ihre Zulieferbetriebe öffentlich zu machen. Das zeugt von einer gestiegenen Akzeptanz dieser Maßnahme, die es erleichtern soll, widrige Arbeitsrechtspraktiken in den Lieferketten der Bekleidungsindustrie zu erkennen und dagegen vorzugehen.
„Transparenz ist kein Allheilmittel gegen die Verletzung von Arbeitsrechten. Doch es ist ein essenzieller Schritt für Unternehmen, die ihren Geschäftsbetrieb als ethisch und nachhaltig begreifen“, so Aruna Kashyap, leitende Mitarbeiterin in der Frauenrechtsabteilung bei Human Rights Watch. „Alle Marken sollten für Transparenz in ihren Lieferketten sorgen. Letzten Endes bedarf es jedoch entsprechender Gesetze, die die Einhaltung von Transparenz verpflichtend machen und sicherstellen, dass die Menschenreche geachtet werden.“
Bislang haben 39 Unternehmen ihre Praktiken am „Transparency Pledge“-Standard ausgerichtet oder sich verpflichtet, dies zu tun. 22 von ihnen gehören zu jenen 72 Unternehmen, die das Bündnis im Jahr 2016 ansprach. Von den 74 Unternehmen, die das Bündnis insgesamt kontaktierte, haben 31 die Standards nicht eingehalten, weitere 21 weigerten sich, solche Informationen zu veröffentlichen
Dezember 18, 2019 Report Fashion’s Next Trend
Accelerating Supply Chain Transparency in the Apparel and Footwear Industry
Transparenz bei Auswahl und Praktiken der Zulieferer stellt ein mächtiges Werkzeug dar, um die Rechenschaftspflicht von Unternehmen im Bereich der Arbeitsrechte in der Bekleidungsindustrie zu erhöhen. Sie belegt, dass Unternehmen wissen, woher ihre Produkte stammen, und ermöglicht es Initiativen für den Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten, das Unternehmen zu verständigen, sollte es in Zulieferbetrieben zu Missbrauch kommen. Mithilfe von Informationen zu den Zulieferbetrieben einer Marke können die Beschäftigten im Fall von Menschenrechtsverletzungen besser gegen beteiligte Unternehmen vorgehen.
Dem Bündnis zufolge sind die Maßnahmen der Industrie, die auf Freiwilligkeit beruhen, bislang unzureichend. Effektiver wäre daher die Verabschiedung von Gesetzen in den einzelnen Ländern, mit denen Unternehmen verpflichtet wären, die Menschenrechtssituation in ihren Lieferketten sorgfältig zu prüfen und wenigstens zu veröffentlichen, in welchen Fabriken sie produzieren.
Seit Mitte 2018 ist das Bündnis auch mit sieben Initiativen für verantwortungsvollen Geschäftsbetrieb (Responsible Business Initiatives, RBIs) im Gespräch – Zusammenschlüsse von Unternehmen und anderen Organisationen, die ethische Geschäftspraktiken ihrer Mitglieder und Transparenz in den Lieferketten fördern wollen.
Tell clothing brands to support workers by signing the Transparency Pledge
Take Action! Die an RBIs beteiligten Unternehmen weisen der Koalition zufolge jedoch ein gänzlich unterschiedliches Maß an Transparenz auf. Indem sie nicht konsequent all ihre Mitglieder zur Offenlegung ihrer Zulieferbetriebe verpflichten, zementieren diese Initiativen den Status Quo in der Branche. Das Bündnis rief die RBIs daher dazu auf, eine Führungsrolle zu übernehmen, indem sie es im Einklang mit dem „Transparency Pledge“-Standard zur Bedingung einer Mitgliedschaft machen, spätestens ab Januar 2020 Informationen zu ihren Lieferketten zu veröffentlichen.„Initiativen für einen verantwortungsvollen Geschäftsbetrieb sollten sich nicht länger hinter den Ausflüchten von Unternehmen verstecken, die ihre Lieferketten nicht transparent machen wollen“, sagte Christie Miedema, Kampagnenkoordinatorin der Kampagne für Saubere Kleidung. „Stattdessen sollten sie dem Beispiel der Vorreiter unter ihren Mitgliedern folgen und Transparenz zur Bedingung für eine Mitgliedschaft machen und damit Beschäftigten und Aktivisten Zugang zu jenen Informationen geben, durch die sie wirkungsvoll gegen die Verletzung von Arbeitsrechten vorgehen können.“
Die in den USA ansässige RBI Fair Labor Association hat bedeutende Maßnahmen hin zur Transparenz in den Lieferketten ihrer Mitglieder ergriffen. Im November gab sie bekannt, dass alle betroffenen Marken und Einzelhändler als Vorbedingung für eine Mitgliedschaft im Einklang mit den „Transparency Pledge“-Standard bis zum 31. März 2022 Informationen zu ihren Lieferketten veröffentlichen und diese Daten in zugänglichen offenen Datenformaten bereitstellen müssen. Die Fair Labor Association schätzt, dass von diese neuen Bestimmung mehr als 50 Marken und Einzelhändler betroffen sein werden, die bei Nichtbefolgung ab April 2022 auch einer gesonderten Prüfung durch den Vorstand unterliegen können.
Die niederländische Initiative Agreement on Sustainable Garments and Textiles (AGT) hat ihre Mitglieder zwar nicht zur Transparenz in ihren Lieferketten verpflichtet, verlangt von diesen jedoch, dass sie das AGT-Sekretariat über ihre Zulieferbetriebe informieren. Diese Daten werden dann in zusammengefasster Form über die Open Apparel Registry (OAR) der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die OAR ist eine leicht zugängliche und durchsuchbare Datenbank zu Produktionsstätten und ihren Verbindungen zu Marken und RBIs.
Die britische Ethical Trading Initiative und die niederländische Fair Wear Foundation haben einzelne Schritte für eine Verbesserung der Transparenz in den Lieferketten ihrer Mitglieder ergriffen. Die Sustainable Apparel Coalition, amfori sowie das deutsche Bündnis für nachhaltige Textilien hingegen haben keinerlei Schritte dabei unternommen, Transparenz in den Lieferketten zur Vorbedingung für eine Mitgliedschaft zu machen.
„Regierungen spielen eine wichtige Rolle bei der Verabschiedung von Gesetzen, die Unternehmen dazu verpflichten, ihrer Sorgfaltspflicht beim Thema Menschenrechte in ihren Lieferketten nachzukommen und transparent darzustellen, wo ihre Produkte hergestellt werden“, so Bob Jeffcott, politischer Analyst beim Maquila Solidarity Network. „Eine solche Gesetzgebung ist von zentraler Bedeutung dafür, einheitliche Wettbewerbsbedingungen unter Unternehmen zu gewährleisten und die Rechte der Menschen zu schützen, die in ihren Lieferketten beschäftigt sind.“
Informationen über die 74 Unternehmen, an die sich die Koalition seit 2016 gewandt hat, und andere Unternehmen, die entweder Informationen veröffentlicht oder neue Verpflichtungen eingegangen sind, finden Sie unter Annex II.
Gelegenheit jetzt nutzen
Arbeiterinnen in der Snowtex-Textilfabrik in Dhamrai, bei Dhaka, Bangladesh, 19. April 2018 © 2019 AP Photo/A.M. Ahad.
© 2019 AP Photo/A.M. AhadMenschenrechtsverletzungen in der Lieferkette können nur dann wirksam gestoppt werden, wenn die genaue Herkunft der Produkte bekannt ist. Eine Koalition von 64 NGOs und Gewerkschaften in Deutschland – darunter Human Rights Watch – hat heute eine Kampagne für ein Lieferkettengesetz gestartet. Die Bundesregierung soll bis 2020 einen Gesetzentwurf vorlegen, durch den deutsche Unternehmen zu Schutzmechanismen gegen Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten verpflichtet werden.
Am 11. September 2012 brach in der Textilfabrik von Ali Enterprises in Pakistan ein Feuer aus, bei dem 255 Arbeiterinnen und Arbeiter getötet sowie 57 verletzt wurden. In der Fabrik wurde Kleidung für KiK, einem bekannten deutschen Textildiscounter, produziert. Arbeitsrechtsorganisationen haben KiK dazu gebracht, Entschädigung für die Opfer der Brandkatastrophe zu zahlen. Doch die einzelnen Glieder seiner Lieferkette hat das Unternehmen immer noch nicht offengelegt. Ähnliche Tragödien in der globalen Lieferkette anderer deutscher Firmen, die zu Menschenrechtsverletzungen oder Umweltkatastrophen geführt haben, kommen immer wieder an die Öffentlichkeit.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um ein wirksames Gesetz einzufordern. Die Regierungskoalition hat sich bereits in ihrem Koalitionsvertrag dazu bekannt, ein Lieferkettengesetz in Betracht zu ziehen. Die nächsten Bundestagswahlen finden im September 2021 statt. Das bedeutet, dass ein entsprechender Entwurf möglichst bald vorgelegt werden muss. Durch die Kampagne sollen Abgeordnete für ein Gesetz gewonnen sowie die Öffentlichkeit mobilisiert werden, eine Petition an Angela Merkel zu unterzeichnen.
Kampagne für ein Lieferkettengesetz Lesen Sie hier mehrDies wird nicht einfach sein. CDU und SPD haben schon mit sich gerungen, als es darum ging, sich auf den Nationalen Aktionsplan zu einigen, um Menschenrechte in der Lieferkette von Unternehmen besser zu schützen und einen entsprechen Mechanismus zur Überprüfung zu implementieren. Ein Gesetz ist jetzt ganz wichtig, um deutsche Unternehmen zu verpflichten, die Lieferketten einer der größten Exportnation der Welt zu schützen.
Ein deutsches Gesetz hätte auch Signalwirkung für die Europäische Union. In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 übernimmt Deutschland die EU-Präsidentschaft. Dann ist die Bundesregierung in einer ausgezeichneten Lage, auch in Europa den Weg dafür zu ebnen, dass die Sorgfaltspflicht verbindlich wird. Dadurch würden Unternehmen in vielen weiteren Ländern dazu verpflichtet, die Menschenrechte täglich in ihren Geschäftspraktiken zu achten.
Deutschland: Bundeswirtschaftsministerium versucht, Unternehmensmonitoring zu schwächen
Bangladeshis work at Snowtex garment factory in Dhamrai, near Dhaka, Bangladesh, April 19, 2018.
© 2019 AP Photo/A.M. Ahad(Berlin) - Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie versucht, Maßnahmen zu schwächen, mittels derer geprüft werden soll, wie gut Unternehmen im Land potentielle Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten ermitteln und auf diese reagieren, so Human Rights Watch heute. Die Regierungskoalition sollte bei einem heute stattfindenden Staatsministertreffen standhaft bleiben und ein Monitoringsystem einführen, das deutsche Unternehmen zur Einhaltung hoher Standards bei der verantwortungsvollen Materialbeschaffung anhält. Die Unternehmen sollten sicherstellen, dass es - gemäß international anerkannter Normen - in keinem Schritt ihrer Lieferketten zu Menschenrechtsverletzungen kommt.
