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Menschenrechte
China/Kasachstan: Spiele 2022 wichtiger Test für Olympia-Reform
Die chinesische und kasachische Delegation bei einem Gruppenfoto nach dem Briefing für das IOK durch die Bewerberstädte Peking und Almaty für die Olympischen Winterspiele 2022. Olympisches Museum in Lausanne, Schweiz, 9. Juni 2015.
(New York) – Das Internationale Olympische Komitee (IOK) soll sicherstellen, dass der Gastgeber der Olympischen Winterspiele 2022 Menschenrechtsverpflichtungen bei der Vorbereitung und Austragung der Spiele vollständig respektiert, so Human Rights Watch. Die beiden Bewerber China und Kasachstan schneiden derzeit in ihrer Menschenrechtsbilanz extrem schlecht ab. Das IOK wird über den Austragungsort am 31. Juli 2015 während des 128. IOK-Kongresses in Kuala Lumpur, Malaysia, entscheiden.
„Ob China oder Kasachstan die Olympischen Winterspiele 2022 austragen dürfen, das IOK muss auf jeden Fall sein Versprechen unter Beweis stellen, den Schutz der Menschenrechte zu verbessern“, so Minky Worden, Direktorin für Globale Initiativen von Human Rights Watch. „Das Internationale Olympische Komitte soll darauf bestehen, dass das Gastgeberland die Olympische Charta und grundsätzliche Menschenrechtsstandards rigoros einhält – oder riskiert, die Spiele nicht austragen zu dürfen.“
China und Kasachstan gehen offen gegen regierungskritische Medien und Aktivisten vor. Zudem werden grundlegende Menschenrechte, wie die Meinungs-, Versammlungs- oder Koalitionsfreiheit, nicht ausreichend geschützt. Diskriminierung und die Verletzung von Arbeiterrechten sowie die Unfähigkeit der Regierung, dagegen vorzugehen, stellen ernste Probleme dar. Keines der beiden Länder verfügt über ein funktionierendes, unabhängiges Justizsystem, das der Bevölkerung Schutz vor Menschenrechtsverletzung bietet.
Human Rights dokumentiert seit 2005 schwere Menschenrechtsverletzung durch Gastgeberländer der Olympischen Spiele und anderer großer Sportveranstaltung sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Austragung der Spiele, beispielsweise in China, Russland, Aserbaidschan, Iran und Katar. Während der Sommerspiele 2008 in China waren die Behörden für die Zwangsumsiedlung Tausender Menschen verantwortlich, um die olympischen Stätten bauen zu können. Die Betroffenen konnten keine Rechtsmittel einlegen und erhielten keine angemessene Entschädigung. Außerdem verletzte die chinesische Regierung die Pressefreiheit und das Recht auf friedlichen Protest. Die Spiele 2008 in Peking haben auch zur Verletzung von Arbeiterrechten und dazu geführt, dass immer öfter Sicherheitskräfte im Inneren eingesetzt wurden, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Das IOK verabschiedete im Dezember 2014 Reformen, die als Agenda 2020 bekannt sind. Sie enthalten Verpflichtungen für die Gastgeber. So müssen diese gegen Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung vorgehen und Arbeiterrechte sowie andere Menschenrechte garantieren. Die Olympische Charta fordert alle Gastgeberländer auf, die Pressefreiheit zu achten, und hebt die Menschenwürde als einen wesentlichen Bestandteil der Olympischen Bewegung hervor. Dennoch hat das IOK keinen Mechanismus zur Überprüfung der Menschenrechte, um einzuschätzen, inwieweit ein Gastland diese Bedingungen erfüllt.
„Die Winterspiele 2022 stellen das IOK jetzt auf den Prüfstand, ob es tatsächlich hinter seinen Prinzipien steht“, so Worden. „Welche Entscheidung auch getroffen wird: Auf jeden Fall wird ein Land die Spiele ausrichten, das für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Deshalb soll das IOK in seinen Verträgen für die Gastgeber den Schutz der Menschenrechte festschreiben und die Einhaltung ebenso rigoros überprüfen, wie den Bau der Stadien, die Telekommunikationstechnik und andere Voraussetzungen.
Das IOK hat bereits Anfang 2015 beide Länder besucht, um die Bedingungen im Rahmen des Bewerbungprozesses zu überprüfen. Dennoch wies der offizielle Bericht nicht genug auf die ernsthaften Menschenrechtsbedenken hin. Der Bericht zu China besagt, dass bei der Überprüfung die Medienfreiheit und der freie Internetzugang gegenüber den chinesischen Behörden angesprochen wurden und dass die Überprüfungskommission die schriftliche Versicherung erhalten habe, dass es „keine Restriktionen“ gebe. Daraus zog die Kommission die Schlussfolgerung, dass es kein Risiko für die Medien gebe.
China ist einer der größten Internet-Zensoren. Erst kürzlich schloss die Regierung sogar private Netzwerke, die von vielen Journalisten genutzt wurden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Untersuchungskommission Personen oder Gruppen in China befragt hat, die eine unabhängige oder kritische Sicht auf die Regierung hätten geben können. Eine dieser Organisationen, die NGO Yirenping, die sich gegen Diskriminierung einsetzt, ist ständiger Einschüchterung ausgesetzt. Die Behörden haben wärend der Evaluierungszeit für die Olympia-Bewerbung deren Vertreter verhaftet. Die Mitglieder der IOK-Kommission trafen sich weder mit der Gruppe noch haben sie öffentlich ihre Sorge darüber geäußert, wie die Regierung gegen die NGO vorgeht, die kritisch die Einhaltung der Antidiskriminierungsverpflichtung überprüft.
„Wir haben schon einmal Olympische Spiele gesehen, die zu noch mehr Menschenrechtsverletzungen in China geführt haben, und das Umfeld im Jahr 2015 ist wesentlich schlechter als 2008“, so Worden.
Bei Kasachstan geht der Bericht der Untersuchungskommission nicht ausreichend auf potentielle Gefahren für die Rechte der Arbeiter, Medienfreiheit und Versammlungsfreiheit ein. In dem Bericht heißt es, die Regierung habe Zusicherungen gegeben, dass das Recht zu demonstrieren und die Medienfreiheit, um ohne Enschränkung des Internets über die Spiele und ihre Vorbereitung zu berichten, gewährleistet würden. Zudem sollen die Arbeiterrechte geachtet werden und keine Zwangsumsiedlung stattfinden. Jedoch wird nicht klar, was diese Zusicherungen eigentlich bedeuten, abgesehen von umfangreichen Belegen, dass die Regierung diese Rechte nicht ausreichend schützt. Viele unabhängige Medien wurden in den letzten Jahren von der Regierung geschlossen. Die Behörden griffen in friedliche Streiks ein, verhafteten Arbeitsaktivisten und lösten regelmäßig friedliche Proteste auf.
Das Parlament verabschiedete nur kurz nach dem Besuch der Kommission Mitte Februar ein diskriminierendes Gesetz gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) und leiteten das Gesetz zur Unterschrift an den Präsidenten Nursultan Nazarbaev weiter, entgegen der olympischen Antidiskriminierungs-Regelung. Später entschied der kasachische Verfassungrat, dass das Gesetz zu unpräzise und deshalb verfassungswidrig sei. Ein Abgeordneter schlug vor, eine neue Version im Laufe des Jahres vorzulegen.
„Kasachstan soll wissen, dass es keinerlei Toleranz für diskriminierende LGBT-Gesetze gibt. Die gilt auch für Menschenrechtsverletzungen gegen Arbeiter und Eingriffe in die Medienfreiheit oder friedliche Proteste“, so Worden.
Das Internationale Olympische Komitee soll sicherstellen, dass der Vertrag für das Gastgeberland 2022 Bedingungen enthält, durch die das Land die Menschenrechte achten und schützen muss. Dies soll sowohl für dieVorbereitungen als auch für die Austragung der Spiele gelten. Zudem sollen Verstöße sanktioniert werden. Das IOK soll auch eigene Expertise im Bereich Menschenrechte entwickeln sowie einen unabhängigen Überprüfungsmechanismus aufbauen, durch den regelmäßig die Einhaltung der Menschenrechtsbedingungen aus dem Gastgebervertrag kontrolliert wird.
„Es gibt genug Belege dafür, dass es oft zu mehr Menschenrechtsverletzungen bei der Olympia-Vorbereitung und der Ausrichtung der Spiele kommt, wenn sie an ein Land vergeben werden, das bereits eine schlechten Menschenrechtsbilanz hat. Dies wirft einen Schatten auf die gesamte Veranstaltung“, so Worden weiter. „Das IOK hat nun mit den Spielen 2022 die klare Chance, sich bei den Menschenrechten besonders hervorzutun und den Gastgeber auch in die Pflicht zu nehmen.“
Russland: Straffreiheit bei Gewalt gegen LGBT
(Moskau) – Die russischen Behörden kommen ihrer Pflicht nicht nach, homophobe Gewalttaten zu verhindern oder strafrechtlich zu verfolgen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Immer mehr lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Personen (kurz LGBT) in Russland wurden seit der Verabschiedung des Anti-LGBT-Propagandagesetzes im Juni 2013 landesweit Opfer von Gewalt und Belästigung. Dieses Gesetz ist quasi ein Freibrief für die Diskriminierung von LBGT und macht diese zu Menschen zweiter Klasse.
Der 85-seitige Bericht „License to Harm: Violence and Harassment against LGBT People and Activists in Russia” basiert auf mehreren Dutzend ausführlichen Interviews mit LGBT und LGBT-Aktivisten in 16 Städten in ganz Russland, die Opfer von Angriffen oder massiver Belästigung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Genderidentität wurden. Die betroffenen LGBT gaben an, geschlagen, entführt, erniedrigt und als „Pädophile“ oder „Perverse“ beschimpft worden zu sein. Bei den Tätern handelte es sich in manchen Fällen um homophobe Bürgerwehrgruppen, in anderen waren es Fremde in der U-Bahn, auf der Straße, in Nachtclubs, in Cafés und in einem Fall auch in einem Bewerbungsgespräch.
„Die Gewalt, die LGBT in Russland erfahren, ist zweifellos durch Homophobie motiviert. Die Behörden ignorieren jedoch bewusst, dass es sich hierbei um sogenannte Hasskriminalität handelt. Die Opfer werden nicht geschützt”, sagt Tanya Cooper, Russland-Expertin von Human Rights Watch. „Die russischen Behörden sollen in Fällen von homophober Gewalt ordnungsgemäß und gründlich ermitteln und nicht zur Diskriminierung von LGBT beitragen oder dulden.“
Human Rights Watch dokumentierte die Stigmatisierung, die Belästigungen und die Gewalt, denen LGBT in Russland tagtäglich ausgesetzt sind. Die meisten Betroffenen, mit denen Human Rights Watch sprach, gaben an, dass sich die Situation seit 2013 massiv verschlechtert habe. In einigen Fällen handelte es sich bei den Angreifern um Anti-LGBT-Bürgerwehrgruppen, die Ende 2012 zu Dutzenden in russischen Städten auftauchten. Diese Gruppen radikaler Nationalisten locken regelmäßig schwule Männer und Teenager zu fingierten Verabredungen, halten sie dann gegen ihren Willen fest, erniedrigen sie und stellen sie bloß, indem sie die Vorgänge aufzeichnen. Hunderte solcher Videos, die derartige Menschenrechtsverletzungen zeigen, wurden bereits online gestellt.
„Ich spürte Blut in meinem Mund, aber erst später habe ich erfahren, dass die Angreifer mir an zwei Stellen den Kiefer gebrochen hatten.”, so ein Opfer einer Bürgerwehrgruppe.
In anderen Fällen berichteten LGBT, dass sie bei alltäglichen Aktivitäten unvermittelt von Fremden angegriffen wurden. Die Opfer berichteten Human Rights Watch, dass sie verfolgt und in vielen Fällen geschlagen wurden. Die Angreifer beschimpften sie dabei als „Schwuchteln“. Auch andere homophobe Beleidigungen wurden ihnen in der Öffentlichkeit entgegengeschleudert.