„Der Vorschlag des Wirtschaftsministeriums macht es den Firmen viel zu einfach, sich als Unternehmen einzustufen, die internationale Menschenrechtsstandards erfüllt, auch wenn dies nicht der Fall ist“, sagte Juliane Kippenberg, stellvertretende Leiterin der Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Es besteht die Gefahr, dass das Monitoringsystem als politisches Instrument missbraucht wird, um strengere staatliche Maßnahmen gegen Unternehmen zu vermeiden, allen voran die Verabschiedung eines dringend benötigten Gesetzes zu Lieferketten.“ Eine Lieferkette besteht aus allen Schritten, die für die Herstellung eines Produkts erforderlich sind, von der Beschaffung der Rohstoffe bis hin zu deren Transport, Verarbeitung und Verkauf.
Die Parteien der Großen Koalition haben sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass die Regierung gesetzlich tätig werden wird, wenn die freiwilligen Maßnahmen großer Firmen zum Schutz von Menschenrechten in ihren Lieferketten bis 2020 nicht ausreichen. Unternehmen müssten demnach die Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Menschenrechte ermitteln, mindern und öffentlich kommunizieren. Ob die Regierung einen Gesetzesvorschlag zu Lieferketten erarbeitet und einbringt, hängt daher zu einem großen Teil davon ab, wie gründlich das Monitoring der Unternehmen ausfällt. Das vorgeschlagene Monitoringsystem ist jedoch bereits durch Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerien gefährdet. Ein Fragebogen zur Selbstauskunft zum Thema sollte an Unternehmen verschickt werden, die ihren Sitz in Deutschland haben und mehr als 500 Menschen beschäftigen. Diese hätten dann zwischen Mai und Juli ihre Antworten einreichen sollen. Dieser Prozess ist jedoch ins Stocken geraten, und die Fragebögen sind noch nicht an die Firmen gegangen, da das Bundeswirtschaftsministerium mit der Umfragemethodik nicht einverstanden ist.
Das Ministerium schlägt ein Monitoringsystem vor, das es der Regierung ermöglichen würde, mehr Unternehmen als solche zu kategorisieren, welche die staatlichen Standards für menschenrechtliche Sorgfaltspflicht erfüllen. Gemäß dem Vorschlag soll es neben den beiden Kategorien „erfüllt“ und „nicht erfüllt“ auch die Kategorien „Unternehmen mit Umsetzungsplanung“ und „teilweise erfüllt“ („Unternehmen auf einem guten Wege“) geben.
Der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte von 2016 sieht ein „robustes“ Monitoringverfahren zur Beurteilung der Umsetzung durch Unternehmen vor, hinter dem der aktuelle Vorschlag des Wirtschaftsministeriums weit zurückbleibt.
Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gehen mehr als 450 Millionen Menschen Tätigkeiten nach, die mit einer Lieferkette zusammenhängen. Human Rights Watch hat Arbeitsrechtsverletzungen wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen, Angriffe auf Gewerkschafter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen in globalen Lieferketten dokumentiert.
So riskieren beispielsweise Kinderarbeiter und Erwachsene in Ghana, auf den Philippinen und in vielen anderen Ländern ihre Gesundheit und ihr Leben, wenn sie Gold in einsturzgefährdeten Gruben abbauen und Erz mit giftigem Quecksilber verarbeiten. Human Rights Watch hat zudem Verletzungen von Arbeiterrechten in den globalen Lieferketten von Bekleidungsunternehmen dokumentiert, darunter exzessive oder erzwungene Überstundenarbeit, Verweigerung von Pausen, Diskriminierung von Schwangeren und Angriffe auf Gewerkschafter.
Zwar hat sich eine Reihe deutscher Bekleidungsunternehmen dem Bündnis für nachhaltige Textilien angeschlossen, viele dieser Unternehmen kommen jedoch noch immer nicht ihren grundlegenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nach, wie beispielsweise der Pflicht zur Transparenz in ihren Lieferketten. Außerdem sollten Bekleidungsunternehmen ihre Einkaufspraktiken ändern und Beschwerdemechanismen zu Missständen in den globalen Zulieferfabriken einführen, um die Verletzungen von Arbeiterrechten in globalen Lieferketten zu mindern. Human Rights Watch hat zudem dokumentiert, dass deutsche Unternehmen wie der Juwelier Christ und die Bekleidungsmarke KiK keine ausreichenden Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte in ihren Lieferketten haben.
„Die Verzögerungstaktik des Wirtschaftsministeriums und die Vorschläge zur Umetikettierung von Firmen sind unwürdig“, sagte Kippenberg. „Die Regierung sollte zeigen, dass die Achtung der internationalen Menschenrechtsnormen im In- und Ausland und die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands einander nicht ausschließen, sondern dass die Unterstützung ethischer Geschäftspraktiken das Wirtschaftswachstum sogar fördern kann.“
Anti-Boykott-Maßnahmen sind falsches Mittel gegen Antisemitismus
Vor dem Büro des Gouverneurs des Bundestaats New York Andrew Cuomo finden Demonstrationen gegen ein Gesetz statt, das dem Bundestaat Investionen in Firmen verbietet, die den Boykott Israels unterstützen, New York City, 9. Juni 2016.
© 2016 Mark Apollo/Pacific Press/LightRocket via Getty ImagesDer Antisemitismus wird zu einer immer größeren Gefahr in Europa. Inmitten eines alarmierenden Anstiegs der Zahl gewalttätiger Angriffe auf Juden in Frankreich, darunter auch mehrere Morde, haben etliche Juden beschlossen, Frankreich in Richtung Israel zu verlassen. Jüdische Teenager in Deutschland, die genug von den Angriffen und Beschimpfungen haben, folgen diesem Beispiel. Ähnliche Entwicklungen sehen wir in Großbritannien, wo jeder dritte Jude sagt, er denke wegen des wachsenden Antisemitismus darüber nach auszuwandern.
Vielen Europäern mag der Judenhass der 30er und 40er Jahre eine Ewigkeit her erscheinen. Für Juden, vor allem in Deutschland, sind das Trauma und die kollektive Erinnerung jedoch nicht verblasst.
Regierungen wie auch in Deutschland sorgen sich zu Recht über den wie ein Krebsgeschwür wuchernden Antisemitismus. Aber der gemeinsame Antrag im Bundestag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen, der vor kurzem im Bundestag verabschiedet wurde und Boykotte Israels als antisemitisch darstellt, ist der falsche Weg, um Antisemitismus zu bekämpfen. Die Bundesregierung sollte ihn deshalb zurückweisen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass es Antisemiten gibt, die Begriffe „Israel“ oder „Zionist“ mittlerweile mit dem Begriff „Juden“ gleichsetzen. Das sollte offen angesprochen werden. Aber es ist genauso wahr, dass legitime Kritik an israelischen Staatshandlungen manchmal falsch als antisemitisch gedeutet wird.
Anti-Boykott-Maßnahmen, von den USA bis Israel, haben sich oft gegen Menschen gerichtet, die besorgt sind angesichts der Menschenrechtsverletzungen in illegalen Siedlungen im von Israel besetzten Westjordanland. 27 US-Bundesstaaten haben Gesetze oder Verordnungen verabschiedet, die Unternehmen, Organisationen oder Einzelpersonen bestrafen, wenn sie sich an Boykotten Israels beteiligen oder zu solchen aufrufen. Recherchen von Human Rights Watch haben ergeben, dass viele US-Bundesstaaten diese Gesetze anwenden, um Unternehmen zu bestrafen, die keine Geschäfte mit illegalen Siedlungen im Westjordanland machen wollen.
New York zum Beispiel hat eine Liste von elf Unternehmen veröffentlicht, in die der Bundesstaat gemäß einer Anordnung von Gouverneur Andrew Cuomo aus dem Jahr 2016 nicht investieren darf. Die Liste enthält auch Unternehmen, die lediglich die
Geschäftsbeziehungen zu den Siedlungen abgebrochen haben. So stellte etwa die britische Co-operative Group, die Lebensmittel verkauft, die Geschäfte mit Lieferanten ein, die bekanntermaßen Produkte aus Siedlungen beziehen. Gleichzeitig wurde jedoch bekannt gegeben, man sei weiterhin entschlossen, Produkte von israelischen Lieferanten abzunehmen und mit diesen zu handeln, wenn diese keine Waren aus den Siedlungen beziehen. Ein anderes Unternehmen, die luxemburgische Supermarktkette Cactus, setzte den Handel israelischer Produkte aus, bis die entsprechenden Lieferanten den Nachweis erbrachten, dass ihre Waren nicht aus den Siedlungen stammen. Gleichzeitig würden jedoch weiterhin andere
israelische Importe angeboten, so eine Mitteilung einer Aktivistengruppe nach Verhandlungen mit dem Unternehmen.
Human Rights Watch lehnt jegliche Form von Antisemitismus ab, ist nicht Teil der BDS-Bewegung und ergreift keine Partei bezüglich des Boykotts Israels. Unsere jahrelangen Recherchen haben jedoch gezeigt, dass es nicht möglich ist, in den Siedlungen Geschäfte zu machen, ohne zu Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht beizutragen oder von solchen zu profitieren. Unternehmen können ihren Verpflichtungen aus den UN-Leitsätzen für Wirtschaft und Menschenrechte nur nachkommen, wenn sie ihre Tätigkeit in den Siedlungen einstellen. Anti-Boykott-Gesetze bestrafen Unternehmen, die solche Maßnahmen im Einklang mit ihrer internationalen rechtlichen Verantwortung und der Position Deutschlands und der Europäischen Union zu den Siedlungen ergreifen.
Die israelische Regierung hat ihre eigene Anti-Boykott-Gesetzgebung. Vor einem Jahr nutzten die Behörden eine Änderung des Einreisegesetzes aus dem Jahr 2017, durch die die Einreise für diejenigen verboten wurde, die Boykotte gegen Israel fordern, um das Arbeitsvisum meines Kollegen von Human Rights Watch, Omar Shakir, zu widerrufen. Als wir den Abschiebungsbeschluss vor Gericht anfochten, verwies die Regierung auf seine Arbeit für unsere Recherchen über Unternehmensaktivitäten, wie etwa von Airbnb, in den Siedlungen. Zudem wies die israelische Regierung auf unsere Empfehlungen hin, wonach diese Unternehmen derartige Aktivitäten einstellen sollten, da dadurch die Rechte der Palästinenser verletzt würden. Im vergangenen Monat bestätigte ein israelisches Gericht den Abschiebungsbefehl und behauptete, dass unsere Recherchen zu Geschäften in den Siedlungen einen Aufruf zum Boykott Israels darstellen. Wir haben beim Obersten Gerichtshof Israels Berufung eingelegt.
Gemäß internationalen Menschenrechtsstandards hat jeder Mensch das Recht, seine Ansichten mit gewaltfreien Mitteln zum Ausdruck zu bringen, so abscheulich man diese auch finden mag. Zu diesen Mitteln gehört auch die Teilnahme an Boykotten. Die Behörden dürfen zwar die öffentliche Rede einschränken, jedoch nur unter sehr eng gefassten und strengen Bedingungen.
David Kaye, der UN-Sonderberichterstatter für Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, hat erklärt, dass „Boykott.... seit langem als legitime Form der Meinungsäußerung verstanden wird, die durch Artikel 19 Absatz 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) geschützt ist“. In einer Prüfung der Anti-Boykott-Gesetze in den USA kam Kaye zu dem Schluss, dass diese Gesetzgebung „eindeutig auf die Bekämpfung der politischen Meinungsäußerung abzielt“. Zudem erfüllten „wirtschaftliche Sanktionen, die darauf abzielen, einen bestimmten politischen Standpunkt zu unterdrücken“, nicht die Bedingungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, die für zulässige Einschränkungen der freien Meinungsäußerung gelten.