LGBT-Aktivisten werden auch bei öffentlichen Veranstaltungen für die Gleichstellung Opfer von Belästigung und körperlicher Gewalt. Die große Mehrheit der Aktivisten, mit denen Human Rights Watch sprach, waren seit 2012 mindestens einmal bei einer solchen Veranstaltung angegriffen worden. Diese Angriffe fanden in verschiedenen russischen Städten statt. Obwohl Gegendemonstranten die Aktivisten regelmäßig angreifen und bedrängen, ergreift die Polizei keine effektiven Maßnahmen, um derartige Angriffe zu verhindern und die Aktivisten zu schützen.
Von den 78 Opfern homophober und transphober Gewalt, die Human Rights Watch für den Bericht interviewte, haben 22 den jeweiligen Angriff nicht der Polizei gemeldet. Gründe hierfür waren die Angst vor Belästigung durch die Polizei selbst sowie die Angst, die Polizei würde die Angriffe nicht ernst nehmen. Viele Opfer sind der Meinung, es sei reine Zeitverschwendung, sich bei der Polizei zu melden. Tatsächlich hat die Polizei nur in wenigen Fällen, in denen Anzeige erstattet wurde, Ermittlungen eingeleitet.
„Die russischen Strafverfolgungsbehörden verfügen über alle Mittel und Wege, um in Fällen von homophober Gewalt zu ermitteln. Sie wollen die Taten jedoch einfach nicht untersuchen“, so Cooper. „Das Versagen der Behörden, homophoben Übergriffen und Gewalttaten ein Ende zu setzen, bedeutet ein noch größeres Risiko für LGBT und LGBT-Aktivisten, Opfer von Angriffen zu werden.
Von einigen vereinzelten Ermittlungen abgesehen, haben die Behörden bislang nur wenig getan, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
In Russland existieren durchaus Gesetze gegen Hasskriminalität, die Strafverfolgungsbehörden stufen jedoch selbst eindeutig homophobe Angriffe nicht als Hasskriminalität ein. Nicht ein einziger der im Bericht dokumentierten Fälle wurde als Hassverbrechen behandelt und entsprechend untersucht. In den Fällen, in denen die Polizei tatsächlich Ermittlungen einleitete, tat sie dies nur widerwillig und ablehnend. Häufig wurde den Opfern die Schuld für den Angriff gegeben. Nur in drei der 44 Fälle, in denen die Opfer Anzeige erstattet hatten, kam es zu einem Strafverfahren. Wenigstens zwei Angreifer wurden verurteilt, allerdings standen die verhängten Strafen in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den die Opfer erlitten hatten.
Anstatt Anti-LGBT-Gewalt und –Rhetorik öffentlich zu verurteilen, schweigt Russlands Führungsspitze. In einigen Fällen haben die politischen Verantwortlichen sogar selbst Hassparolen gegen LGBT verbreitet.
Zudem wurden LBGT oder LGBT-Aktivisten, die als Lehrkräfte an Schulen, Universitäten oder in Gemeindezentren für Kinder arbeiten, zu Opfern von Hetzkampagnen. Ziel dieser Kampagnen ist es, die Betroffenen zu diffamieren und sie allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als Bedrohung für Kinder darzustellen. Die meisten Betroffenen haben ihre Arbeit verloren.
Das 2013 in Kraft getretene Gesetz verbietet „Propaganda von nicht konventionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen”. Das Gesetz ist nur eine von verschiedenen Maßnahmen, die 2013 vorgeschlagen oder verabschiedet wurden. Ein Verstoß gegen das Gesetz stellt ein Vergehen dar, das mit unterschiedlich hohen Geldstrafen geahndet wird.
„Das Anti-LGBT-Propagandagesetz bietet für niemanden Schutz. Für homophobe Menschen ist es jedoch ein willkommener Grund, zu glauben, dass die Regierung LGBT nicht als gleichwertig betrachtet”, so Cooper. „Die russische Regierung soll das Gesetz widerrufen und der Diskriminierung von LGBT in Russland ein Ende setzen.“
Ausgewählte Zeugenaussagen
„Ich spürte Blut in meinem Mund, aber erst später habe ich erfahren, dass die Angreifer mir an zwei Stellen den Kiefer gebrochen hatten. Sie brachten mich zu einem leerstehenden Hof in der Nähe und fragten mich: ,Also, wie regeln wir das jetzt?‘ ,Wir könnten dir die Arme und Beine brechen oder…‘ Ich wusste, dass sie Geld wollten…Bevor sie mich gehen ließen, fragten sie mich: ,Weißt du, was man in Russland schon immer mit Schwulen gemacht hat? Man hat sie aufgespießt.’”
– Zhenya Zh. (Name geändert), Opfer einer Anti-LGBT-Bürgerwehr
„Sie zwangen mich dazu, mich in die Mitte des Kreises zu stellen, den sie um mich herum gebildet hatten. Sie stellten mir Fragen zu meinem Sexleben und zu meinen sexuellen Vorlieben und dann zwangen sie mich, zu schreien, dass ich schwul und pädophil sei. Sie selbst nannten sich ,Athleten gegen Pädophilie’ und sagten mir: ,Wir werden euch alle erwischen und wir werden euch beibringen, wie man ein anständiges Leben führt.‘ Es war etwa 5 Uhr nachmittags, daher waren viele Leute im Einkaufszentrum, die einkauften und aßen. Aber niemand ist stehengeblieben, niemand hat eingegriffen.”
– Slava S. (Name geändert), Opfer einer Anti-LGBT-Bürgerwehr
„Ein Mann kam in der U-Bahn auf mich zu und fragte mich, ob ich keine Angst hätte ,so angezogen auf die Straße zu gehen‘. Dann beleidigte er mich lautstark, er nannte mich eine, Schwuchtel‘ und forderte die Leute auf, mich genau anzuschauen. Dann folgte er mir in den Zug, wo er mich erneut als ,Schwuchtel‘ beschimpfte und mir ins Gesicht schlug.
– Ivan (Johnny) Fedoseyev, ein schwuler Mann, der von einem Fremden in der U-Bahn von Sankt Petersburg angegriffen wurde.
Standpunkt: Wladimirs Geschichte – Flüchtling wegen sexueller Orientierung
Im vergangenen Sommer setzte ich mich in einem Zug nach Berlin neben einen jungen Mann, der einen russischen Roman las. Wir fingen an, uns zu unterhalten. Der junge Mann hieß Wladimir, und er erzählte mir von seiner Verzweiflung. Vor kurzem war er aus Russland geflohen, aus Angst um seine Sicherheit. Wladimir ist schwul, und seine Nachbarn hatten ihm damit gedroht, ihn aufgrund seiner sexuellen Orientierung zusammenzuschlagen. Sie sagten, er sei „nicht normal“ und dass die Regierung russische Kinder vor dem negativen Einfluss der Homosexualität schützen müsse.
Seine Nachbarn schienen sich dabei auf das Gesetz zum Verbot von „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ zu stützen, das Anti-Homosexuellen-Gestetz, das 2013 in Kraft trat. Obwohl sich das Gesetz auf die Verbreitung positiver Einstellungen zu Homosexualität in der Gegenwart von Kindern bezieht, nehmen viele die Botschaft mit, dass homosexuelle Menschen Kindern nachstellen und nicht unter Leute gehören.
Wladimir hatte Angst. Er schloss die Tür seiner Wohnung im sechsten Stock möglichst leise, wenn er sie verließ, und nahm die Treppe, um eine Begegnung mit seinen Nachbarn zu vermeiden. Eines Tages wurde Wladimir in der U-Bahn Station nahe seiner Moskauer Wohnung von einer Gruppe Hooligans angegriffen. Sie schrien, er sei eine „Schwuchtel“, traten ihn und schlugen ihm ins Gesicht, bis seine Nase anfing zu bluten. In der U-Bahn-Station waren viele Menschen, aber keiner kam Wladimir zu Hilfe.
„Bist du zur Polizei gegangen?“, habe ich ihn gefragt. Er zuckte nur mit den Schultern: „Ich habe kein Vertrauen in die. Sie werden mich nicht beschützen, sie hassen Schwule.“
Einige Tage nach dem Übegriff verließ Wladimir Russland und kam nach Berlin. Als er den Antrag auf Asyl aufgrund seiner sexuellen Orientierung stellte, fragten ihn die deutschen Behörden nach einem Nachweis, dass er angegriffen worden war, weil er schwul ist. Aber Wladimir hat keine Dokumente, die er einreichen kann und die belegen können, dass er das Opfer eines homophoben Angriff war. Er sagte mir, er sei besorgt, dass die deutschen Behörden seinen Antrag als nicht glaubhaft abweisen und ihn zurück nach Russland schicken werden.
Ich wurde an diese zufällige Begegnung erinnert, als der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg am 2. Dezember eine wegweisende Entscheidung erließ, die sich direkt auf die Erfahrungen von Menschen wie Wladimir auswirkt. Der Gerichtshof war von niederländischen Anwälten um eine Stellungnahme dazu gebeten worden, wo die Grenzen liegen, wenn es darum geht, die sexuelle Orientierung von Asylsuchenden zu überprüfen.
Das Gericht entschied, dass die Aussage des Asylsuchenden der Ausgangspunkt für die Einschätzung sein sollte, ob der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird und dass solche Aussagen gegebenenfalls der Bestätigung bedürfen. Jedoch sollte ein Antrag nicht nur deswegen abgelehnt werden, weil ein Antragsteller sich weigert, Fragen über stereotype Auffassungen von Homosexualität zu beantworten. Solche Fragen sollten von vornherein nicht gestellt werden. Außerdem dürfen Behörden auch keine detaillierten Fragen zu den Sexualpraktiken des Asylsuchenden stellen. Sogenannte Tests, um die Sexualität zu beweisen, und das Akzeptieren von „Beweismaterial“ in Form von Filmmitschnitten von homosexuellen Handlugnen sind untersagt. Der Gerichtshof betonte, dass derartige Praktiken die Menschenwürde und das Recht auf Privatsphäre laut EU Gesetz beeinträchtigen. Das Gericht entschied außerdem, dass die Glaubwürdigkeit des Antragsteller nicht beeinträchtigt wird, wenn er seine sexuelle Orientierung erst später während des Verfahrens bekannt gibt.
Alle EU Behörden, die homosexuelle Asylsuchende befragen, sollen sich an diese Standards halten, die der Gerichtshof der Europäischen Union festgesetzt hat. Damit wird es Menschen wie Wladimir hoffentlich möglich sein, einen neuen Start in ein Leben in Würde zu vollziehen.
Russland: Gewalt gegen Schwule vor laufender Kamera
Die russischen Behörden sollen gegen die weitverbreiteten und organisierten Menschenrechtsverletzungen gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) und LGBT-Aktivisten vorgehen. Die Tatenlosigkeit der Behörden und die homophoben Äußerungen einiger Beamter nähren die Schikanierung und Gewalt und bestärken die Täter.
Russland: Spiele in Sotschi werfen Schlaglicht auf homophobe Gewalt
(Moskau) – Die russischen Behörden müssen gegen die sich verschlimmernde und weit verbreitete Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) sowie gegen LGBT-Aktivisten vorgehen. Das Versagen der Behörden und homophobe Kommentare von Regierungsvertretern liefern LGBT-Personen weiteren Belästigungen aus und ermutigen die Angreifer, so die Ergebnisse der Untersuchungen von Human Rights Watch.
Als Gastland der diesjährigen Olympischen Winterspiele, die am 7. Februar in Sotschi beginnen, soll Russland sich entsprechend des Nichtdiskriminierungsgrundsatzes verhalten, der eine zentrale Vorschrift der Olympischen Charta ist. Als Mitgliedstaat des Europarats und Unterzeichner verschiedener Menschenrechtsabkommen soll Russland seiner Verpflichtung gerecht werden, die Anerkennung und den Schutz von LGBT-Personen zu gewährleisten.