In Deutschland ruft der Begriff „Boykott“ Erinnerungen an den Boykott jüdischer Geschäfte in den 30er Jahren hervor. Dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mit dem Boykott Israels wegen dessen Menschenrechtsverletzungen gleichzusetzen, würde jedoch bedeuten, unsere Geschichte zu banalisieren. Aktivisten weltweit nutzen Boykotte, um Menschenrechtsverletzungen anzufechten und politischen Wandel voranzutreiben. Boykotte spielten eine Schlüsselrolle im Kampf der USA für die Rechte afroamerikanischer Bürger, ebenso wie in internationalen Kampagnen gegen die Apartheid in Südafrika und Gräueltaten in Darfur.
Anstatt die Anti-Boykott-Maßnahmen voranzutreiben, welche die freie Meinungsäußerung einschränken und auf diejenigen abzielen sollen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, sollten deutsche Behörden den wieder auflebenden Antisemitismus bekämpfen, indem sie Bedrohungen und Gewalt gegen Juden und andere Minderheiten untersuchen und bestrafen, intolerante Reden von Politikern der extremen Rechten verurteilen und die Menschen über die Gefahren von ungezügeltem Hass aufklären. Die Beamten könnten zum Beispiel auch damit beginnen, die antisemitischen Mobbingfälle an unseren Schulen anzugehen. Solche Maßnahmen wären sehr viel erfolgversprechender als die Einschränkung der freien Rede, die letztendlich nichts zur Bekämpfung des Hasses beitragen wird.
Geschäftspraktiken von Modemarken befeuern Menschenrechtsverletzungen
(London) – Bekleidungs- und Schuhmarken sollen Geschäftspraktiken beenden, die in Fabriken Verstöße gegen das Arbeitsrecht fördern, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 66-seitige Bericht „‘Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly’: How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses“ dokumentiert, mit welchen Praktiken Modemarken ihre Fabriken zu Kosteneinsparungen drängen, die sich auf die Arbeitnehmer negativ auswirken. Viele weltbekannte Marken schmücken sich damit, dass sie bei ihren Lieferanten für gute Arbeitsbedingungen sorgen wollen. Allerdings unterminieren sie diese Bemühungen, indem sie massiven Druck auf ihre Zulieferer ausüben, die Preise zu senken oder schneller zu produzieren. Viele Lieferanten reagieren auf diesem Druck, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, unter denen die Arbeitnehmer leiden. Ein Fabrikbesitzer fasst das Problem zusammen: „Die Marken bezahlen für ein Busticket und wollen aber damit fliegen“.
„Wenn Modemarken von ihren Zulieferern fordern, auf dem Rücken der Arbeiter Kosten zu sparen, dann sind sie immer nur einen Schritt von der nächsten Menschenrechtskatastrophe entfernt“, so Aruna Kashyap, Expertin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Markenunternehmen müssen ihre Geschäftspraktiken überwachen und anpassen, damit sie in den Fabriken nicht genau die Verstöße verursachen, die sie angeblich vermeiden wollen.”
April 23, 2019 Report “Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly”
How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses
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Am 24. April jährt sich die Rana Plaza-Tragödie in Bangladesch zum sechsten Mal. Im Jahr 2013 stürzte ein sechsgeschossiges Gebäude in einem Außenbezirk von Dhaka ein. Dabei starben 1.138 Arbeiter, mehr als 2.000 wurden verletzt. Die Katastrophe erinnert eindrücklich an die Gefahren, gegen welche Modemarken vorgehen müssen.
Modeunternehmen lassen ihre Waren in der Regel in zahlreichen Fabriken in mehreren Ländern produzieren. Entsprechend groß und komplex ist die Herausforderung, die Arbeitsbedingungen in allen Fabriken zu überwachen. Die Produktion jedes Markenprodukts basiert auf komplexen Kaufentscheidungen. Jede einzelne dieser Entscheidungen wirkt sich positiv oder negativ darauf aus, wie die Lieferanten ihre Arbeitnehmer behandeln.
Fabriken reagieren auf schlechte Geschäftspraktiken, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, die gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Beispielsweise beschäftigen sie unerlaubterweise Subunternehmer, in deren Einrichtungen es zu massiven Arbeitsrechtsverletzungen kommt. Andere Verstöße, die bei Kosteneinsparungen typischerweise in Kauf genommen werden, sind ausbleibende oder unvollständige Lohnzahlungen, Anweisungen, schneller und ohne angemessene Pausen zu arbeiten, sowie gefährliche oder ungesunde Arbeitsbedingungen.
Fawzia Khan, eine 24-jährige, unverheiratete Fabrikarbeiterin aus Pakistan, schildert den massiven Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, schneller zu arbeiten:
Ich hasse diese Gefängnisatmosphäre bei der Arbeit, das Verbot, zur Toilette zu gehen, das Verbot, aufzustehen, um etwas zu trinken, das Verbot, während der Arbeitszeit überhaupt aufzustehen… Die eine Stunde, die wir eigentlich täglich Pause haben, ist in der Praxis nur eine halbe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine ganz Stunde Pause machen konnte.
Für Modeunternehmen ist es oft schwierig, die Arbeitsbedingungen in ihren weltweiten Liefernetzwerken zu überwachen. Viele verschärfen dieses Problem, indem sie sich weigern, ihre Lieferanten bekannt zu geben. Durch diese Intransparenz ist es äußert schwierig, Arbeitsbedingungen zu prüfen und Verstöße zu identifizieren, die einem Modeunternehmen entgangen sind. Zudem beauftragen einige Modemarken Beschaffungsagenten, um Produktionsfabriken auszuwählen, und bestehen nicht auf Informationen über deren Standort, Arbeitsbedingungen und Preispraktiken.
Modemarken müssen ihre Waren heute schneller produzieren und verkaufen als je zuvor, um auf die sich rasch verändernde Nachfrage zu reagieren. Aber die Marken riskieren Arbeitsrechtsverletzungen, wenn sie die Herstellungszeit für ihre Produkte minimieren, ohne die Kapazitäten der Fabrik zu überprüfen oder den Arbeitern angemessen viel Zeit zu geben – auch unter Berücksichtigung nationaler Feiertage und wöchentlicher Ruhetage.
Die Gefahren für die Arbeitnehmer erhöhen sich deutlich, wenn Modemarken keine schriftlichen Verträge aufsetzen oder einseitige Verträge nutzen, die keine flexiblen Liefertermine und den Verzicht auf Geldstrafen vorsehen, wenn die Modemarken selbst zu Verzögerungen beitragen. Mit solchen einseitigen Verträgen versuchen die Marken, die Kosten für ihre eigenen Fehler vollständig auf die Fabriken abzuwälzen. In solchen Fällen setzen Fabriken verstärkt darauf, auf dem Rücken ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter Kosten einzusparen. Darüber hinaus nehmen Unternehmen, die ihre Lieferanten nicht rechtzeitig bezahlen, in Kauf, dass deren Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Lohn und weitere Bezüge zu spät erhalten. Zahlungsverzögerungen führen auch dazu, dass Fabrikbesitzer keine Kredite aufnehmen können, um in Brandschutz und Gebäudesicherheit zu investieren. Der britische Kodex für sofortige Bezahlung („Prompt Payment Code“), eine freiwillige Selbstverpflichtung, ist ein gutes Praxisbeispiel dafür, wie Unternehmen solchen Missständen begegnen können.
Der Bericht identifiziert die wichtigsten Maßnahmen, die Modemarken ergreifen sollen, um mangelhafte Beschaffungspraktiken zu korrigieren und das Risiko, dass es in ihrer Lieferkette zu Menschenrechtsverletzungen kommt, zu minimieren. Die Unternehmen sollen Kodizes für verantwortungsbewusste Beschaffung entwickeln, veröffentlichen und in allen Abteilungen umsetzen. Sie sollen Listen ihrer Lieferfabriken veröffentlichen, die im Einklang mit dem Transparency Pledge stehen, einem Mindeststandard, den ein Bündnis aus Arbeits- und Menschenrechtsorganisationen im Jahr 2016 entwickelt hat. Zudem sollen sie evaluieren, wann und unter welchen Bedingungen sie Beschaffungsagenturen beauftragen und gewährleisten, dass ihre Verträge mit Lieferanten schriftlich vorliegen und fair sind.
Darüber hinaus sollen sich Modeunternehmen an Umfragen wie Better Buying beteiligen, die es Lieferanten ermöglichen, die Beschaffungspraktiken von Marken zu bewerten, und über die Ergebnisse berichten. Zudem sollen sie Arbeitskosten ganzheitlich kalkulieren, indem sie auch die Kosten für die Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards einbeziehen. Dazu eignet sich beispielsweise die von der Fair Wear Foundation entwickelte Kalkulation. Empfohlen werden auch Initiativen, die eine Reform der Beschaffungspraktiken mit Branchentarifverträgen verbinden, etwa die ACT-Initiative ( „Action, Collaboration, Transformation“). Die Marken sollen öffentlich über die Zahl der Gewerkschaften und Tarifverträge bei ihren Lieferanten informieren, sowie über die Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Beschaffungspraktiken, die sich auf die Arbeit der Fabriken auswirken.
Regierungen sollen Gesetze verabschieden, die Unternehmen dazu verpflichten, die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht in ihren weltweiten Lieferketten einzuhalten. Diese Gesetze sollen auch Verfahren einführen, um Geschäftspraktiken zu überwachen und zu korrigieren.
„Die Konsumenten sollten nicht zulassen, dass Modemarken sich mit Maßnahmen und Verpflichtungen schmücken, die nur auf dem Papier existieren. Auch gibt es immer wieder Initiativen mit heeren Zielen, über deren Ergebnisse nicht berichtet wird“, so Kashyap. „Modeunternehmen müssen ihren Konsumenten, Investoren, Arbeitnehmern und Arbeitsrechtlern dringend zeigen, was sie tun. Nur so werden schlechte Beschaffungspraktiken beendet.“
Ausgewählte Zitate
„Beschaffungsteams und Käufer stehen unter dem ständigen Druck, ein besseren [niedrigeren] Preis [für die Fabrikproduktion] zu finden… Was überhaupt nicht stattfindet, ist, es aktiv miteinander in Verbindung zu bringen, dass sich Druck auf einen Punkt [den Preis] auf einen anderen Punkt [die Arbeitsbedingungen in der Fabrik] auswirkt. So sieht das Geschäftsmodell aus.“
– Branchenexperte mit mehr als 25 Jahren Erfahrung in der Beschaffung von Bekleidung, Schuhen und nichttextilen Produkten für unterschiedliche Marken, London, 15. Januar 2019.
„Es gibt keine Preisverhandlung. Sie haben einfach zu viele Optionen [andere Lieferanten]… Es ist, als würde man Eier für sie [die Marken] kaufen.“
– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.
„Es ist für mich billiger, den Arbeiterinnen und Arbeitern Überstunden zu geben und so das Lieferdatum für die Verschiffung zu halten, als wenn wir uns verspäten und ich die Flugkosten tragen muss.“
– Mitarbeiter einer Gruppe, die in China, Südostasien und Asien Textilfabriken betreibt und 17 bis 20 internationale Modemarken beliefert, der anonym bleiben wollte, Südostasien, April und Mai 2018.
„Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen wegen der Bestellungen manchmal Überstunden machen. Manchmal nehmen wir Bestellungen mit Lieferterminen an, bevor wir die Zusagen für den Stil, die Vorlagen etc. haben. In solchen Fällen entsteht oft starker Zeitdruck. Dann müssen wir tun, was wir können, um den Liefertermin einzuhalten. Einige Unternehmen [Fabriken] sind schlauer und rechnen aus, was mehr kostet – Überstunden oder Luftfracht.“
– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.
„Einer der Agenten legen pauschal 10 Rupien (0,13 €) pro Stück fest. Es ist egal, ob das ganze Kleidungsstück am Ende 50 oder 500 Rupien (0,64 oder 6,39 €) kostet.“
– Lieferant aus Indien, der anonym bleiben wollte, über die „Provisionen“, die Agenten von Lieferanten verlangen, September 2018.
„Wenn eine Marke [zur Fabrik] sagt, sie werde 150.000 Stück bestellen und es sich dann, wenn sie die Bestellung tatsächlich aufgibt, anders überlegt und 250.000 Stück will, dann müssen Überstunden angeordnet oder Subunternehmer beauftragt werden.“
– Beschaffungsexperte mit mehr als 30 Jahren Branchenerfahrung, der anonym bleiben wollte, USA, Oktober 2018 und Januar 2019.
Eine glänzende Gelegenheit für den Goldsektor
A boy and a girl work in a small gold mine in Amansie West district, Ghana.
© 2016 Juliane Kippenberg for Human Rights WatchIn den nächsten Wochen kommt auf den Ständerat eine große Entscheidung zu: Sollen Schweizer Unternehmen dazu verpflichtet werden, eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfungspflicht für ihr globales Handeln einzuführen?
Schweizer Geschäfte und Unternehmen beziehen ihre Rohstoffe und Produkte oft aus weit entfernten Ländern und gehen damit erhebliche Risiken für den Schutz der Menschenrechte ein. Ein Beispiel dafür ist die Lieferkette für Gold: regelmäßig werden Menschenrechtsverletzungen im Goldsektor aufgedeckt. Ein Bericht der Schweizer Regierung zum Thema hat kürzlich bestätigt, dass der Goldsektor erhebliche Risiken darstellt.
Während meinen Nachforschungen in Ghana, Mali, Tansania und den Philippinen habe ich mit eigenen Augen gesehen wie Kinder und Jugendliche in kleinen, informellen Minen unter gefährlichsten Bedingungen Gold schürfen. Sie arbeiten in oder nahe einsturzgefährdeten Schächten, graben unter Wasser in Flussbetten nach Gold-Erz und benutzen giftiges Quecksilber, um das Rohgold aus dem Erz zu gewinnen. Manche tragen gesundheitliche Schäden davon; einige sind sogar bei Minenunfällen gestorben. In Eritrea und Papua-Neuguinea hat Human Rights Watch dokumentiert, wie industrielle Goldminen Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit und Vergewaltigung tragen.
Damit Unternehmen nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen, sollten sie Sorgfaltsprüfungen durchführen—das heißt, Menschenrechtsrisiken in der Lieferkette prüfen und Maßnahmen ergreifen, um diesen Risiken entgegenzuwirken. Wir haben kürzlich die menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfungen von 13 großen Juwelieren untersucht, unter anderem Rolex, Chopard und Harry Winston, das der Schweizer Firma Swatch gehört. Es hat sich herausgestellt, dass die meisten Firmen nicht genug tun, um transparent zu sein, die Lieferkette vollständig zu kennen und Menschenrechtsrisiken zu erfassen. Rolex macht gar keine Informationen über seine Lieferkette öffentlich, und Harry Winston macht nur sehr wenig über seine Sorgfaltsprüfungen publik. Während Chopard sehr viel transparenter in Bezug auf seine Goldlieferkette, ist Chopards Diamantenlieferkette ebenfalls undurchsichtig.
Es gibt zahlreiche freiwillige Standards und Zertifizierungssystem, um Menschenrechte in Lieferketten besser zu schützen, insbesondere durch freiwillige Standards und Zertifizierungen. Aber die Umsetzung dieser Standards hängt komplett vom Willen einzelner Unternehmen ab. Dazu entsprechen Standards oft auch nicht den internationalen Normen für verantwortliche Lieferketten, wie sie die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und—für die Minerallieferkette—die Richtlinie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einfordern.
Ein Beispiel im Goldsektor ist der Verhaltenskodex des internationalen Juweliersverbands Responsible Jewellery Council. Dieser fällt hinter internationale Menschenrechtsstandards für Lieferketten zurück, und bei der Zertifizierung wird meist nicht die Lieferkette nachverfolgt—so können mögliche Menschenrechtsprobleme bei der Förderung oder Weiterverarbeitung von Gold nicht ausgeschlossen werden. Die OECD hat letztes Jahr eine detaillierte Studie veröffentlicht, die zeigt, wie die Standards des RJC und anderen Industrieverbänden der Minerallieferkette hinter der internationalen Richtlinie zurückbleiben und ausreichend in die Praxis umgesetzt werden.
Nun besteht für die Schweiz die Möglichkeit, Firmen aller Sektoren für ihr Handeln in die Verantwortung zu nehmen. Im Juni 2018 hat der Nationalrat beschlossen, dass Großunternehmen internationale, durch die Schweiz ratifizierte Menschenrechts- und Umweltverträge auch im Ausland respektieren sollen. Hierzu müssen Unternehmen eine Sorgfaltsprüfung im Bereich der Menschenrechte durchführen. In besonders schwerwiegenden Fällen können Konzerne auch für Tochterunternehmen haften. Der Beschluss erfolgte als Reaktion auf die Konzernverantwortungsinitiative der Zivilgesellschaft, in Form eines Gegenvorschlags. Darin wurden wichtige Elemente der Konzernverantwortungsinitiative aufgenommen. Er geht allerdings insbesondere in Fragen der Konzernhaftung weniger weit als die ursprünglichen Forderungen.
Im Februar wird nun die Rechtskommission des Ständerats über die Initiative und den Gegenvorschlag beraten. Die Kommission sollte diese außergewöhnliche Gelegenheit nutzen um ein wirksames Gesetz für verbindliche Regeln zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt durch Unternehmen im Einklang mit den einschlägigen internationalen Standards zu verabschieden.
Die Verabschiedung eines solchen Kompromiss-Gesetzes wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Andernfalls liegt es in der Hand der Stimmbevölkerung mittels der Konzernverantwortungsinitiative einen Wandel herbeizuführen. Solange Regierungen es den Unternehmen überlassen, freiwillig Schritte zu ergreifen, wird eine systematische Sorgfaltsprüfung der Unternehmen die Ausnahme bleiben.
EU: Datenschutzverordnung stärkt Privatsphäre
(Brüssel, 6. Juni 2018) – Die neue Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union stärkt die Privatsphäre und soll andere Länder dazu animieren, personenbezogene Daten besser zu schützen, so Human Rights Watch in einem „Fragen und Antworten“-Dokument. Darin werden die wichtigsten Themen der EU-Verordnung zusammengefasst und nächste Schritte diskutiert.
„Im digitalen Zeitalter generieren wir mit fast allem, was wir tun, Daten, aus denen sich intime Details über unser Leben, unsere Gedanken und Überzeugungen ablesen lassen“, so Cynthia Wong, Internetexpertin bei Human Rights Watch. „Die DSGVO ist alles andere als perfekt, aber sie stärkt die Privatsphäre in der EU und zeigt, dass starke Datenschutzmaßnahmen eingeführt werden können und gut für die Menschenrechte sind.“
Seit dem 25. Mai 2018 gelten die neuen Regeln in den 28 Mitgliedstaaten der EU. Die im Jahr 2016 verabschiedete Verordnung ist eine der weltweit stärksten und umfassendsten Versuche, die Sammlung und Nutzung personenbezogener Daten durch Regierungen und den Privatsektor zu regulieren. Wenn sie gründlich implementiert und durchgesetzt wird, kann sie das Recht auf Privatsphäre in der EU stärken und anderen Ländern wie den USA als Vorbild dienen, in denen der Schutz personenbezogener Daten vergleichsweise schwach ist.
Die Verordnung verpflichtet Regierungsbehörden und Unternehmen wie Facebook und Google, vor dem Sammeln von Daten die ausdrückliche und informierte Einwilligung der betroffenen Person einzuholen und zu erläutern, wie sie die Daten nutzen, teilen und speichern. Internetznutzer haben das Recht, bei Unternehmen und andere Organisationen zu erfragen, welche personenbezogenen Daten ihnen vorliegen, diese korrigieren zu lassen und eine weitere Nutzung der Daten zu untersagen. Darüber hinaus kann bei den nationalen Datenschutzbeauftragten Beschwerde wegen Datenmissbrauchs eingereicht werden, die die Beauftragten untersuchen und bei Verstößen mit Bußgeldern ahnden.
Staatliche und private Einrichtungen müssen Datenschutzverletzungen unverzüglich melden und Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre in ihre Systeme einbauen, was als „eingebauter Datenschutz“ oder „Privacy by Design“ bezeichnet wird. Zudem müssen sie den Nutzern ermöglichen, ihre Daten herunterzuladen, um einfach zwischen verschiedenen Anbietern wechseln zu können. Außerdem sieht die Verordnung ein Widerspruchsrecht gegen Entscheidungen und erstellte Profile vor, denen Algorithmen oder automatisiere Prozesse zugrunde liegen – die Betroffenen können einfordern, dass ein Mensch den fraglichen Prozess überprüft. Eine solche Überprüfung kann zum Beispiel vor Diskriminierung schützen, wenn Algorithmen eingesetzt werden, um zu bestimmen, ob eine Person Anspruch auf Sozialleistungen hat, eine Versicherung abschließen darf, kreditwürdig ist oder für einen Arbeitsplatz in Frage kommt.
Die neuen EU-Regeln haben einige Schwachstellen und Grenzen. Viele Vorschriften enthalten vage oder undefinierte Begriffe oder Formulierungen, die es potenziell möglich machen, die Privatsphäre einzuschränken. Beispielsweise können Regierungen und Unternehmen Daten ohne Einwilligung sammeln und verarbeiten, wenn ihre „legitimen Interessen“ gegenüber der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen. Was „legitime Interessen“ sind, ist in der Verordnung nicht gut definiert bzw. sehr weit gefasst. Daraus können bedeutende Schlupflöcher entstehen.
Datenschutzbeauftragte und Gerichte werden sehr aufmerksam arbeiten müssen, um zu gewährleisten, dass Regierungen und Unternehmen mehrdeutige Formulierungen nicht ausnutzen und dabei gegen Rechte verstoßen. Außerdem wird die Verordnung breite, staatliche Überwachungsmaßnahmen nicht einhegen, da sie es Regierungen erlaubt, Daten ohne Einwilligung zu verarbeiten, wenn dies mit dem nicht definierten Schutz der „nationalen“ oder „öffentlichen Sicherheit“ begründet wird.