„Die russischen Behörden haben die Macht, die Rechte von LGBT-Menschen zu schützen, aber stattdessen ignorieren sie ihre Verantwortung“, so Tanya Cooper, Russland-Expertin von Human Rights Watch. „Sie senden eine gefährliche Botschaft, indem sie die Augen vor hasserfüllten, homophoben Aussagen und Gewalt verschließen. Während die ganze Welt für die Olympischen Spiele ins Land kommt, behauptet die russische Regierung, dass Angriffe auf homosexuelle Menschen in Ordnung sind.“
Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender werden in Russland tagtäglich stigmatisiert, belästigt und tätlich angegriffen. Organisationen und Betroffene von Gewalt berichten, dass sich die Lage im vergangenen Jahr verschärft hat. Betroffene in Städten wie Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk schildern, dass sie an öffentlichen Plätzen angegriffen, verschleppt, geschlagen, belästigt, bedroht und psychisch misshandelt wurden. Sie sagen, dass sie sich aus Angst vor neuerlichen Belästigungen nicht an die Polizei wandten und überzeugt sind, dass die Polizei die Angreifer ohnehin nicht verfolgen würde. Wenn Betroffene doch Anzeige erstatteten, folgten darauf nur selten Ermittlungen.
Aussagekräftige Daten über homophobe Übergriffe gibt es nicht. Daher ist es unmöglich, exakte Angaben darüber zu machen, in welchem Umfang Gewalt und Belästigungen im Jahr 2013 zugenommen haben. Allerdings sprechen alle Betroffenen und LGBT-Gruppen übereinstimmend davon, dass homophobe Übergriffe seit Ende 2012 eskalieren.
Das russische LGBT-Netzwerk, eine Dachorganisation mit Sitz in St. Petersburg, führte im vergangenen Jahr eine anonyme Umfrage zu Diskriminierungserfahrungen unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in Russland durch. Mehr als 50 Prozent der 2.007 Teilnehmer gaben an, psychische Gewalt erlebt zu haben, 15 Prozent wurden tätlich angegriffen. Nur sechs Prozent der Betroffenen wandten sich an die Polizei.
Über mindestens drei mutmaßlich homophob motivierte Morde wurde im Mai berichtet, einen Monat vor der Verabschiedung des landesweiten Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“.
Die Verabschiedung des Gesetzes zum Verbot von „Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ ist eines von mehreren LGBT-feindlichen Gesetzen, die im Jahr 2013 auf Landesebene vorgeschlagen oder verabschiedet wurden. Im gleichen Zeitraum eskalierte die homophobe Gewalt. Verstöße gegen die Gesetze sind Ordnungswidrigkeiten, die mit Bußgeldern geahndet werden. Insbesondere Medien und Organisationen werden mit exorbitanten Strafen belegt. Am 30. Januar verurteilte ein Gericht einen Zeitungsredakteur in Chabarowsk im Osten Russlands wegen eines Verstoßes gegen das Propaganda-Gesetz zu einem Bußgeld in Höhe von umgerechnet 1.055 Euro. Der Redakteur wurde dafür belangt, dass er ein Interview mit einem schwulen Lehrer geführt hatte, der seine Stelle auf Grund seiner sexuellen Orientierung verloren hatte. Diesen hatte er mit der Aussage zitiert, „meine Existenz beweist, dass Homosexualität normal ist“. Der Redakteur wird gegen das Urteil Berufung einlegen.
Auch Ausländer, die gegen das Gesetz verstoßen, können mit Bußgeldern belegt sowie für bis zu 15 Tagen inhaftiert und ausgewiesen werden.
Das Gesetz verbietet auch, „traditionelle“ und „nichttraditionelle“ Beziehungen als gleichermaßen akzeptabel darzustellen. Deshalb ist nun jede öffentliche, positive Äußerung über Homosexualität illegal, genau wie einem Kind zu sagen, dass nichts falsch daran ist, homosexuell zu sein oder bei homosexuellen Eltern aufzuwachsen.
Parallel zu den gesetzlichen Änderungen starteten insbesondere regierungsnahe und staatlich finanzierte Medien eine massive homophobe Kampagne. Regierungsangehörige, Journalisten und bekannte Persönlichkeiten bezeichneten LGBT-Personen öffentlich als „Perverse“, „Sodomiten“ und „abnormal“ und setzten Homosexualität mit Pädophilie gleich. Der stellvertretende Leiter eines staatlichen Fernseh- und Radiounternehmens, der zugleich einer der bekanntesten Talk Show-Moderatoren Russlands ist, schlug vor, die Herzen von homosexuellen Organspendern zu „verbrennen oder zu vergraben“, statt sie für Transplantationen zu verwenden. Sie seien „ungeeignet, um irgendein Leben zu verlängern“.
„Die LGBT-feindlichen Gesetze und die Hassrede im staatlichen Fernsehen haben ein Klima der Intoleranz gegenüber der russischen LGBT-Bevölkerung geschaffen“, sagt Cooper. „Die Verantwortlichen sollen die homophobe Hysterie bekämpfen, nicht unterstützen. Sonst wird das Schweigen des Kremls als Entschuldigung für die Gewalt verstanden.“
Ende des Jahres 2012 begannen unzählige, radikal nationalistische Bürgerwehren, homosexuelle Menschen in Dutzenden russischen Städten anzugreifen und zu belästigen. Die Gruppen geben vor, Pädophilie zu bekämpfen. Meistens locken sie Männer und Jungen zu Treffen, bezeichnen sie als schwul, beleidigen und verprügeln sie. Sie veröffentlichen Videos davon in sozialen Netzwerken und setzen ihre Opfer damit wissentlich weiteren Misshandlungen aus. Hunderte solcher Videos kursieren im Internet.
Während eines Treffens in Krasnaja Poljana, einem Austragungsort der Olympischen Spiele, am 17. Januar 2014 sagte Präsident Putin, dass homosexuelle Menschen in Sotschi willkommen seien und sich dort „wohlfühlen“ würden. Doch dann forderte er sie auf, „Kinder in Ruhe zu lassen“.
„Regierungsvertreter ermuntern homophobe Menschen zu gewalttätigen Angriffen, wenn sie immer wieder Homosexualität mit Pädophilie gleichsetzen“, so Cooper. „Derart abschreckende und fehlgeleitete Aussagen über LGBT-Personen vom Staatsoberhaupt sind unverantwortlich und äußerst gefährlich.“
Seit langem reagieren die Behörden mit Intoleranz und ein Teil der Öffentlichkeit mit gewalttätigen Gegendemonstrationen auf Veranstaltungen zur Förderung der Rechte von LGBT-Personen. Dabei werden LGBT-Aktivisten zunehmend zum Ziel massiver Angriffe. Human Rights Watch hat tätliche Angriffe auf LGBT-Aktivisten in den Jahren 2012 und 2013 in verschiedenen russischen Städten dokumentiert, darunter Woronesch, St. Petersburg, Moskau und Nowosibirsk.
Auch die Drohungen gegen und die Einschüchterung von russischen LGBT-Organisationen nahmen im vergangenen Jahr zu. Unterschiedliche LGBT-Gruppen und ihre Mitarbeiter wurden attackiert, bedroht und in ihrer Arbeit beeinträchtigt. Ein besonders schockierender Angriff wurde im November in LaSky in St. Petersburg verübt, einem Zentrum zur HIV-Prävention für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender und Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex haben. Zwei Personen drangen während einer Veranstaltung in das LaSky-Büro ein und griffen die Teilnehmer an. Einer Person schossen sie mit einer Druckluftpistole ins Auge, eine andere verprügelten sie mit einem Baseball-Schläger.
„Die russischen Behörden haben lange geleugnet, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender diskriminiert werden, auch vor dem Internationalen Olympischen Komitee. Aber Feindseligkeit und Gewalt nehmen eindeutig zu“, so Cooper. „Nun richtet Russland in einer von Homophobie vergifteten Atmosphäre die Olympischen Spiele aus. Nicht nur deshalb muss die Regierung unverzüglich aktiv werden, um die Rechte von LGBT-Menschen zu stärken und sie zu schützen.“
Belästigung und tätliche Angriffe gegen LGBT-Personen
Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender oder Personen, die dafür gehalten werden, sind in Russland das Ziel gewalttätiger Übergriffe. Die Angreifer belästigen die Betroffenen an öffentlichen Orten, etwa in der U-Bahn, auf offener Straße oder in Cafés, beschimpfen sie als „schwul“ oder als wie eine „Schwuchtel“ angezogen, und drohen ihnen Gewalt an.
Ivan Fedosejev, ein 21-jähriger, schwuler Mann aus St. Petersburg, berichtet, dass er im Jahr 2013 mindestens viermal auf Grund seiner sexuellen Orientierung belästigt wurde. Mehrmals bedrängten ihn Unbekannte auf offener Straße, wollten wissen, ob er Sex mit Männern habe, und versuchten, ihn tätlich anzugreifen.
Im August war Fedosejev auf dem Weg zu einer Modenschau, er trug modische Kleidung. Ein Mann kam in der U-Bahn auf ihn zu und fragte ihn, ob er keine Angst habe, „so“ vor die Tür zu gehen. Der Mann fragte Fedosejev: „Weißt du nicht, dass wir Gesetze haben, die Schwule verbieten?“. Dann fing er an, Fedosejev als „Schwuchtel“ zu beschimpfen, und schlug ihm ins Gesicht. Fedosejev verließ die Bahn an der nächsten Haltestelle. Er erstatte keine Anzeige, weil er dachte, das würde nichts bringen.
„Das Gesetz hat homophoben Leuten grünes Licht gegeben, uns anzugreifen“, sagt Fedosejev.
Eine Trans-Frau, Risa R. (Name geändert), wurde im Sommer 2013 in St. Petersburg entführt und brutal misshandelt. Vier Angreifer zwangen sie in ein Auto und brachten sie an den Stadtrand, wo sie sie nackt auszogen, verprügelten und ihr zwei Zehennägel mit einer Zange ausrissen.
„Sie nannten mich die ganze Zeit ‚Schwuchtel‘ und sagten immer wieder, dass sie Schwule hassen. Ich sagte ihnen, dass ich nicht schwul bin, sondern eine Trans-Frau, aber sie wollten gar nicht zuhören. Einer von ihnen sagte, ‚du bist nichts als eine Schwuchtel. Wir machen dein Gehirn jetzt wieder normal.‘ Sie drohten mehrmals, mich zu vergewaltigen. Dann holten sie Zangen aus dem Auto und rissen zwei meiner Zehennägel aus. Hinterher sagten sie: ‚Jetzt bist du besser dran. Jetzt bist du schön.‘”
Die Angreifer nahmen ihre Kleider, fuhren weg und ließen Risa nackt und blutend zurück. Sie musste viereinhalb Stunden zu Fuß nach Hause laufen.
„Das einzige, was in dem Moment für mich zählte, war, dass ich zuhause war, dass ich lebte“, sagt sie. „Ich sagte mir, dass ich meine Füße einfach nicht ansehe, ich hatte schon genug Schmerz erlebt in dieser Nacht.“
Risa ging nicht in ein Krankenhaus, weil sie Angst davor hatte, gefragt zu werden, wie sie sich verletzt hatte. Sie erstattete auch keine Anzeige, weil sie „keine Illusionen hatte, dass die Polizei den Angriff untersuchen würde“.
In den folgenden Monaten wurde Risa auf offener Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln noch mehrmals verbal und tätlich angegriffen.
Gewalt gegen und Belästigung von LGBT-Personen durch organisierte Bürgerwehren
Seit Ende 2012 haben Angehöriger einer Gruppe namens „Occupy Pedophilia“ homosexuelle Menschen in vielen russischen Städten belästigt und angegriffen, unter dem Vorwand, Pädophilie zu bekämpfen und Kinder zu schützen. „Occupy Pedophilia“ ist eine locker organisierte Gruppe von Bürgerwehren, die sich selbst als „soziale Bewegung“ bezeichnet.