Datenschutzgesetze sind zentral für die Menschenrechte im digitalen Zeitalter. Viele Länder weltweit schützen personenbezogene Daten kaum oder gar nicht. Im Zuge der jüngsten Skandale um Facebook und Cambridge Analytica und der öffentliche Debatte um Datenschutzverletzungen, gezielte Werbung und undurchsichtige Profilerstellung durch den Privatsektor sind die Rufe danach lauter geworden, besser kontrollieren zu können, wie personenbezogene Daten gesammelt und genutzt werden.
„Regierungen und Unternehmen sammeln zunehmend gewaltige Mengen an Daten über unsere Privatleben und nutzen diese für wichtige Entscheidungen, die uns betreffen“, so Wong. „Die Staaten müssen regulieren, wie mit diesen Informationen umgegangen wird, so dass diese nicht mehr so leicht von Regierungen, Unternehmen und Kriminellen missbraucht werden können.“
Juweliere, übernehmt Verantwortung!
Ein Junge und ein Mädchen arbeiten in einer kleinen Mine im Distrikt Amansie West, Ghana.
© 2016 Juliane Kippenberg für Human Rights Watch. Diese Woche beginnt die Baselworld, eine der gößten Schmuck-und Uhrenmessen weltweit. Besucher werden viel über neues Design bei Uhren und Schmuck erfahren. Aber wieviel wird über die menschenrechtlichen Bedingungen zu erfahren sein, unter denen Gold und andere Rohstoffe für Schmuck und Uhren gefördert wurden? Beim Abbau von Gold kommt es immer wieder zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Für Human Rights Watch haben meine Kollegen und ich Mißstände in Goldminen in den Philippinen, Papua Neu Guinea Ghana, Mali, Nigeria, Tansania, Uganda und Eritrea dokumentiert. Wir haben genauer untersucht, was Juweliere und Uhrenfirmen tun, um sicherzustellen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen in ihren Gold- und Diamantenlieferketten beitragen. Dazu haben wir 13 führende Schmuck- und Uhrenhersteller unter die Lupe genommen; gemeinsam haben die Firmen einen Jahresumsatz von 30 Milliarden Dollar. Unter ihnen sind auch Bulgari, Chopard, Harry Winston und Rolex. Bei unserer Untersuchung stellte sich heraus, dass die meisten Firmen nicht wissen, woher ihr Gold und ihre Diamanten kommen, und daß sie menschenrechtliche Risiken nicht ausreichend prüfen. Zudem veröffentlichen Schmuck-und Uhrenhersteller—auch Bulgari, Chopard und Harry Winston—meist nur wenige allgemeine Informationen über ihre Lieferketten und Menschenrechtsrisiken. Einige Unternehmen, wie zum Beispiel Rolex, veröffentlichen sogar überhaupt keine Informationen über ihre Lieferketten und die damit verbundene Unternehmensverantwortung. Als wir mit den 13 Unternehmen vor mehr als einem Jahr in Kontakt traten, wiesen viele auf ihre Zertifizierung durch den Responsible Jewellery Council (RJC) hin. Für die Firmen war dies ein Beleg dafür, daß sie verantwortlich handeln. Der RJC ist ein industrienaher Verband mit mehr als 1.000 Mitgliedern, der Mitglieder für die Umsetzung seines „Code of Practices“-Standards zertifiziert. Der Standard ist allgemein und unpräzise, und verlangt von den Firmen nicht, dass sie ihre Lieferkette kennen. Die Einhaltung wird unzureichend überprüft und der Prozeß der Zertifizierung ist undurchsichtig. Der Standard fällt selbst hinter die von der OECD entwickelten Richtlinien zurück. Alle Schmuck-und Uhrenhersteller haben eine Verantwortung für ihre Lieferketten. Konsumenten drängen zunehmend daraufhin, dass Firmen diese Verantwortung wahrnehmen. Und nicht nur das—internationale Normen über die „Sorgfaltspflicht“ machen klar, dass Firmen die Risiken für Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten detailliert untersuchen und gegebenenfalls darauf reagieren sollten. Auch Juweliere und Uhrenhersteller sollten daher ihre Wertschöpfungskette kennen und Zulieferer darauf verpflichten, ihnen schriftliche Informationen über alle Schritte bis zurück zur Mine zu geben. Im Interesse der Transparenz sollten die Unternehmen außerdem öffentlich darlegen, welche Maßnahmen der Sorgfaltspflicht sie ergreifen. Vermehrt wird in der Schweiz und anderswo darauf gedrängt, daß eine solche Sorgfaltspflicht in Lieferketten für Unternehmen rechtlich bindend wird. Denn freiwillige Standards nicht aus, um die Großzahl der Unternehmen zum Handeln zu bewegen. Einige wenige Firmen gehen dennoch mit gutem Beispiel voran. Aus den von uns untersuchten Unternehmen sticht Tiffany and Co. heraus, weil es sein Gold bis zur Mine zurückverfolgen kann und die menschenrechtlichen Auswirkungen seiner Geschäftsaktivitäten umfassend prüft. Une eine wachsende Zahl von Schmuckherstellern– insbesondere kleine Juweliere - bemüht sich darum, Gold aus kleinen Minen zu beziehen, in denen die Menschenrechte gewahrt werden. Ein Beispiel hierfür ist der “Fairmined”-Standard, der Minen zur Einhaltung klar festgelegter arbeitsrechtlicher Standards für die Zertifizierung verpflichtet und diese regelmäßig prüft. Interessanterweise bezieht auch Chopard einen kleinen Teil seines Goldes aus diesen Minen—ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist aber enttäuschend, daß Chopard über die Lieferkette für den weitaus größeren Teil seines Goldes bis jetzt keine Auskunft gibt. Es wird Zeit, daß alle Juweliere und Uhrenhersteller auf der Baselworld offenlegen, woher ihr Gold kommt und was sie für den Schutz der Menschenrechte in ihren Lieferketten tun.Valentinstag: Schmutzige Schmuck-Lieferketten
Ein Mädchen arbeitet in einer kleinen Diamantenmine in Sosso Nakombo in der Zentralafrikanischen Republik nahe der Grenze zu Kamerun, August 2015.
© Marcus Bleasdale für Human Rights Watch, 2015.(London) – Schmuck- und Uhrenhersteller müssen mehr tun, um zu gewährleisten, dass es in ihren Lieferketten nicht zu Menschenrechtsverletzungen kommt, so Human Rights Watch in einem heute kurz vor dem Valentinstag veröffentlichten Bericht. 29 Zivilgesellschaftliche Gruppen und Gewerkschaften riefen die Schmuckindustrie gemeinsam dazu auf, ihr Beschaffungswesen zu verbessern.
Der 99-seitige Bericht „The Hidden Cost of Jewelry: Human Rights in Supply Chains and the Responsibility of Jewelry Companies“ untersucht die Gold- und Diamantenbeschaffung von 13 führenden Schmuck- und Uhrenherstellern, die gemeinsam einen Jahresumsatz von 30 Milliarden US$ generieren – etwa zehn Prozent der weltweiten Schmuckverkäufe.
Der Bericht geht auch auf die menschenrechtswidrigen Bedingungen ein, unter denen Edelminerale und -metalle zum Teil gefördert werden. Kinder werden verletzt oder sterben bei Schwerstarbeit in kleinen Gold- und Diamantenminen. Kommunen sind von Gesundheits- und Umweltproblemen betroffen, weil Minen Wasserläufe mit giftigen Chemikalien verseuchen. Und Zivilisten leiden massiv, wenn bewaffnete Gruppen sich am Abbau bereichern.
„Viele Schmuckhersteller können mehr tun, um zu prüfen, ob ihr Gold oder ihre Diamanten mit Kinderarbeit oder anderen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang stehen“, so Juliane Kippenberg, stellvertretende Leiterin der Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Wenn man zum diesjährigen Valentinstag ein Schmuckstück für seine Lieben kauft, sollte man den Juwelier danach fragen, was er über dessen Herkunft weiß.“
Februar 8, 2018 Video The Hidden Cost of JewelryJewelry and watch companies need to do more to ensure that their supply chains are free of human rights abuse.
Human Rights Watch hat umfassende Untersuchungen in zahlreichen Ländern durchgeführt, in denen die Lieferketten von menschenrechtswidrigen Praktiken durchzogen sind, insbesondere von Kinderarbeit. In einem Bericht über die Situation auf den Philippinen aus dem Jahr 2015 schildert ein 16-jähriger Junge, wie er auf der Suche nach Gold nur mit einem Luftschlauch tauchen geht und jedes Mal riskiert, zu ertrinken.
Edelminerale und -steine werden in Dutzenden Ländern überall auf der Welt gefördert und dann in der Regel verkauft, exportiert und in anderen Ländern weiterverbreitet. Zwar sind die Lieferketten zum Teil lang und komplex, aber nichtsdestotrotz tragen Juweliere und Uhrmacher die Verantwortung dafür, zu gewährleisten, dass sie an keinem Punkt entlang dieser Ketten zu Menschenrechtsverletzungen beitragen.
Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten der 13 Schmuckhersteller internationale Standards für verantwortungsvolle Beschaffung nicht einhalten. Unter den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind Unternehmen dazu verpflichtet, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die als „menschenrechtliche Sorgfaltspflicht“ bezeichnet werden. Diese beinhaltet, dass Unternehmen Auswirkungen ihrer Geschäftsaktivitäten auf die Menschenrechte in ihrer gesamten Lieferkette identifizieren, verhindern, angehen und über sie Rechenschaft ablegen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat mit den „OECD-Leitsätzen für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Minerale aus Konflikt- und Hochrisikogebieten“ die wichtigsten Standards für die Sorgfaltspflicht in der Mineralförderung entwickelt.
Die Praktiken der 13 untersuchten Schmuckhersteller unterscheiden sich deutlich voneinander. Während einige Unternehmen wichtige Maßnahmen ergriffen haben, um den menschenrechtliche Risiken in den Gold- und Diamanten-Lieferketten zu begegnen, verlassen sich andere blind auf die Versprechen ihrer Zulieferer. Die Mehrzahl der Hersteller können die Herkunft ihres Goldes und ihrer Diamanten nicht vollständig nachvollziehen und prüfen menschenrechtliche Risiken nicht ausreichend. Zudem veröffentlichen die meisten Unternehmen weder ausführlichere Berichte darüber, wie sie zur verantwortungsvollen Mineralförderung beitragen, noch die Namen ihrer Zulieferer.
Zehn der Hersteller antworteten auf Informationsanfragen: Boodles, Bulgari, Cartier, Chopard, Christ, Harry Winston, Pandora, Signet (das Elternunternehmen von Kay Jewelers, Zales, Ernest Jones und H. Samuel), Tanishq und Tiffany. Drei reagierten nicht: Kalyan, Rolex und TBZ. Auf Grundlage öffentlich zugänglicher und von den Unternehmen zur Verfügung gestellter Informationen bewertet der Bericht die Marken anhand von speziellen Kriterien für verantwortungsvolle Beschaffung, darunter Maßnahmen zur Einschätzung und zum Umgang mit menschenrechtlichen Risiken, transparente Lieferketten und öffentlich zugängliche Berichte über die Aktivitäten des Unternehmens.
Keiner der 13 Hersteller erhielt das Siegel „exzellent“. Tiffany and Co. wurde wegen bedeutender Schritte hin zu verantwortungsvoller Beschaffung als „überzeugend“ eingestuft und vier weitere Unternehmen, Bulgari, Cartier, Pandora und Signet als „angemessen“, da sie einige wichtige Schritte hin zu verantwortungsvoller Beschaffung unternommen haben.
Vier Hersteller – Boodles, Chopard, Christ und Harry Winston – erwiesen sich als „schlecht“, da sie nur wenig für verantwortungsvolle Beschaffung tun. Tanishq wurde als „sehr schlecht“ bewertet, weil nichts darauf hindeutet, dass das Unternehmen sich um verantwortungsvolle Beschaffung bemüht. Die drei Unternehmen, die nicht auf die Anfrage antworteten, wurden nicht gewertet, da sie keine Informationen über ihre Beschaffungsgrundsätze und -praktiken preisgaben.
Darüber hinaus stellt der Bericht fest, dass bestehende Initiativen für verantwortungsvolle Beschaffung wie der Kimberley-Prozess für Diamanten und eine Zertifizierung durch den Responsible Jewellery Council nicht ausreichen, um mit großer Sicherheit davon ausgehen zu können, dass Diamanten oder Gold nicht unter Verletzung von Menschenrechten gefördert wurden. Der Kimberley-Prozess konzentriert sich ausschließlich auf Diamanten, die mit Rebellengruppen in Verbindung stehen, bezieht sich nur auf Rohdiamanten und benennt die Verantwortung von Unternehmen nicht.
Der Responsible Jewellery Council, eine industrienahe Gruppe mit mehr als 1.000 Mitgliedern, hat problematische Standards, Steuerungs- und Zertifizierungssysteme. Der Council sollte seine Standards und Überprüfungspraktiken stärken, um die Messlatte für verantwortungsvolle Beschaffungspraktiken höher zu setzen.
„Zu viele Hersteller verweisen auf ihre Mitgliedschaft im Responsible Jewellery Council als alleinigen Beweis dafür, dass sie Minerale verantwortungsvoll fördern. Aber das reicht nicht, um saubere Lieferketten zu gewährleisten“, sagt Kippenberg.
Während die Praktiken vieler Schmuckhersteller internationalen Standards nicht genügen, gehen einige mit gutem Beispiel voran, dem andere folgen können. Aus den untersuchten Unternehmen sticht Tiffany and Co. heraus, weil es sein Gold bis zur Mine zurückverfolgen kann und die menschenrechtlichen Auswirkungen seiner Geschäftsaktivitäten umfassend prüft. Cartier kauft den gesamten Ertrag einer „Modell“-Goldmine in Honduras. Das Schweizer Schmuckunternehmen Chopard hat mit Kleinstminen-Kooperativen in Lateinamerika an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen gearbeitet und bezieht sein Rohmaterial von diesen. Pandora tut sich dadurch hervor, dass es die in seinen Prüfungen identifizierten Menschenrechtsrisiken offen legt.
Eine wachsende Zahl kleiner Schmuckhersteller bemüht sich darum, Gold aus kleinen Minen zu beziehen, in denen die Menschenrechte gewahrt werden, und arbeitet dabei oft mit Nichtregierungsorganisationen zusammen.
„Es macht Mut zu sehen, dass einige Schmuckhersteller, große wie kleine, Schritte in die richtige Richtung machen“, so Kippenberg. „Sie beweisen, dass Veränderung möglich ist.“
Zwei der untersuchten Unternehmen haben zwischenzeitlich zugesagt, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Praktiken zu verbessern. Der britische Hersteller Boodles hat begonnen, sich mit seinen Diamanten-Lieferanten über die Frage der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht auszutauschen und eine erste Überprüfung für verantwortungsvolle Beschaffung eingeleitet. Das Unternehmen sagte zu, einen umfassenden Verhaltenskodex für seine Gold- und Diamantenlieferanten zu entwickeln und zu veröffentlichen. Zudem will es ab dem Jahr 2019 Berichte über seine Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht veröffentlichen und genauere menschenrechtliche Risikoprüfungen durchführen. Der deutsche Schmuckhersteller Christ sagte zu, im Laufe des Jahres 2018 seinen Verhaltenskodex für Lieferanten und andere Informationen über die Umsetzung seiner menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zu veröffentlichen.
AufklappenHuman Rights Watch überprüfte 13 Unternehmen anhand von sieben Kriterien für verantwortungsvolle Beschaffung auf Grundlage öffentlich verfügbarer und auf Anfrage übermittelter Informationen.
Alle Schmuckhersteller müssen starke menschenrechtliche Sicherheitsvorkehrungen treffen und öffentlich über ihre Aktivitäten berichten – das fordern zivilgesellschaftliche Gruppen und Gewerkschaften in einem gemeinsamen Aufruf. Auch Human Rights Watch initiierte eine Kampagne, #BehindTheBling, um Druck auf Schmuckhersteller aufzubauen.
Wenn sie Schmuck kaufen, sollten Kunden nachfragen, woher dieser kommen und wie die Weiterverkäufer prüfen, ob in den Herkunftsminen die Menschenrechte eingehalten werden. Kleine Minen haben besonders großes Potential, sich positiv auf ihre Nachbarkommunen auszuwirken.
„Immer mehr Kunden wollen sicher gehen, dass der Schmuck, den sie kaufen, nicht zu Menschenrechtsverletzungen beigetragen hat“, so Kippenberg. „Schmuckhersteller sind es ihren Kunden und den von ihren Aktivitäten betroffenen Kommunen schuldig, ihre Rohmaterialien wirklich verantwortungsvoll zu fördern und eine öffentliche Prüfung ihrer Aktivitäten zuzulassen.“
Ägypten: Schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Nord-Sinai
Human Rights Watch’s two-year investigation documented crimes including mass arbitrary arrests, enforced disappearances, torture, extrajudicial killings, and possibly unlawful air and ground attacks against civilians.
(Beirut) - Ägyptische Militär- und Polizeikräfte begehen auf der Halbinsel Sinai schwere und weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Vergehen erfolgen im Zuge der laufenden Kampagne gegen Mitglieder der Provinzgruppe Sinai, des lokalen ISIS-Ablegers, und stellen in einigen Fällen Kriegsverbrechen dar.
Der134-seitige Bericht ‘If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!’: Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai liefert einen detaillierten Einblick in einen kaum beachteten Konflikt, in dem seit der Eskalation der Kämpfe im Jahr 2013 Tausende Menschen verletzt oder getötet wurden – darunter Zivilisten, Kämpfer und Angehörige der Sicherheitskräfte. Die über zwei Jahre durchgeführten Recherchen von Human Rights Watch dokumentieren Verbrechen wie willkürliche Masseninhaftierungen, Verschleppungen, Folter, außergerichtliche Tötungen und möglicherweise rechtswidrige Angriffe auf Zivilisten durch Luft- und Bodenstreitkräfte. Obwohl ein Großteil der Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der ägyptischen Militär- und Polizeikräfte geht, haben auch die extremistischen Milizen grausame Verbrechen verübt, etwa die Entführung, Folter und Ermordung von Anwohnern oder die standrechtliche Hinrichtung gefangengenommener Sicherheitskräfte. Mai 28, 2019 Report If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!
Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai
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„Statt die Bewohner des Sinai in ihrem Kampf gegen die Militanten zu unterstützen, haben die ägyptischen Sicherheitskräfte eine totale Geringschätzung für das Leben der Anwohner an den Tag gelegt und ihren Alltag in einen endlosen Albtraum verwandelt“, so Michael Page, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Die grausame Behandlung der Bewohner des Sinai sollte ein weiterer Weckruf an Staaten wie die USA und Frankreich sein, die Ägyptens Anti-Terror-Maßnahmen blindlings unterstützen.“
Human Rights Watch interviewte für den Bericht 54 Bewohner des nördlichen Sinai im Zeitraum 2016 bis 2018. Befragt wurden zudem Aktivisten, Journalisten und andere Zeugen, darunter zwei ehemalige Offiziere der Armee, ein Soldat, ein ehemaliger Funktionär aus dem Nord-Sinai und ein ehemaliger Beamter der US-Sicherheitsbehörden, der mit Ägypten betraut war. Human Rights Watch wertete auch unzählige offizielle Erklärungen, Social-Media-Posts, Medienberichte und Dutzende Satellitenfotos aus, um die Zerstörung von Wohngebäuden zu belegen und geheime Hafteinrichtungen des Militärs zu identifizieren. Das ägyptische Militär hat faktisch jede unabhängige Berichterstattung aus Nord-Sinai verboten und mehrere Journalisten, die von dort berichtet hatten, verfolgt und inhaftiert.
Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass die Feindseligkeiten auf dem nördlichen Sinai das Niveau eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts erreicht haben, da es zu fortdauernden Kämpfen zwischen organisierten bewaffneten Gruppen kommt. Die Konfliktparteien haben das Kriegsvölkerrecht sowie lokale und internationale Menschenrechtsstandards verletzt.
Indem beide Seiten gezielt Zivilisten angreifen, Menschenrechtsverletzungen verüben und nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheiden, haben sie grundlegende Rechte der Zivilbevölkerung bedeutungslos gemacht und jeden Freiraum für eine friedliche politische Mobilisierung oder Opposition zerstört.
„Wozu das alles? Sollen wir Waffen tragen? Sollen wir mit den Milizen oder der Armee zusammenarbeiten? Oder sollen wir wie Opfer leben? Alle machen Jagd auf uns“, so ein Anwohner, der gegenüber Human Rights Watch beschrieb, wie die Armee ihn bestrafte und sein Haus zerstörte, nachdem ISIS-Kämpfer ihn entführt und gefoltert hatten.
Offiziellen Erklärungen und Medienberichten zufolge wurden von Januar 2014 bis Juni 2018 3.076 mutmaßliche ISIS-Kämpfer und 1.226 Angehörige von Militär und Polizei durch die Kämpfe getötet. Die ägyptischen Behörden haben keine Zahlen zu zivilen Opfern veröffentlicht oder Fehlverhalten eingeräumt. Human Rights Watch deckte auf, dass die ägyptischen Behörden regelmäßig zivile Opfer zu den getöteten mutmaßlichen Kämpfern gezählt hat und dass Hunderte Zivilisten verletzt oder getötet wurden.
Ausgehend von den Erklärungen des Militärs und der Berichterstattung in den ägyptischen Medien geht Human Rights Watch davon aus, dass Militär- und Polizeikräfte von Juli 2013 bis Dezember 2018 mehr als 12.000 Bewohner vom Nord-Sinai festgenommen haben. Das Militär räumt offiziell 7.300 Verhaftungen ein, veröffentlicht jedoch nur selten Namen oder Tatvorwürfe. Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass viele dieser Menschen, willkürlich inhaftiert und gewaltsam verschleppt wurden. Einige wurden außergerichtlich hingerichtet. In den vergangenen Jahren haben vermutlich Tausende Menschen den Regierungsbezirk verlassen, entweder um vor dem Konflikt zu fliehen oder weil sie vom Militär aus ihren Häusern vertrieben wurden.
Nord-Sinai ist ein dünn besiedelter Verwaltungsbezirk mit weniger als 500.000 Einwohnern. Er grenzt an Israel und den Gaza-Streifen. Bewaffnete Gruppen existieren dort seit langem. Seit dem Volksaufstand von 2011, der zum Rücktritt des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak geführt hatte, kam es jedoch immer häufiger zu Angriffen auf staatliche Einrichtungen, Militärkräfte und israelische Truppen.