Maksim Martsinkevich, auch bekannt als „Tesak“ (dt. etwa „Beil“ oder „Axt“), gründete die Gruppe. Er gehörte auch einer Neonazi-Organisation an und ist für Hassrede und Gewalttaten bekannt. Im Jahr 2009 wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Anstachelung zu ethnischer Gewalt verurteilt und Ende des Jahres 2010 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen.
Im Dezember 2013 stellte ein Moskauer Gericht einen Haftbefehl gegen Martsinkevich aus, der sich zu dem Zeitpunkt in Kuba aufhielt. Er wurde wegen Extremismus-Vorwürfen gesucht, die nicht im Zusammenhang mit der Gewalt gegen LGBT-Personen stehen, die seine Gruppe verübt. Im Januar haben die kubanischen Behörden Martsinkevich festgenommen und nach Russland abgeschoben. Die russischen Behörden verhafteten ihn am 27. Januar in einem Moskauer Flughafen.
„Occupy Pedophilia“ ist eine ausdrücklich homophobe Bewegung, die Männer in einen Hinterhalt lockt, die auf der Suche nach gleichgeschlechtlichen Begegnungen sind. Die Mitglieder der Gruppe beschimpfen ihre Opfer mit homophoben Beleidigungen und misshandeln sie körperlich vor laufender Kamera. Die Videos veröffentlicht die Gruppe auf unterschiedlichen Websites, um ihre Opfer zusätzlich zu demütigen.
Die Gruppe hat in unterschiedlichen Städten Angriffe verübt, darunter St. Petersburg, Krasnodar, Kaliningrad, Nowosibirsk, Ufa, Rjazan, Rostow, Tula, Omsk, Razan, Magnitogorsk und Irkutsk. Auf der Website der Gruppe befinden sich Hunderte Videos aus mehr als 30 Städten in Russland.
Andere nationalistische Gruppen ohne direkte Verbindungen zu „Occupy Pedophilia“ bedienen sich ähnlicher Methoden, um LGBT-Personen anzugreifen.
Human Rights Watch hat mehrere Betroffene befragt, die von diesen Bürgerwehren angegriffen wurden. Zhenja (aus Sicherheitsgründen keine Angaben zu Nachnamen und Stadt), 28 Jahre, wurde im Juli von einer Bürgerwehr in einen Hinterhalt gelockt, geschlagen und ausgeraubt. Als er am Ort eines arrangierten „Dates“ ankam, umzingelten ihn mehrere Männer im Alter von Mitte bis Ende 20. Sie beschimpften ihn als Pädophilen und schlugen ihn mehrmals, brachen ihm an zwei Stellen den Kiefer. Die Angreifer zwangen ihn, ihnen etwa 1.000 Euro zu geben.
Zhenja erstattete ein paar Tage später Anzeige, aber die Polizei hat keine nennenswerten Ermittlungen angestellt oder Verdächtige identifiziert. Es dauerte vier Monate, bis Zhenja sich von seinen Verletzungen erholt hatte.
Angriffe und Einschüchterung gegen LGBT-Aktivisten
Russische LGBT-Aktivisten berichteten von gewaltsamen Ausschreitungen und Einschüchterungen durch homophobe Aktivisten im Zusammenhang mit nahezu allen öffentlichen Veranstaltungen für die Menschenrechte und Gleichheit von LGBT-Personen. In der Mehrzahl der Fälle hat die Polizei keine angemessenen Maßnahmen ergriffen, um die Belästigungen und Angriffe zu verhindern oder zu unterbinden. In einigen Fällen wandten Polizisten übermäßige Gewalt gegen LGBT-Aktivisten an und verhafteten sie willkürlich.
Am 20. Januar 2013 versammelte sich eine kleine Gruppe von LGBT-Aktivisten in Woronesch, um gegen den Gesetzesentwurf gegen „homosexuelle Propaganda“ zu protestieren. Als ein Dutzend LGBT-Aktivisten an dem Ort ankamen, waren sie mit einer großen Gruppe Gegendemonstranten und sehr wenigen Polizisten konfrontiert.
Andrej Nasonow, ein LGBT-Aktivist, der bei der Demonstration angegriffen wurde, berichtete: „Als ich zum Hauptplatz kam, sah ich maximal zehn Polizisten, keiner davon war von OMON [Bereitschaftspolizei]. Ich sah eine große Gruppe homophober Demonstranten, etwa 500 Personen, die auf mich zu rannten, sobald ich mein Plakat ausgepackt hatte, auf dem „Stoppt den Hass“ stand. Zwei Männer stießen mich, ich fiel, und sie fingen an, mir gegen den Kopf zu treten. Als sie endlich aufhörten, stand ich auf, lief ein paar Schritte und wurde ohnmächtig.“
Nasonow erstattete Anzeige bei der örtlichen Polizei, aber die zog niemanden für den Angriff zur Verantwortung. Nasonow sagt, dass er sich seitdem an öffentlichen Orten unsicher fühlt und unter Depressionen leidet.
Am 29. Juni versammelte sich eine Gruppe LGBT-Aktivisten auf dem Marsfeld in St. Petersburg, um für LGBT-Rechte und gegen Diskriminierung und Gewalt auf Grund von sexueller Orientierung und Gender-Identität zu demonstrieren. Gegendemonstranten aus informellen, nationalistischen Gruppen griffen die Aktivisten verbal und tätlich an, viele von ihnen wurden in ein Krankenhaus eingeliefert.
Augenzeugenberichten zufolge haben die Polizisten vor Ort keine angemessenen Maßnahmen ergriffen, um die Aktivisten zu schützen. Stattdessen verhafteten sie wahllos und willkürlich 60 LGBT-Aktivisten. Diese sollten zunächst Geldstrafen zahlen, was später zurückgezogen wurde.
Human Rights Watch hat weitere Fälle von Gewalt und Belästigung gegen LGBT-Aktivisten dokumentiert, die sich in Moskau, St. Petersburg, Nowosibirsk, Woronesch, Samara und Kazan ereigneten.
Drohungen und Einschüchterung gegen russische LGBT-Organisationen
Im Jahr 2013 wurde vielen russischen LGBT-Organisationen Gewalt angedroht und ihre Aktivitäten wurden gestört.
Side by Side, ein internationales LGBT-Filmfestival in St. Petersburg, erlebte in diesem Ausmaß bisher unbekannte Belästigungen durch homophobe Aktivisten. Im November wurden mehrere Filmvorführungen durch anonyme Bombendrohungen gestört, verzögert oder verlegt. Eine Person wurde verhaftet, weil sie eine Bombendrohung ausgesprochen hatte, aber es liegen keine Berichte vor über Verhaftungen im Zusammenhang mit anderen Vorfällen.
Mitarbeiter des russischen LGBT-Netzwerks berichteten, dass sie von schwulenfeindlichen Aktivisten in St. Petersburg im November bedroht wurden. Eine homophobe Beleidigung wurde quer über die Bürotür von Coming Out, eine andere St. Petersburger LGBT-Gruppe, geschmiert.
USA drohen Internationalem Strafgerichtshof
Permanent premises of the International Criminal Court in The Hague, the Netherlands. © 2018 Marina Riera Rodoreda/Human Rights Watch
(Washington, D.C., 15. März 2019) - Die Entscheidung der Vereinigten Staaten, Einreiseverbote gegen Mitarbeiter des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu verhängen, wird die Strafverfolgung schwerer internationaler Verbrechen gefährden, so Human Rights Watch heute. US-Außenminister Michael Pompeo kündigte am 15. März 2019 an, dass die Verbote für jene IStGH-Mitarbeiter gelten sollen, die an möglichen Ermittlungen gegen US-Bürger durch das Gericht beteiligt sind. Das Verbot könnte möglicherweise auch dazu genutzt werden, Ermittlungen durch den IStGH gegen Bürger aus verbündeten Ländern der USA zu verhindern.
Die Maßnahmen der USA wurden offensichtlich durch mögliche Ermittlungen des IStGH in Afghanistan vorangetrieben. Dabei könnte das Verhalten von US-Militärs untersucht werden. Ein weiterer Grund ist eine mögliche Untersuchung in Palästina, die wahrscheinlich auch das Verhalten von israelischen Beamten umfassen würde. Richter des IStGH werden darüber befinden, ob tatsächlich eine Untersuchung zu Afghanistan eingeleitet wird. Der IStGH-Ankläger wird entscheiden, ob er mit einer Untersuchung zu Palästina fortfahren will.
„Die Entscheidung der USA, Einreiseverbote gegen Mitarbeiter des IStGH zu verhängen, ist ein ungeheuerlicher Versuch, das Gericht zu schikanieren und die Überprüfung des Verhaltens von US-Militärs zu verhindern“, sagte Richard Dicker, Direktor der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Die Vertragsstaaten des IStGH sollen öffentlich klarstellen, dass sie das Gericht weiterhin unbeirrt unterstützen und eine Behinderung seiner Arbeit durch die USA nicht tolerieren werden.“
Beim IStGH handelt es sich um den ständigen internationalen Gerichtshof in Den Haag, dessen Aufgabe es ist, die Verantwortlichen für Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression vor Gericht zu stellen. Die internationale Gemeinschaft hat den IStGH ins Leben gerufen, um die Straflosigkeit für diese Verbrechen zu bekämpfen. Anlass hierfür waren die entsetzlichen Völkermorde, die Mitte der 90er Jahre in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien begangen wurden. Der IStGH ist ein Gericht letzter Instanz und leitet nur dann Ermittlungen ein, wenn die Behörden des jeweiligen Landes nicht bereit oder nicht in der Lage sind, in diesen Fällen effektive nationale Verfahren zu gewährleisten.
Die Richter des Internationalen Strafgerichtshofs haben noch nicht über den Antrag der Anklage vom November 2017 entschieden, bestimmte Verbrechen zu untersuchen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan seit Mai 2003 begangen wurden. Neben schweren Verbrechen der Taliban und der afghanischen Regierungstruppen könnte das Gericht auch mutmaßliche Verbrechen untersuchen, die von ausländischen Streitkräften begangen wurden, insbesondere vom US-Militär und dem US-Auslandsgeheimdienst CIA. Die meisten dieser Verbrechen sollen zwischen 2003 und 2004 verübt worden sein. Pompeo kündigte zudem an, dass die gleiche Politik angewandt werden kann, um Untersuchungen des Gerichts von verbündeten Streitkräften, einschließlich Israels, zu verhindern. Der Ankläger am IStGH untersucht mutmaßliche Verbrechen von Israelis und Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland. Palästina ist ein Vertragsstaat des Gerichtshofs.
Pompeo machte deutlich, dass die USA weitere Maßnahmen ergreifen werden, sollte der IStGH die Ermittlungen gegen US-Bürger weiter vorantreiben. In einer Rede vom September 2018 kündigte der Nationale Sicherheitsberater John Bolton eine Änderung der US-Politik gegenüber dem Gericht an und skizzierte mehrere Schritte, die die USA unternehmen würden, sollten die Untersuchungen des IStGH US-Bürger oder die Bürger von US-Verbündeten erreichen. Neben Einreiseverboten drohte Bolton mit Strafverfolgungsmaßnahmen und finanziellen Sanktionen gegen IStGH-Mitarbeiter sowie gegen Länder und Unternehmen, die das Gericht bei seinen Untersuchungen gegen US-Bürger unterstützen. Er warnte davor, dass die USA die seit langem aufgegebenen Bemühungen wieder aufnehmen könnten, Abkommen mit Ländern auszuhandeln, damit US-Bürgern nicht an das Gericht ausgeliefert werden. Auch könnten die diplomatischen, militärischen und nachrichtendienstlichen Beziehungen von Regierungen zu den USA gefährdet sein, sollten diese mit dem IStGH bei Ermittlungen gegen die USA oder ihre Verbündeten zusammenarbeiten.