Als das ägyptische Militär den damaligen Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 zum Rücktritt zwang und verhaftete, eskalierte die Gewalt. Die lokale Miliz Ansar Bait al-Maqdis schloss sich Ende 2014 ISIS an und änderte ihren Namen in Wilayat Sinai (Provinzgruppe Sinai). Daraufhin entsandte die Armee mehr als 40.000 Soldaten der See-, Luft- und Bodenstreitkräfte. Ägypten koordinierte diesen Einsatz mit Israel und soll Israel laut Medienberichten erlaubt haben, Luftangriffe auf Ziele auf dem Sinai zu fliegen, welche der Miliz zugerechnet wurden.
In diesem Bericht dokumentiert Human Rights Watch mindestens 50 willkürliche Festnahmen, darunter 39 Fälle, in denen Militär und Polizei die Betroffenen verschleppte. Vierzehn dieser Personen bleiben auch drei Jahre später unauffindbar.
Die Armee hat Häftlinge in Isolation und unter miserablen Bedingungen festgehalten, weit entfernt von jeder richterlichen Kontrolle. Militär und Polizei haben sogar 12-jährige Kinder zusammen mit Erwachsenen inhaftiert. Frauen wurden üblicherweise getrennt festgehalten. Die Recherchen von Human Rights Watch zeigten, dass die Armee zu jedem beliebigen Zeitpunkt in den vergangenen Jahren vermutlich bis zu 1.000 Personen unter Geheimhaltung auf dem Militärstützpunkt Al-Galaa festgehalten hat. Die Basis ist eine der drei bedeutendsten Hafteinrichtungen, die der Bericht beschreibt.
Ehemalige Häftlinge erklärten, dass sie während der Inhaftierung durch Armee und Polizei schlecht mit Nahrungsmitteln versorgt wurden, es kaum medizinische Versorgung gab und sie in kleinen, überfüllten Zellen untergebracht waren. Soldaten und Polizeibeamte hätten viele Insassen gefoltert, etwa mit Schlägen und Elektroschocks. Human Rights Watch dokumentierte drei Todesfälle im Gewahrsam der Sicherheitskräfte.
Einige der heimlich Inhaftierten wurden ohne Gerichtsverfahren von Militär- und Polizeikräften in die Wüste gebracht und hingerichtet. Später wurde erklärt, die Opfer seien bei Schusswechseln ums Leben gekommen. Human Rights Watch dokumentierte 14 derartige Fälle. Sechs weitere waren bereits vor dem Bericht dokumentiert worden.
Die ägyptische Armee hat Bewohner vom Nord-Sinai zu Milizionären rekrutiert. Diese haben bei den Menschenrechtsverletzungen eine erhebliche Rolle gespielt. Die inoffiziellen und irregulären Milizen unterstützten das Militär, das vor dem Konflikt über keine nennenswerte Erfahrung im Nord-Sinai verfügt hatte, indem sie Informationen lieferten und im Auftrag des Militärs Missionen ausführten. Angehörige der Milizen nutzen ihre faktischen Befugnisse, um willkürlich andere Bewohner zu verhaften, alte Rechnungen zu begleichen und persönliche Streitigkeiten zu regeln. Sie waren zudem an Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen beteiligt.
Die Provinzgruppe Sinai, der örtliche ISIS-Ableger, hat sich im nordöstlichsten Winkel des Gouvernements Nord-Sinai festgesetzt und unterhält dort auch nach sechs Jahren andauernder Kämpfe eine Präsenz. Die Kämpfer der Gruppe haben laut Aussage der Befragten schreckliche Verbrechen verübt, darunter die Entführung zahlreicher Anwohner und Angehöriger von Militär und Polizei sowie die außergerichtliche Hinrichtung einiger dieser Personen.
Die wahllosen Angriffe der Provinzgruppe Sinai, etwa durch den Einsatz selbstgebauter Sprengkörper in bewohnten Gebieten, haben Hunderte Zivilisten getötet und viele Anwohner zur Flucht gezwungen. Die Gruppe hat auch gezielt Zivilisten angegriffen. So waren Mitglieder von Wilayat Sinai wahrscheinlich für einen Angriff auf die Al-Rawda-Moschee im Nord-Sinai verantwortlich, bei dem im November 2017 mindestens 311 Menschen getötet wurden, darunter auch Kinder. Dabei handelte es sich um den tödlichsten Anschlag einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe in Ägyptens neuerer Geschichte. In Teilen von Rafah und Sheikh Zuweid, zweier Städte in Nord-Sinai, führte die Gruppe eigene Scharia-Gerichte ein, die unfaire „Gerichtsverfahren“ leiteten, Kontrollpunkte errichteten und islamische Regeln durchsetzten.
Der UN-Menschenrechtsrat und die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker sollen, angesichts der Tatenlosigkeit der ägyptischen Behörden, unabhängige Untersuchungsausschüsse zu den Menschenrechtsverletzungen auf dem Sinai einrichten. Ägyptens internationale Partner sollen unverzüglich jegliche sicherheitspolitische und militärische Unterstützung stoppen und so lange aussetzen, bis Ägypten seine Menschenrechtsverletzungen beendet. Kriegsverbrechen können nach internationalem Recht ohne zeitliche Begrenzung verfolgt werden. In vielen Staaten besteht nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit, Personen für Kriegsverbrechen, welche diese in anderen Teilen der Welt begangen haben, festzunehmen und anzuklagen.
„Der ISIS-Ableger im Nord-Sinai verdient weltweite Ächtung und seine abscheulichen Verbrechen müssen verfolgt werden. Doch auch das Vorgehen der Armee, das von ebenso schweren Vergehen geprägt ist, sollte nicht gelobt, sondern aufs Schärfste verurteilt werden“, so Page. „Ägyptens engste Verbündete sollen ihre Unterstützung für diese von Missbrauch geprägte Militärkampagne stoppen, die Tausende Zivilisten ins Verderben gestürzt hat.“
Palästina: Behörden zerschlagen Kritik
Palästinensische Sondereinsatzkräfte gehen gegen Demonstraten vor, die gegen die Zusammenarbeit der Behörden Palästinas und Israels bei Sicherheitsfragen protestieren, Ramallah, 23. Juni 2014.
© 2014 Mohamad Torokman/Reuters(Ramallah) - Die von der Fatah geführte Palästinensische Behörde im Westjordanland und die Hamas-Behörden im Gazastreifen verhaften und foltern routinemäßig friedliche Kritiker und Gegner, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Da sich der Konflikt zwischen der Palästinensischen Behörde und der Hamas verschärft hat, haben beide Parteien die Unterstützer der jeweils anderen ins Visier genommen.
Der 149-seitige Bericht „Two Authorities, One Way, Zero Dissent’: Arbitrary Arrest and Torture Under the Palestinian Authority and Hamas“ untersucht wiederkehrende Muster bei Festnahmen und Haftbedingungen im Westjordanland und im Gazastreifen, 25 Jahre nachdem das Oslo-Abkommen den Palästinensern eine gewisse Selbstbestimmung über diese Gebiete eingeräumt und mehr als ein Jahrzehnt nachdem die Hamas de facto die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen hat. Human Rights Watch schildert mehr als zwei Dutzend Fälle von Menschen, die festgenommen und inhaftiert wurden, nur weil sie einen kritischen Artikel oder Facebook-Post verfasst hatten oder der falschen Studentengruppe oder politischen Bewegung angehörten.
„25 Jahre nach Oslo haben die palästinensischen Behörden nur begrenzte Macht im Westjordanland und im Gazastreifen erlangt, dennoch haben sie dort, wo sie autonom sind, parallele Polizeistaaten aufgebaut“, so Tom Porteous, stellvertretender Programmdirektor bei Human Rights Watch. „Aufrufe von palästinensischen Beamten, die Rechte von Palästinensern zu schützen, klingen hohl, wenn gleichzeitig jegliche Kritik zerschlagen wird.“
Human Rights Watch führte Interviews mit 147 Zeugen, darunter ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen, Anwälte und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. Zudem wertete Human Rights Watch Fotomaterial aus und prüfte medizinische Berichte und Gerichtsdokumente. Der Bericht beinhaltet fundierte Antworten zu den Erkenntnissen der wichtigsten Sicherheitsbehörden, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind.
Systematische, willkürliche Festnahme und Folter verstoßen gegen Menschenrechtsabkommen, denen Palästina kürzlich beigetreten ist. Nur wenige Sicherheitsbeamte wurden strafrechtlich verfolgt und keiner wurde wegen unrechtmäßiger Verhaftung oder Folter verurteilt, soweit Human Rights Watch feststellen konnte.
Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und andere Regierungen, welche die Palästinensische Behörde und die Hamas finanziell unterstützen, sollen die Hilfe für die spezifischen Einheiten oder Agenturen, die an weit verbreiteten willkürlichen Verhaftungen und Folterungen beteiligt sind, aussetzen, bis die Behörden diese Praktiken unterbinden und die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen.
„Dass Israel systematisch die Grundrechte der Palästinenser verletzt, ist kein Grund dafür, zu schweigen angesichts der systematischen Unterdrückung von Dissens und der Folter durch palästinensische Sicherheitskräfte“, so Shawan Jabarin, Vorsitzender der palästinensischen Menschenrechtsorganisation al-Haq und Mitglied des Advisory Boards von Human Rights Watch für den Nahen Osten und Nordafrika.
Human Rights Watch traf sich mit den Nachrichtendiensten der Palästinensischen Behörde in Ramallah. Ein Angebot der Hamas-Behörden für ein Treffen in Gaza konnte nicht wahrgenommen werden, da Israel sich weigerte, leitende Human Rights Watch-Mitarbeiter deshalb in den Gazastreifen einreisen zu lassen. Zudem haben die israelischen Behörden eine Anfrage von Human Rights Watch zurückgewiesen, hochrangige Vertreter im Oktober 2018 in den Gazastreifen einreisen zu lassen, um den Bericht bei einer Pressekonferenz vorzustellen.
Beide Behörden beharren darauf, dass es sich bei Menschenrechtsverletzungen lediglich um Einzelfälle handelt, die untersucht werden und für welche die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Belege, die Human Rights Watch gesammelt hat, widersprechen diesen Behauptungen jedoch.
Die palästinensischen Behörden berufen sich häufig auf sehr weit gefasste Gesetze, wonach die Beleidigung „höherer Autoritäten“ unter Strafe steht, wenn diese zu „konfessionellen Unruhen“ führt oder „der revolutionären Einheit schadet“, um Dissidenten tage- oder wochenlang festzuhalten. Die meisten werden dann wieder freigelassen, ohne dass sie vor Gericht gestellt werden, doch die Anklagepunkte bleiben weiter erhalten. Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde hielten zudem 221 Palästinenser über diverse Zeiträume zwischen Januar 2017 und August 2018 ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf Anordnung eines Regionalgouverneurs in Verwaltungshaft, so die palästinensische Überwachungsbehörde Independent Commission for Human Rights.
Eine Reihe ehemaliger Gefangener der Palästinensischen Behörde, die von Human Rights Watch befragt wurden, waren auch von Israel festgenommen worden, das sich mit den Sicherheitskräften der Palästinensischen Behörde in Sicherheitsfragen abstimmt. In Gaza verlangen die Hamas-Behörden bisweilen von Häftlingen, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der sie sich verpflichten, jegliche Kritik oder Proteste einzustellen.