„Trotz seiner Unzulänglichkeiten bleibt der Internationale Strafgerichtshof eines der wenigen verfügbaren Instrumente, um dort für Gerechtigkeit zu sorgen, wo nationale Gerichte versagen“, sagte Dicker. „In einer Zeit, in der die Gräueltaten im Südsudan, in Myanmar und Syrien immer weiter um sich greifen, senden die USA genau die falsche Botschaft, wenn sie Mitarbeiter des IStGH angreifen, nur weil sie ihre Arbeit tun, nämlich Opfern internationaler Verbrechen zu Gerechtigkeit zu verhelfen.“
Bolton war verantwortlich für eine aggressive Kampagne gegen den Gerichtshof in den frühen 2000er Jahren unter der George W. Bush-Regierung. Diese Bemühungen haben jedoch nur wenig mehr getan, als die Glaubwürdigkeit der USA im Bereich der internationalen Justiz zu untergraben. Die Kampagne wurde schließlich eingestellt. Mitglieder des US-Kongresses, die den IStGH als entscheidend für die internationale Justiz anerkennen, sollten einfordern, dass diese Politik unverzüglich wieder beendet wird.
Im Dezember gaben die IStGH-Mitgliedsländer bekannt, dass sie sich nicht von Drohungen gegen den Gerichtshof, seine Beamten und diejenigen, die mit ihm zusammenarbeiten, abschrecken ließen und gemeinsam gegen Straflosigkeit auftreten würden. Zusätzlich zu diesen öffentlichen Stellungnahmen müssen die Mitgliedsländer auch eng zusammenarbeiten, um die Arbeit des IStGH nicht durch die USA behindern oder einschränken zu lassen.
Die USA, die das Römische Statut des Gerichtshofs nicht ratifiziert haben, widersprechen der Zuständigkeit des IStGH für Staatsangehörige von Drittländern, ohne dass der UN-Sicherheitsrat das Gericht anruft. Afghanistan ist jedoch ein IStGH-Mitgliedsland und erteilt diesem somit die Befugnis, Verbrechen zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen, die von afghanischen Staatsangehörigen oder anderen Staatsangehörigen auf afghanischem Gebiet begangen wurden.
Diese Befugnis des Gerichts ist nichts Ungewöhnliches. US-Bürger und andere Bürger, die im Ausland Verbrechen begehen, unterliegen bereits der Zuständigkeit ausländischer Gerichte. Die Länder, die das Römische Statut ratifizieren, delegieren lediglich die Strafverfolgung für bestimmte schwere Verbrechen, die auf ihrem Territorium begangen wurden, an einen internationalen Gerichtshof.
Seit der Aufnahme der Tätigkeit im Jahr 2003 hat der IStGH Untersuchungen in zehn Ländern eingeleitet, darunter in Darfur im Sudan, in der Demokratischen Republik Kongo, in Mali und in Georgien. Neben Palästina prüft der IStGH-Strafermittler, ob in neun weiteren Fällen, darunter auf den Philippinen und in der Ukraine, Ermittlungen geboten sind. Hierzu gehört auch die mutmaßliche Vertreibung der Rohingya von Myanmar nach Bangladesch.
„Die Drohungen der Trump-Regierung gegen den IStGH verbergen das eigentliche Problem, nämlich das Versagen der US-Behörden, gegen Folter und andere Menschenrechtsverletzungen durch die CIA und die US-Streitkräfte vorzugehen“, sagte Dicker. „Genau dies ist die Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs: Opfern Gerechtigkeit zu gewähren, wenn ihnen alle anderen Türen verschlossen bleiben.“
Wichtige Fragen und Antworten zu den USA und dem IStGH finden Sie unter:
https://www.hrw.org/news/2019/03/15/qa-international-criminal-court-and-united-states
Deutschland: Bundestag fordert mehr Unterstützung für IStGH
Sitzung des Deutschen Bundestags in Berlin, 1. Februar 2018.
© 2018 Reuters/Axel Schmidt(Berlin) – In einem fraktionsübergreifenden Antrag hat der Bundestag die Bundesregierung am 28. Juni 2018 aufgefordert, den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu stärken, so Human Rights Watch. Der 17. Juli markiert den 20. Jahrestag des Römischen Statuts, dem Gründungsdokument des Gerichts.
Der Antrag wurde von CDU/CSU, SPD, FDP sowie Bündnis90/Die Grünen unterstützt. Dieser breite Rückhalt unterstreicht die Relevanz und Bedeutung des Gerichtshofs.
„Der Bundestag hat ein klares Zeichen gesetzt. Der Antrag ist ein wichtiges Signal, dass Deutschland den globalen Kampf gegen Straflosigkeit weiterhin führend unterstützt“, so Wolfgang Büttner, Sprecher von Human Rights Watch in Deutschland. „Außenminister Heiko Maas soll jetzt diesem Aufruf folgen und am 20. Jahrestag des IStGH deutlich machen, dass auch die Bundesregierung bei der Unterstützung des Gerichts weiter an der Spitze steht.“
Der IStGH ist das erste ständige weltweite Gericht, das über ein Mandat zur Strafverfolgung der Verantwortlichen für schwerste internationale Verbrechen wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verfügt. Es kann aktiv werden, wenn nationale Gerichte nicht in der Lage oder nicht bereit sind, Anklage zu erheben. Der IStGH hat 123 Mitgliedstaaten. Seine Chefankläger haben bereits in zehn Ländern Ermittlungen eingeleitet.
In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, den IStGH zu stärken, indem sie sich für den Beitritt weiterer Staaten einsetzt und für eine ausreichende Finanzierung sorgt. Diese Maßnahmen sind entscheidend, um den Zugang der Opfer zur Justiz zu verbessern. Denn angesichts der alarmierenden Menschenrechtskrisen in vielen Teilen der Welt ist die Notwendigkeit des IStGH heute offenkundiger denn je.
Die Verhandlungen über das Römische Statut begannen 1995 und endeten am 17. Juli 1998 mit einer turbulenten Sitzung in Rom, in der das Statut verabschiedet wurde. Im Jahr 2003 nahm das Gericht seine Arbeit auf.
Deutschland spielte, besonders dank des Einsatzes des damaligen Außenministers Klaus Kinkel, eine Führungsrolle bei der Ausarbeitung des IStGH-Statuts. Die deutsche Delegation in Rom machte sich für einen effektiven und unabhängigen IStGH stark. Diese Haltung führte dazu, dass die USA mit einem Rückzug ihrer Streitkräfte aus Deutschland drohten. Die Bundesregierung hielt dem Druck jedoch stand, so dass 121 Staaten schließlich für den Vertrag stimmten, bei nur sieben Gegenstimmen. Die USA sind dem Gerichtshof nicht beigetreten.
Der IStGH benötigt heute mehr Unterstützung durch seine derzeit 123 Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschlands. Um Festnahmen durchzuführen, ist das Tribunal auf die Kooperation der Mitgliedstaaten angewiesen. Derzeit bestehen 15 nicht vollstreckte Haftbefehle. Dies beschränkt die Fähigkeit des IStGH, Gerechtigkeit walten zu lassen.
Deutschland und die anderen IStGH-Mitgliedstaaten sollen sich verstärkt für die Entwicklung von Strategien einsetzen, wie Haftbefehle umgesetzt werden können. In einigen Fällen sollte dies operative Unterstützung beinhalten. In anderen Fällen sollte Deutschland Druck auf andere Mitgliedstaaten ausüben, die ihrer Verpflichtung zur Festnahme gesuchter Personen auf ihrem Staatsgebiet nicht nachkommen.
Mit der wachsenden Zahl an Verfahren benötigt das Gericht auch zusätzliche Finanzmittel. Dies wird auch im Antrag des Bundestags angesprochen. Die Mitgliedstaaten, denen die Finanzierung obliegt, sollen natürlich einforden, dass ihre Mittel effizient und in nachvollziehbarer Weise eingesetzt werden. Von dem Gericht wird jedoch auch erwartet, dass es an weitaus mehr Orten und in sehr viel mehr Fällen aktiv wird, als seine aktuellen Ressourcen erlauben.
Deutschland gehört zu den wichtigsten Beitragszahlern des IStGH und hat freiwillig weitere Gelder für Aktivitäten wie den Treuhandfonds für Opfer bereitgestellt. Seit einigen Jahren gehört Deutschland jedoch auch einer kleinen Gruppe von Mitgliedstaaten an, die eine willkürliche Begrenzung des IStGH-Budgets fordern. Dieser restriktive Ansatz gefährdet die Arbeit des Gerichts in zunehmendem Maße.
Der Antrag des Bundestags ruft die Bundesregierung auch auf, Vorschläge zur Beschleunigung von Verfahren am IStGH zu formulieren. Die Richter des Tribunals bemühen sich zwar bereits um effizientere Verfahren, doch es gibt zweifellos noch Raum für Verbesserungen. So hatten bei früheren Verfahren mangelhafte Ermittlungen dazu geführt, dass Anklagepunkte gestrichen werden mussten. Die derzeit amtierende Chefanklägerin hat sich seit ihrem Amtsantritt 2012 für eine Stärkung der Ermittlungsarbeit und Anklageerhebung eingesetzt.
„Bei der Verabschiedung des Rom-Statuts waren Deutschlands Prinzipientreue und Führungsbereitschaft ausschlaggebend“, so Büttner. „Die Bundesregierung soll zu seiner engagierten politischen und finanziellen Unterstützung für das Gericht zurückkehren und dessen dringend notwendiges Mandat stärken, damit es den Opfern der schlimmsten Verbrechen weltweit Gerechtigkeit bringen kann.“
Irak: Fehler und Probleme bei Verfahren gegen mutmaßliche ISIS-Mitglieder
(Bagdad) – Die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan führen Tausende Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder des Islamischen Staates, ohne systematisch den unter irakischem Recht und Völkerrecht schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Das planlose Vorgehen und die grassierenden Verfahrensfehler können dazu führen, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen während der ISIS-Besatzung in einigen Teilen des Iraks nicht verfolgt werden.
Dezember 5, 2017 Report Flawed JusticeAccountability for ISIS Crimes in Iraq
Der 76-seitige Bericht „Flawed Justice: Accountability for ISIS Crimes in Iraq“ untersucht die Überprüfung, Inhaftierung, Ermittlung und strafrechtliche Verfolgung einiger der Tausenden mutmaßlichen Mitglieder des Islamischen Staates (auch bekannt als ISIS) im Irak. Dabei traten schwere juristische Probleme zutage, die die Bemühungen unterminieren können, ISIS-Mitglieder zur Verantwortung zu ziehen. Insbesondere hat der Irak keinerlei Strategie, um eine glaubwürdige Strafverfolgung der für die schwersten Verbrechen verantwortlichen Personen zu gewährleisten. Stattdessen werden unter Anti-Terror-Gesetzen sämtliche Personen verfolgt, die selbst minimalster Verbindungen zu ISIS verdächtig sind. Dieses Vorgehen droht, sowohl zukünftige, kommunale Aussöhnungs- und Wiedereingliederungsprozesse negativ zu beeinträchtigen, als auch die Gerichte und Gefängnisse jahrzehntelang zu überlasten.
„Die ISIS-Prozesse sind eine verpasste Chance, der Bevölkerung, der Welt und auch ISIS zu beweisen, dass der Irak ein Rechtsstaat ist, in dem Verfahrensgarantien und Gerechtigkeit herrschen, die Verantwortlichen für schwerste Verbrechen vor Gericht gebracht werden und allen von diesem Krieg betroffenen Gemeinschaften Aussöhnung ermöglicht wird“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten von Human Rights Watch. „Der irakischen Justiz gelingt es nicht, zwischen der Schuld zu unterscheiden, die Ärzte auf sich geladen haben, wenn sie unter der Herrschaft von ISIS Leben retteten, und der, die die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit trifft.“
Der Bericht wird mit Regierungsangehörigen in Erbil und Bagdad diskutiert werden. Er basiert auf Informationen, die im Zeitraum November 2016 bis Juli 2017 in Erbil, im Gouvernement Ninawa und in Bagdad gesammelt wurden. Dazu wurden Gefängnisse besucht, in denen Tausende mutmaßliche ISIS-Mitglieder inhaftiert sind, sowie Gerichte in Ninawa, Bagdad und Erbil, in denen Prozesse gegen solche Personen geführt wurden. Zudem wurden führende Beamte der irakischen Regierung und der Regionalregierung von Kurdistan befragt, sowie mindestens 100 Familien mutmaßlicher ISIS-Mitglieder, Dutzende Personen, die unter der Herrschaft von ISIS Opfer schwerster Verbrechen wurden oder Angehörige verloren haben, Vertreter internationaler Nichtregierungsorganisationen, die zum irakischen Justizsystem arbeiten, Anwälte und anderen Rechtsexperte.
Das zentrale Ergebnis des Berichts ist, dass die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverbrechen und Anklagen, die das volle Spektrum der Verbrechen von ISIS abbilden, nicht systematisch Vorrang einräumen. Augenscheinlich ermitteln die Behörden unter Anti-Terror-Gesetzen gegen alle Verdächtigen, die sich in ihrem Gewahrsam befinden, und legen ihnen vorrangig eine ISIS-Mitgliedschaft zur Last, statt sich auf konkrete Handlungen und Verbrechen zu konzentrieren.
Gegen mindestens 7.374 Personen wurden seit dem Jahr 2014 solche Anklagen erhoben, 92 wurden zum Tode verurteilt oder hingerichtet. Insgesamt befinden sich schätzungsweise 20.000 Personen wegen mutmaßlichen Verbindungen zu ISIS in Haft, eine Zahl, die auf Informationen von Regierungsangehörigen beruht.
Der Bericht weist auf mögliche verfahrensrechtliche Probleme bei der Überprüfung von Personen hin, die von ISIS kontrollierte Gebiete verlassen. Das betrifft beispielsweise die Art, wie Listen von Verdächtigen geprüft werden, die Sicherheitskräfte vor Ort erstellt haben. Personen, die fälschlicherweise als Verdächtige identifiziert werden, bleiben teilweise monatelang in Willkürhaft.
Darüber hinaus halten die irakischen Behörden mutmaßliche ISIS-Mitglieder in überfüllten Einrichtungen und zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen fest. Minderjährige werden nicht getrennt von erwachsenen Häftlingen untergebracht. Zudem ignorieren Beamte das Recht auf ein faires Verfahren, auch die im irakischen Recht verbrieften Rechte darauf, innerhalb von 24 Stunden von einem Richter angehört zu werden, während Befragungen Zugang zu einem Anwalt zu haben, Familien über eine Inhaftierung zu informieren und Familienangehörigen zu gestatten, mit den Gefangenen zu kommunizieren. Einige Gefangenen warfen den Behörden außerdem Folter vor, um sie dazu zu zwingen, ihre angebliche ISIS-Mitgliedschaft zu gestehen.
Unter den übermäßig breiten Anti-Terror-Gesetzen, auf deren Grundlage die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan mutmaßliche ISIS-Mitglieder verfolgen, können Richter Anklagen gegen Personen erheben, denen keine konkreten Verbrechen, sondern ausschließlich Verbindungen zu oder Unterstützung von ISIS vorgeworfen wird. Von solchen Anklagen sind auch Personen betroffen, die in von ISIS geführten Krankenhäusern gearbeitet haben, sowie Köche, die Essen für Kämpfer zubereitet haben. Auf Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze stehen harte Strafen, darunter lebenslange Haft oder die Todesstrafe, auch für eine bloße ISIS-Mitgliedschaft.
„Gestern habe ich den Fall eines ISIS-Kochs bearbeitet, und ich habe empfohlen, ihn mit dem Tode zu bestrafen. Wie hätten die ISIS-Kämpfer Menschen hinrichten können, wenn sie nicht am Abend zuvor eine ordentliche Mahlzeit bekommen hätten?“, so ein führender Richter aus der Terrorismusbekämpfung.
Mutmaßliche ISIS-Mitglieder wegen Verstößen gegen Anti-Terror-Gesetze anzuklagen statt wegen konkreter Verbrechen unter dem Strafgesetzbuch ist aus beweistechnischer Sicht oft einfacher, insbesondere bei Verbrechen, die inmitten des chaotischen Kriegsgeschehens verübt wurden. Aber dieses Vorgehen erschwert es, den schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, sie zu ahnden und ein umfassendes, rechtliches Bild der Gräueltaten zu zeichnen, die ISIS im Irak verübt hat. Zudem bemühen sich die Behörden nicht darum, den Opfern zu ermöglichen, an den Prozessen teilzunehmen, nicht einmal als Zeugen.
Wenn mutmaßliche ISIS-Mitglieder belegen können, dass sie der Organisation gegen ihren Willen beigetreten sind und an keinem Verbrechen beteiligt waren, haben sie unter Umständen das Recht darauf, nach ihrer Verurteilung entlassen zu werden. Das Gesetz über Generalamnestie vom August 2016 (Nr. 27/2016) sieht das vor, aber die Richter wenden es nicht konsequent an. Die Regionalregierung von Kurdistan hat kein Amnestiegesetz für mutmaßliche oder verurteilte ISIS-Mitglieder erlassen und hat dies Sprechern zufolge auch nicht geplant.
Die Behörden sollen der Strafverfolgung schwerster Verbrechen jeglicher Art Vorrang einräumen. Außerdem sollen sie für diejenigen Personen, deren einziges Vergehen ihre ISIS-Mitgliedschaft war, Alternativen zur Strafverfolgung ausloten, etwa die Teilnahme an landesweiten Wahrheitsfindungsprozessen.
Mindestens sollen sie die Verfahren gegen Personen fallen lassen, deren Tätigkeiten unter ISIS-Herrschaft zum Schutz der Menschenrechte von Zivilisten beitrugen, etwa Personen, die im Gesundheits- oder Sozialwesen arbeiteten. Insbesondere für Kinder sollen die Behörden Alternativen zu Inhaftierung und Strafverfolgung finden und Rehabilitierungs- und Wiedereingliederungsprogramme entwickeln, um ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu unterstützen.
„Das irakische Amnestiegesetz ersetzt keine landesweite Strategie, die faire Verfahren gewährleistet und Alternativen zu einer Strafverfolgung von Personen entwickelt, die nicht an den Gewaltakten und schweren Verbrechen von ISIS beteiligt waren“, sagt Whitson. „Der Irak braucht genauso dringend einen Plan für Wahrheits- und Versöhnungsprozesse wie einen Plan dafür, wie die schlimmsten Verbrecher hinter Gitter gebracht werden sollen.“
ICTY/Bosnien: Ratko Mladic wegen Völkermord verurteilt
Mejra Dzogaz weint an den Gräbern ihrer Angehörigen auf dem Gelände der Gedenkstätte in Potocari, Bosnien-Herzegowina, 6 km nordwestlich von Srebrenica (7. April 2014). Ihre drei Söhne, ihr Ehemann und ihr Vater wurden bei dem Massaker von Srebrenica getötet.
© 2014 Reuters(Brüssel) – Die Verurteilung von Ratko Mladic, einst bekannt als „Schlächter von Bosnien”, wegen Völkermord und anderer Verbrechen am 22. November 2017 zeigt, dass die Verantwortlichen für schreckliche Gräueltaten endlich zur Rechenschaft gezogen werden, so Human Rights Watch heute.
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (engl. The International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) erklärte Mladic in zehn der elf Anklagepunkte wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord für schuldig und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Mladic war von 1992 bis 1996 Oberbefehlshaber der Armee der Republik Bosnien und Herzegowina.
„Mehr als zwei Jahrzehnte nachdem Anklage gegen ihn erhoben wurde, muss Ratko Mladic endlich die Konsequenzen für seine grauenvollen Verbrechen tragen“, so Param-Preet Singh, stellvertretende Direktorin der Abeilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Mladics Verurteilung soll eine klare Botschaft an alle Machthaber der Welt senden, die brutale Gräueltaten begehen, sei es in Myanmar, Nordkorea oder Syrien. Die Justiz kann auch jene zur Rechenschaft ziehen, die unantastbar scheinen.“
Im Juli 1995 klagte das Gericht Mladic und Radovan Karadzic, den ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska, die während des Krieges ausgerufen wurde, wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in mehreren Gemeinden in Bosnien und Herzegowina an.
Im November 1995 erhob der Gerichtshof jeweils getrennte Anklagen gegen Mladic and Karadzic wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Diese basierten auf der Massenhinrichtung von mindestens 7.000 muslimischen Männern und Jungen aus Bosnien durch die bosnisch-serbische Armee, nachdem die Stadt Srebrenica gefallen war. Der ICTY und der Internationale Gerichtshof kamen zu dem Schluss, dass das Massaker von Srebrenica Völkermord war.
Beide Männer tauchten daraufhin unter. Im Mai 2011 nahmen die serbischen Behörden Mladic fest. Karadzic war bereits im Juli 2008 in Belgrad verhaftet worden. Am 24. März 2016 verurteilte der ICTY Karadzic zu 40 Jahren Gefängnis wegen seiner Beteiligung am Völkermord von Srebrenica und anderer schwerer Verbrechen in Bosnien und Herzegowina.
Das Verfahren gegen Mladic begann am 16. Mai 2012 und dauerte mehr als 500 Tage. Grund hierfür war u.a. die Sorge um Mladics Gesundheitszustand. So waren die Anhörungen jeweils eine halbe Stunde kürzer als in anderen Verfahren. Die Schlussplädoyers erfolgten im Dezember 2016. Im Mai 2017 wiesen die Richter einen Antrag von Mladics Verteidigung ab, diesen nach Russland ausreisen zu lassen, um sich dort in medizinische Behandlung zu begeben. Laut Gericht befand sich Mladic „in einem stabilen Gesundheitszustand“, auch wenn es seit seiner Auslieferung einige Risiken gegeben habe. Die Bemühungen von Mladics Verteidigung, die Urteilssprechung aus gesundheitlichen Gründen vertagen zu lassen, blieben ebenfalls erfolglos. Nach einer kurzen Unterbrechung bei der heutigen Urteilsverkündung schrie Mladic im Gerichtssaal und musste den Raum verlassen.
Die Europäische Union spielte eine wichtige Rolle dabei, dass Mladic sich vor Gericht verantworten musste. So wurden die engeren Beziehungen zu Serbien an die Bedingung geknüpft, dass das Land uneingeschränkt mit dem ICTY zusammenarbeitet, die flüchtigen Angeklagten festnimmt und der Justiz übergibt. Keiner der 161 Verdächtigen, gegen die der Gerichtshof Anklage erhoben hat, ist mehr auf freiem Fuß.
„Die Urteile gegen Mladic und Karadzic, die für die schlimmsten Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich sind, zeigen, dass den Opfern durch die internationale Justiz Gerechtigkeit widerfahren kann, sofern Länder dies politisch und finanziell unterstützen“, so Singh.
Der Prozess gegen Mladic ist der letzte des ICTY. Nach dem Berufungsurteil in einem anderen Verfahren wird der Gerichtshof Ende 2017 seine Pforten schließen. Der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe, der einen Sitz in Den Haag hat, wird alle ausstehenden Verfahren verhandeln.
Zwar ist das Urteil des ICTY ein Erfolg. Doch es gilt, auch die anderen Tausenden Fälle aufzuarbeiten, bei denen es während der Balkankonflikte zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam. Den nationalen Bemühungen stehen hier politische Schwierigkeiten und Kapazitätsprobleme im Weg. Die nationalen Behörden in Bosnien und Herzegowina werden die meisten dieser Fälle verhandeln, andere werden von Gerichten in Serbien und Kroatien übernommen. Ein neuer Gerichtshof in Den Haag, der kosovarisches Recht anwendet, dem jedoch internationale Strafverfolger und Richter vorsitzen, wird Fälle von schweren Verbrechen während und nach dem Unabhängigkeitskrieg 1998-1999 im Kosovo verhandeln.