Am 27. September berichtete die Unabhängige Menschenrechtskommission, dass Sicherheitskräfte der Hamas in Gaza mehr als 50 mit der Fatah verbundene Personen verhaftet hatten und dass Beamte der Palästinensischen Behörde im Westjordanland innerhalb weniger Tage mehr als 60 mit der Hamas verbundene Personen festgenommen hatten.
In den dokumentierten Fällen wurden die Gefangenen von palästinensischen Sicherheitskräften bedroht und geschlagen. Zudem wurden sie gezwungen, über längere Zeiträume in schmerzhaften Positionen zu verharren. Hierfür wurden u.a. Kabel oder Stricke verwendet, um die Arme der Gefangenen hinter dem Rücken hochzuheben und zu fixieren. Die Polizei wendete oft ähnliche Methoden an, um Geständnisse von Personen zu erzwingen, die wegen Drogendelikten oder anderer Vorwürfe inhaftiert waren. Die Sicherheitskräfte zwangen die Gefangenen auch routinemäßig dazu, ihnen Zugang zu ihren Mobiltelefonen und Social Media Accounts zu gewähren. Diese Maßnahmen scheinen darauf abzielen, Dissidenten zu bestrafen und sie und andere von weiteren Aktivitäten abzuhalten.
Während die Behörden regelmäßig Bürgerbeschwerden erhalten und über Systeme zu deren Untersuchung verfügen, hat nach Angaben der Behörden nur eine Minderheit zu einer Feststellung von Fehlverhalten geführt. Noch weniger führten zu einer administrativen Sanktion oder einer Strafverfolgung.
Die palästinensischen Behörden sollen sich an die internationalen Menschenrechtsabkommen halten, denen sie in den letzten fünf Jahren beigetreten sind. Die Behörden der Hamas sagten in einem Schreiben an Human Rights Watch, dass sie sich in der Pflicht sähen, alle vom Staat Palästina ratifizierten internationalen Verträge zu respektieren. Die Einhaltung dieser Verträge verpflichtet die palästinensischen Behörden dazu, dafür zu sorgen, dass eine unabhängige Stelle die Hafteinrichtungen inspiziert und dass die Behörden Beschwerden ernsthaft untersuchen und gegebenenfalls geeignete Sanktionen verhängen.
Die systematische Folter durch palästinensische Behörden könnte einem vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) strafbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen. Schon seit geraumer Zeit ermutigt Human Rights Watch die Anklägerin des IStGH, eine formelle Untersuchung des israelischen und palästinensischen Verhaltens in Palästina, das dem IStGH beigetreten ist, einzuleiten.
Die USA und europäische Staaten unterstützen die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde. Die USA haben 2018 die Mittel für Gesundheits- und Bildungsleistungen für Palästinenser, einschließlich ihrer gesamten Unterstützung für das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), gekürzt. Die USA leisten jedoch weiter nichtletale Unterstützungsmaßnahmen für die palästinensische Sicherheitskräfte im Bereich International Narcotics Control and Law Enforcement (INCLE), darunter 60 Millionen Dollar für das Haushaltsjahr 2018 und 35 Millionen Dollar für das Haushaltsjahr 2019 . Katar, Iran und die Türkei unterstützen die Hamas-Behörden finanziell. Diese Länder sollen die Unterstützung für Behörden und Agenturen aussetzen, die routinemäßig Dissidenten foltern. Zu den betroffenen Agenturen der Palästinensischen Behörde gehören der Nachrichtendienst und der Präventions- und Sicherheitsausschuss und für die Hamas die Agentur für Innere Sicherheit. Die Unterstützung soll solange ausgesetzt werden, wie systematische Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen andauern.
„Die Angriffe der Palästinensischen Behörde und der Hamas gegen Dissidenten und Demonstranten, Reporter und Blogger haben System und niemand wird für sie zur Rechenschaft gezogen“, so Porteous. „Wenn Regierungen dem palästinensischen Volk beim Aufbau eines Rechtsstaates helfen wollen, dann sollten sie keine Sicherheitskräfte unterstützen, die einen Rechtsstaat aktiv untergraben.“
Berichte von ehemaligen Häftlingen
„Ich war auf dem Weg nach Hause. Am Einab-Kontrollpunkt sah ich zufällig den Konvoi des Premierministers, der am Kontrollpunkt aufgehalten wurde. Ich habe diese Szene gefilmt. Nachdem mein Wagen und der Konvoi den Kontrollpunkt passieren durften, wurden wir von einer seiner Eskorten angehalten. Ich wurde verhaftet und zur Station der Präventiven Sicherheitskräfte in Tulkarm gebracht. Ich wurde in Tulkarm und in Ramallah vier Tage lang festgehalten.“
- Jihad Barakat, 29, Journalist, über seine Verhaftung durch die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde im Westjordanland im Juli 2017.
„Ich hatte an einem heißen Sommertag geschrieben: „Schlafen Ihre Kinder [Bezug nehmend auf die Führer der Hamas] auf dem Boden wie unsere?“ Ich glaube, dieser Post hat die Sicherheitskräfte gestört, und deshalb wurde ich vor die Behörde für Innere Sicherheit zitiert und später wegen „Missbrauch von Technologie“ angeklagt.... Ich wurde 15 Tage lang festgehalten.... Später wurde ich nach einer Vereinbarung mit dem Innenministerium entlassen. In dieser Vereinbarung verpflichtete sich mich dazu, nicht negativ über die Regierung zu schreiben oder gegen sie zu hetzen.“
- Amer Balousha, 26-jähriger Aktivist und Journalist über seine Verhaftung im Juli 2017 durch die Hamas-Behörden in Gaza.
„Ein Zivilbeamter traf mich an der Tür [des Geheimdienstgefängnisses in Jericho]. Er verband mir die Augen, fesselte meine Hände hinter meinem Rücken und fing an, mich zu schlagen und gegen die Wände zu schubsen... das dauerte etwa 10 Minuten. Der Beamte brachte mich zum Büro des Direktors, nahm mir die Augenbinde ab und sagte mir, dass dies mein „Willkommen“ sei...... [ein Beamter] sagte dann: Hängt ihn auf, also bringt ihn nach Shabeh. Ich wurde vom Büro zu den Toiletten gebracht, dort haben sie mir wieder die Augen verbunden, meine Hände hinter meinem Rücken mit Handschellen gefesselt, ein Stück Stoff und Seil in die Mitte der Handschellen gelegt und es zur Seite der Tür gezogen. Es gab einen Haken zwischen der Tür und der Decke. Sie zogen das Tuch hoch und hoben meine Hände hinter meinem Rücken. Meine Beine waren nicht gefesselt und meine Fußspitzen berührten den Boden. Ich musste 45 Minuten lang in dieser Position ausharren. Ein Beamter schlug mir mit einem großen Stock auf den Rücken, zwischen die Schultern, mehr als einmal..... Nachdem sie mich wieder runtergelassen hatten, fühlte ich, dass meine Hände bis zu meinen Schultern taub waren, und ich konnte mich nicht auf dem Beinen halten....[am nächsten Tag] sagte mir der Entsafter (Spitzname für seinen Vernehmer in Jericho): „Ich verspreche dir, dass du diesen Ort nicht verlassen wirst und wenn doch, dann nur im Rollstuhl“.
- Alaa Zaqeq, 27, wurde im April 2017 von den Sicherheitskräften der PA aufgrund seiner Aktivitäten als Absolvent mit einer der Hamas angeschlossenen Studentengruppe für drei Wochen festgehalten.
„Ich wurde gezwungen, den ganzen Tag mit verbundenen Augen in einem Raum namens Bus zu stehen. Es waren 5 oder 10 Leute mit mir in dem Raum. Gelegentlich setzten sie uns auf kleine Stühle, aber wir brauchten die Erlaubnis für alles, was wir taten, auch für das Schlafen oder Sprechen. Ich verbrachte 30 Tage dort.... Nach dem ersten Tag begannen die Schläge. Ich musste meine Hände öffnen und sie fingen an, mich mit einem Seil zu schlagen und meine Füße auszupeitschen.“
- Fouad Jarada, 34-jähriger Journalist der Palestinian Broadcasting Corporation, wurde im Juni 2017 von den Hamas-Kräften verhaftet, drei Tage nach einem Facebook-Post von ihm, in dem er sich kritisch über einen Hamas-Verbündeten äußerte, und einer Reihe kritischer Nachrichtenberichte. Die Behörden hielten ihn mehr als zwei Monate lang fest. Ihm wurde vorgeworfen, die revolutionäre Einheit „zu schädigen“. Er wurde erst freigelassen, als die PA zustimmte, Journalisten im Westjordanland zu verhaften, die der Hamas nahestehen.
„Ich habe immer noch Albträume...[dass] die Zelle mich erwürgt und ich nicht atmen kann.“
- Fares Jbour, 24, wurde im Januar 2017 für 24 Tage festgehalten aufgrund seiner Aktivitäten mit einer der Hamas angeschlossenen Studentengruppe an einer Universität in Hebron im Westjordanland.
„Die Jungs haben Angst vor dem Schreiben. Sie versuchen nichts. Sie teilen nichts. Sie klicken nicht mal „Gefällt mir“, wenn jemand etwas Regierungskritisches schreibt. Sie haben Angst.“
- Mohammad Lafi, 24-jähriger Rapper aus dem Flüchtlingslager Jabalia in Gaza, wurde im Januar 2017 von den Hamas-Behörden für fünf Tage festgehalten, nachdem er ein Musikvideo mit dem Titel „Your Right“ veröffentlicht hatte, in dem Menschen aufgefordert wurden, gegen die Stromkrise zu demonstrieren, und er selbst an entsprechenden Protesten teilgenommen hatte.
„Ich spüre förmlich, dass ich überwacht werde, als läge ich unter einem Mikroskop. Ich wurde zwar freigelassen, aber bis jetzt habe ich das Gefühl, dass ich nicht wirklich frei bin. Sie haben unseren Wunsch gebrochen, die Rechte der Bürger zu verteidigen.“
- Taghreed Abu Teer, 47-jähriger Journalist der Palestinian Broading Corporation, wurde im April 2017 von den Hamas-Behörden für 11 Tage festgehalten, nachdem er an Konferenzen der Fatah in Ramallah teilgenommen hatte.
„Ich lebe in einem Land, in dem es mir verboten ist, meine Meinung zu äußern. Dieses Land ist nicht das Land, von dem wir träumen, überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass es einen Palästinenser gibt, der akzeptieren würde, dass dieser Kampf enden würde, und all die Jahre unseres Lebens, nicht nur unseres, sondern auch derer vor uns, so dass wir am Ende ein Regierungssystem haben, das die Form einer Diktatur angenommen hat. Das darf nicht sein... es ist sehr schmerzhaft, dass wir ein Regime haben, bevor wir jemals einen Staat hatten. Unser Problem mit der PA ist, dass sie Sicherheitskräfte aufbauen und Menschen kontrollieren, obwohl wir nicht einmal den Kontrollpunkt kontrollieren.“
- Hamza Zbeidat, 31-jähriger Mann, der für eine nichtstaatliche Entwicklungsgruppe arbeitet, wurde im Mai 2016 von den Sicherheitskräften der PA für zwei Tage festgehalten aufgrund eines Facebook-Posts, in dem die Palästinenser aufgefordert wurden, „gegen die PA zu kämpfen, so wie wir gegen Israel kämpfen“.