Der Chefankläger des ICTY, Serge Brammertz, äußerte kürzlich die Sorge darüber, dass sich die Zusammenarbeit mit den regionalen Justizbehörden verschlechtert habe. Zudem habe sich die Polarisierung des politischen Umfelds in der Region verschärft, wodurch Konflikte und Gräueltaten ihre ganz eigene Logik entwickeln könnten. Dies verdeutlicht, wie wichtig die Suche nach Wahrheit und Versöhnung in der Region ist, ebenso wichtig wie die Rechtsprechung der nationalen Gerichte.
„Auch wenn Mladic nun verurteilt wurde: Auch alle anderen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, die für die brutalen Verbrechen während des Krieges in Bosnien und Herzegowina verantwortlich waren”, so Singh. „Die nationalen Behörden sollen jetzt alles tun, damit auch noch diese Verdächtigen vor Gericht gestellt werden. Zudem darf die Wahrheit darüber nicht in Vergessenheit geraten, was den Opfern widerfahren ist.“
Burma: Militär verübt Verbrechen gegen die Menschlichkeit
(New York) – Die Sicherheitskräfte in Burma verüben Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die Volksgruppe der Rohingya, so Human Rights Watch heute. Das Militär geht mit Zwangsabschiebungen, Mord, Vergewaltigung und Verfolgung gegen Rohingya-Muslime im nördlichen Teil der Provinz Rakhaine vor. Dies hat zu unzähligen Todesopfern und massenhafter Vertreibung gefhrt.
Der UN-Sicherheitsrat und alle betroffenen Staaten sollen umgehend gezielte Sanktionen und ein Waffenembargo gegen das burmesische Militär verhängen, um weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Der Sicherheitsrat soll Burma auffordern, Hilfsorganisationen Zugang zu den hilfsbedürftigen Menschen zu gewähren, eine UN-Ermittlermission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzung ins Land zu lassen und die sichere und freiwillige Rückkehr der Vertriebenen zu ermöglichen. Der Rat soll auch Maßnahmen erörtern, um die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen, etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof.
„Das burmesische Militär vertreibt die Rohingya brutal aus dem nördlichen Rakhaine“, so James Ross, Leiter der Rechtsabteilung von Human Rights Watch. „Die Massaker an Dorfbewohnern und die massenhafte Brandstiftung, mit denen die Menschen vertrieben werden, stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.“
Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nach internationalem Recht Verbrechen definiert, die „im Rahmen einen ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs“ erfolgen. Die Angriffe des burmesischen Militärs auf die Rohingya erfolgen ausgedehnt und systematisch. Aus den Erklärungen des Militärs und einiger Regierungsvertreter geht zudem hervor, dass diese Bevölkerungsgruppe gezielt angegriffen wird.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen unter die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag und unterliegen dem Prinzip der Universellen Justiz. Solche Akte können folglich auch von nationalen Gerichten außerhalb Burmas verfolgt werden, selbst wenn weder Opfer noch Täter Staatsbürger des betreffenden Landes sind.
Die Recherchen von Human Rights Watch in der Region und die Auswertung von Satellitenfotos belegen Deportationen und Zwangsumsiedlungen, Morde und versuchte Morde, Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe sowie das Verbrechen der „Verfolgung“ im Sinne der Definition als „absichtliche und schwere Beraubung grundlegender Rechte im Bruch des internationalen Rechts aufgrund der Identität der Gruppe oder Kollektivgemeinschaft“. Die verübten Verbrechen können zudem als ethnische Säuberungen gewertet werden, wenngleich dieser Begriff im internationalen Recht nicht definiert ist.
Seit dem 25. August 2017, als die Arakan-Rohingya-Befreiungsarmee (ARSA) rund 30 Polizeiposten im nördlichen Rakhaine-Staat angriff, haben die burmesischen Sicherheitskräfte massenhafte Brandstiftung, Morde, Vergewaltigungen und Plünderungen verübt, Hunderte Dörfer zerstört und mehr als 400.000 Rohingya zur Flucht ins Nachbarland Bangladesch gezwungen. Human Rights Watch stellte bereits 2012 fest, dass die burmesische Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die Rohingya in der Provinz Rakhaine verübte.
„Es mag unbedeutend erscheinen, den entsetzlichen Verbrechen, die das burmesische Militär gegen Rohingya-Familien verübt, ein juristisches Etikett anzuheften“, so Ross. „Doch wenn die Welt anerkennt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gange sind, sollte dies die UN und Regierungen veranlassen, gegen Burmas Militär vorzugehen, um diesen Verbrechen ein Ende zu setzen.“
Syrien: Erste Prozesse wegen Gräueltaten in Europa
Es gibt erste Erfolge dabei, die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien vor europäische Gerichte zu bringen, insbesondere in Schweden und Deutschland, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Mehrere europäische Behörden untersuchen derzeit schwerste, in Syrien verübte Völkerrechtsverbrechen. Schweden und Deutschland sind die zwei ersten Länder, die Personen wegen dieser Vergehen vor Gericht gebracht und verurteilt haben.
Der 66-seitige Bericht „‘Vor diesen Verbrechen sind wir geflohen‘: Gerechtigkeit für Syrien vor schwedischen und deutschen Gerichten“ untersucht, wie die schwedischen und deutschen Behörden strafrechtlich gegen Einzelpersonen vorgehen, die an Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid in Syrien beteiligt waren. Der Bericht basiert auf Interviews mit 50 Beamten und Praktikern, die an diesen Fällen arbeiten, und 45 syrischen Flüchtlingen in beiden Ländern. Er dokumentiert die Schwierigkeiten, die mit solchen Fällen einhergehen, und die Erfahrungen von Flüchtlingen und Asylsuchenden mit den Behörden.
Syrien: Erste Prozesse wegen Gräueltaten in Europa
Es gibt erste Erfolge dabei, die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien vor europäische Gerichte zu bringen, insbesondere in Schweden und Deutschland, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
(New York) – Es gibt erste Erfolge dabei, die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien vor europäische Gerichte zu bringen, insbesondere in Schweden und Deutschland, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Mehrere europäische Behörden untersuchen derzeit schwerste, in Syrien verübte Völkerrechtsverbrechen. Schweden und Deutschland sind die zwei ersten Länder, die Personen wegen dieser Vergehen vor Gericht gebracht und verurteilt haben.
Der 72-seitige Bericht „‘Vor diesen Verbrechen sind wir geflohen‘: Gerechtigkeit für Syrien vor schwedischen und deutschen Gerichten“ untersucht, wie die schwedischen und deutschen Behörden strafrechtlich gegen Einzelpersonen vorgehen, die an Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid in Syrien beteiligt waren. Der Bericht basiert auf Interviews mit 50 Beamten und Praktikern, die an diesen Fällen arbeiten, und 45 syrischen Flüchtlingen in beiden Ländern. Er dokumentiert die Schwierigkeiten, die mit solchen Fällen einhergehen, und die Erfahrungen von Flüchtlingen und Asylsuchenden mit den Behörden.
„Da derzeit alle anderen Wege zu Gerechtigkeit verstellt sind, stellen die europäischen Strafverfahren einen Hoffnungsschimmer für die Opfer der Verbrechen in Syrien dar. Sie können sich nirgendwo anders hinwenden“, so Maria Elena Vignoli, Leonard H. Sandler-Fellow im Programm für Internationale Justiz bei Human Rights Watch. „Als erste Länder, die Prozesse durchgeführt und Personen wegen Gräueltaten in Syrien verurteilt haben, zeigen Schweden und Deutschland Kriegsverbrechern, dass sie für ihre Taten bezahlen müssen.“
Oktober 3, 2017 Report „Vor diesen Verbrechen sind wir geflohen“Gerechtigkeit für Syrien vor schwedischen und deutschen Gerichten
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Die befragten syrischen Flüchtlinge betonten einhellig, wie wichtig es ist, die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien zur Rechenschaft zu ziehen.
„Das Regime hat meinen Bruder mit 14 Kugeln getötet“, sagte Samira, die in Schweden lebt und Familienangehörige im Krieg verloren hat. „Meine ganze Familie ist gestorben. Ich habe gesehen, wie fünf Kinder hingerichtet wurden, ich habe gesehen, wie ihnen die Köpfe abgeschnitten wurden. Ich konnte eine Woche lang nicht schlafen. […] Es ist sehr wichtig, dass Gerechtigkeit hergestellt wird, damit ich mich wieder als Mensch fühlen kann.“
Muhammad, ein Aktivist, der sich für syrische Opfer in Deutschland einsetzt, sagte über die syrische Regierung: „Die denken, dass es zu einer politischen Lösung kommen wird und dass sie nach Europa werden fliehen können. Ich will, dass sie sich genauso verfolgt fühlen wie die Menschen, die sie ihr Leben lang verfolgt haben. Wir müssen den Opfern zeigen, dass es Hoffnung gibt, und den Tätern, dass sie nicht entkommen können.“
Am 25. September verurteilte Schweden als erstes Land einen Angehörigen der syrischen Armee. Der Angeklagte, der durch ein Foto identifiziert wurde, auf dem er mit dem Fuß auf der Brust eines Opfers posiert, wurde schuldig gesprochen, die Würde eines Toten verletzt zu haben.
Sowohl in Schweden als auch in Deutschland sind die Voraussetzungen dafür gegeben, schwerste Völkerstraftaten zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Beide Länder verfügen über einen umfangreichen Rechtsrahmen, gut funktionierende Sondereinheiten zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen und Erfahrungen mit dieser Art von Fällen. Außerdem sind sehr viele syrische Asylsuchende, Flüchtlinge, Opfer, Zeugen, materielle Beweise und sogar einige Verdächtige in Reichweite der Behörden in beiden Ländern.
Nichtsdestotrotz sind sowohl die schwedischen als auch die deutschen Behörden mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert.
„Zu den typischen Herausforderungen bei dieser Art von Fällen kommt hinzu, dass der Konflikt in Syrien andauert und die Tatorte unzugänglich sind”, so Vignoli. „Die schwedischen und deutschen Behörden müssen Informationen aus anderen Quellen bekommen, etwa von syrischen Flüchtlingen, Personen aus anderen europäischen Ländern, die eine ähnliche Arbeit machen, UN-Instanzen und nichtstaatlichen Gruppen, die Gräueltaten in Syrien dokumentieren.“
Allerdings wissen viele syrische Asylsuchende und Flüchtlinge nichts über die existierenden Systeme zur Untersuchung und Strafverfolgung schwerster, in Syrien verübter Verbrechen, ihre eigenen Möglichkeiten, einen Beitrag dazu zu leisten, oder das Recht der Opfer, an Strafverfahren teilzunehmen.
In beiden Ländern erweist es sich auch deshalb als schwierig, relevante Informationen von syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden zu erhalten, weil diese Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Angehörigen in der Heimat befürchten, Polizei- und Regierungsbeamten wegen negativer Erfahrungen in Syrien misstrauen und sich von ihren Aufnahmeländern und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen fühlen.
Sowohl in Schweden als auch in Deutschland gibt es Systeme zum Opfer- und Zeugenschutz. Beide Länder sollen prüfen, welche Möglichkeiten es unter Achtung der Vorschriften für faire Verfahren gibt, um in Syrien die Familien der Zeugen besser zu schützen.
Auf Grund dieser zahlreichen Schwierigkeiten wurden bisher nur wenige Fälle abgeschlossen, wodurch das Ausmaß und die Natur der Gräueltaten in Syrien nicht repräsentiert werden. Die meisten Prozesse richteten sich gegen rangniedere Angehörige nichtstaatlicher, bewaffneter, oppositioneller Gruppen.
In Deutschland wurden die meisten Verdächtigen wegen Verstößen gegen Antiterrorgesetze angeklagt statt wegen schwerster Völkerrechtsverbrechen. Das könnte den Eindruck erwecken, dass die Behörden sich ausschließlich darauf konzentrieren, nationale Bedrohungen zu bekämpfen. Stattdessen soll es Hand in Hand gehen, Verfahren wegen Terrorismus und Verfahren wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid anzustrengen – und die dazu erforderlichen Ressourcen sollen bereitgestellt werden.
Die Behörden beider Länder arbeiten daran, einige Probleme zu beheben. Doch es muss noch mehr passieren. Schweden und Deutschland sollen sicherstellen, dass ihre Sondereinheiten zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit den erforderlichen Mitteln und dem Personal ausgestattet sind und laufend Weiterbildungen anbieten. Außerdem sollen beide Länder neue Wege prüfen, um mit den syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden in ihrem Hoheitsgebiet zusammenzuarbeiten, diese gezielt einzubeziehen und zu informieren.
„Andere europäische Länder sollen Schwedens und Deutschlands Beispiel folgen und ihre Bemühungen intensivieren, für die Syrer in Europa Gerechtigkeit herzustellen“, so Vignoli. „Für sich genommen reichen die aktuellen Verfahren nicht aus. Sie unterstreichen, dass es umfassenderer Prozesse bedarf, um der anhaltenden Straflosigkeit in Syrien zu begegnen.“
Auf dem Weg zu Gerechtigkeit für Syrien
Bislang war es kaum möglich, inmitten der anhaltenden, schweren Menschenrechtsverletzungen in Syrien Gerechtigkeit herzustellen. Nun beginnt die Mauer der Straflosigkeit zu bröckeln.
Mehrere Staaten, darunter Schweden, Deutschland und Frankreich, ermitteln derzeit gegen Personen, denen vorgeworfen wird, in Syrien schwerste Verbrechen verübt zu haben, darunter Folter, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter dem völkerrechtlichen Weltrechtsprinzip können nationale Gerichte solche Verbrechen verfolgen, unabhängig davon, wo sie verübt wurden oder woher Opfer oder Täter stammen.
AufklappenEin Syrer trägt seine zwei Kinder über Trümmer nach einem Fassbombenanschlag auf das von Rebellen kontrollierte Gebiet al-Kalasa in der nordsyrischen Stadt Aleppo am 17. September 2015.
© 2015 GettyDie Verfahren sind nun möglich, weil immer mehr aus Syrien geflüchtete Menschen in Europa Schutz suchen. Zuvor unerreichbare Opfer, Zeugen, Beweise und auch Täter sind jetzt greifbar für die Behörden einiger europäischer Länder. In vielen Fällen haben Asylsuchende die Behörden auf mutmaßliche Verdächtige aufmerksam gemacht. Europäische Staaten können nun einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Gerechtigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen in Ländern wie Syrien herzustellen.
Schweden verurteilte als erstes, europäisches Land im Jahr 2015 einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus Syrien. Die französische Staatsanwaltschaft leitete am 15. September 2015 eine Voruntersuchung der Gräueltaten ein, die die „Caesar“-Fotos enthüllt haben. Darüber hinaus ermittelt sie gegen ein französisches Unternehmen wegen mutmaßlicher Unterstützung von und Beihilfe zu Folter in Syrien. In der Schweiz eröffnete die Bundesanwaltschaft im August 2016 ein Strafverfahren gegen einen mutmaßlichen syrischen Kriegsverbrecher.
Am Donnerstag, 20. Oktober begann ein Stuttgarter Gericht, Kriegsverbrechen in Syrien zu verhandeln. Suliman A. S., der mutmaßlich Jabhat al-Nusra angehört, wird vorgeworfen, im Jahr 2013 einen UN-Beobachter in Damaskus entführt zu haben.
All diese Verfahren haben Schwachstellen. Aber angesichts dessen, dass andere Wege wie Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs derzeit verstellt sind, stellen sie kleine, wichtige Schritte hin zum Ende der Straflosigkeit in Syrien dar.
„Wenn es [in Syrien] keine Gerechtigkeit gibt, dann setzt das für die Opfer die Gewalt fort, die sie erlitten haben. Das Leid der Opfer endet nicht in dem Moment, in dem sie nicht mehr gefoltert oder aus dem Gefängnis entlassen werden“, so Mazen Darwish, ein langjähriger Menschenrechtsverteidiger, der von den syrischen Behörden inhaftiert und gefoltert wurde. „Ich weiß sicher, dass es ohne Gerechtigkeit keinen Frieden geben kann und, dass die psychischen Wunden der Opfer nicht heilen werden.“
aus dem Englischen von Daniela Turß
Fragen und Antworten: Straflosigkeit in Syrien und im Irak beginnt zu bröckeln
- Auf welcher Grundlage verhandeln europäische Gerichte schwere Verbrechen, die in Syrien und im Irak begangen wurden? Was ist das Weltrechtsprinzip?
- Bedeutet das Weltrechtsprinzip, dass jedes Land alle schweren Völkerrechtsverbrechen untersuchen kann, die in Syrien und im Irak begangen wurden?
- Was für Verfahren wegen schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak wurden in Europa eröffnet?
- Welche Probleme bestehen bei den europäischen Prozessen zu Verbrechen in Syrien und im Irak und wie können sie verbessert werden?
- Was hat das mit den Terrorismus-Fällen vor europäischen Gerichten zu tun?
- Welche Bedeutung haben die Verfahren gegen Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak, bei denen das Weltrechtsprinzip angewandt wird?
- Warum werden seit kurzem mehr Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak in Europa vor Gericht gestellt?
- Heißt das, dass sich unter den Asylsuchenden zahlreiche Kriegsverbrecher verbergen? Gibt es Grund zur Sorge?
- Was sagt das Asylrecht zu Asylsuchenden, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind?
- Wie können Personen identifiziert werden, die schwerer Verbrechen verdächtig sind?
- Welche Rolle spielt die syrische und die irakische Diaspora, die nun in Europa existiert?
- Müssen europäische Länder Personen ermitteln und verfolgen, die schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak verdächtig sind?
- Vor welchen Herausforderungen stehen europäische Gerichte, die in schweren Verbrechen ermitteln, die in Syrien oder im Irak verübt wurden?
- Wie versuchen europäische Staaten, mit diesen Herausforderungen umzugehen?
- Welche Rolle spielen die verschiedenen Stellen, die schwere Verbrechen in Syrien und im Irak dokumentieren?
- Könnte Baschar al-Assad unter dem Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden?
- Wie kann auf lange Sicht in Syrien und im Irak Gerechtigkeit hergestellt werden?
- Wie ist die Situation in Syrien und im Irak?
- Sind Verbrechen in Syrien und im Irak die einzigen, die unter dem Weltrechtsprinzip verhandelt werden?
In einigen europäischen Ländern finden derzeit wegweisende Ermittlungen und Strafverfahren gegen Personen statt, denen Folter, Gewalt und Entführungen in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Möglich werden diese Verfahren, weil sowohl Opfer als auch Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.
Die Verfahren sind die ersten Schritte dahin, dass Verbrechen in den betreffenden Ländern nicht länger straffrei bleiben. Sie stellen die ersten glaubwürdigen Versuche dar, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die in den aktuellen Konflikten in Syrien und im Irak die Zivilbevölkerung terrorisieren. Außerdem zeigen die Verfahren, dass schwere Verbrechen die Menschheit insgesamt betreffen und auch dann verfolgt werden können, wenn die Täter ins Ausland fliehen.
Diese „Fragen und Antworten“ erläutern, wie und warum europäische Gerichte Verbrechen verhandeln können, die in Syrien und im Irak verübt wurden; welche Bedeutung es hat, dass einige mutmaßliche Kriegsverbrecher nach Europa geflohen sind; und warum es wichtig ist, sie zu identifizieren, die Vorwürfe gegen sie zu untersuchen und sie, sofern die Beweislage es zulässt, vor Gericht zu bringen, obwohl die Verbrechen Tausende Kilometer entfernt verübt wurden.
Nach den erschreckenden Anschlägen in Frankreich, Belgien und Deutschland konzentrieren sich die europäischen Strafverfolgungsbehörden darauf, Personen zu identifizieren und zu verfolgen, die möglicherweise ähnliche Taten planen. Das ist ebenfalls wichtig, unterscheidet sich aber grundlegend davon, die Verbrechen zu untersuchen, die in Syrien und im Irak begangen wurden.
1. Auf welcher Grundlage verhandeln europäische Gerichte schwere Verbrechen, die in Syrien und im Irak begangen wurden? Was ist das Weltrechtsprinzip?
AufklappenEin Syrer trägt seine zwei Kinder über Trümmer nach einem Fassbombenanschlag auf das von Rebellen kontrollierte Gebiet al-Kalasa in der nordsyrischen Stadt Aleppo am 17. September 2015.
© 2015 GettyNationale Gerichte sind grundsätzlich befugt, in Verbrechen zu ermitteln, die einen nationalen Bezug haben. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn das Verbrechen im Gerichtsland verübt wurde (Territorialitätsprinzip) oder wenn der Verdächtige oder das Opfer ein Staatsangehöriger dieses Landes ist (Täter- bzw. Opferprinzip).
Allerdings können nationale Gerichte bei bestimmten, klar definierten Verbrechen auch dann tätig werden, wenn es keinen direkten Bezug zum Land gibt. Darunter fallen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Völkermord, Piraterie, Angriffe auf Mitarbeiter der Vereinten Nationen und erzwungenes „Verschwindenlassen“. Auch, wenn sie im Ausland verübt wurden und sowohl die Täter als auch die Opfer Ausländer sind, können nationale Gerichte diese Verbrechen untersuchen und Strafverfahren einleiten, weil sie so schwer wiegen, dass es im Interesse der Menschheit insgesamt ist, dass sie geahndet werden.
Dieser völkerrechtliche Grundsatz wird als Weltrechtsprinzip bezeichnet. Obwohl es schon seit sehr langer Zeit existiert, haben nationale Gerichte bis vor wenigen Jahren kaum von ihm Gebrauch gemacht.
Internationale Verträge verpflichten alle Staaten, die sie ratifiziert haben, dazu, das Weltrechtsprinzip anzuwenden bei Kriegsverbrechen, die in einem internationalen, bewaffneten Konflikt verübt wurden (Genfer Konventionen aus dem Jahr 1949), beim Verbrechen der Apartheid (Anti-Apartheid-Konvention aus dem Jahr 1973), bei Folter (Antifolterkonvention aus dem Jahr 1984) und bei erzwungenem „Verschwindenlassen“ (Konvention gegen Verschwindenlassen aus dem Jahr 2006). Die Abkommen verpflichten die Vertragsstaaten dazu, Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet befinden, „auszuliefern oder gegen sie zu ermitteln“. Außerdem ist es allgemein anerkannt, dass das Völkergewohnheitsrecht es zulässt, das Weltrechtsprinzip auch bei Verbrechen anzuwenden, die die internationale Staatengemeinschaft als besonders grausam klassifiziert, etwa bei Kriegsverbrechen in einem nationalen, bewaffneten Konflikt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.
Einige europäische Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Schweden, wenden das Weltrechtsprinzip an, um Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Syrien und im Irak zu untersuchen.
Prinzipiell wäre es wünschenswert, dass in den Ländern Recht gesprochen wird, in denen die Verbrechen begangen wurden. Aber das ist oft nicht möglich. Wenn das Weltrechtsprinzip angewandt wird, reduziert es die „sicheren Rückzugsorte“, an denen Täter straffrei leben können, und zeigt deutlich, wie schwer ihre Verbrechen wiegen.
2. Bedeutet das Weltrechtsprinzip, dass jedes Land alle schweren Völkerrechtsverbrechen untersuchen kann, die in Syrien und im Irak begangen wurden?
Nein, denn nicht alle Staaten haben das Völkerrecht und das Weltrechtsprinzip in ihre nationale Gesetzgebung übernommen. In manchen Ländern kann das Weltrechtsprinzip auf bestimmte Verbrechen angewandt werden, aber nicht auf andere. Auch die Zeitpunkte, ab denen Völkerrechtsverstöße in den Zuständigkeitsbereich nationaler Gerichte fallen können, variieren.
Die Weltrechtsgesetze in den meisten Ländern ermöglichen, das Prinzip anzuwenden, wenn sich der Verdächtige im Hoheitsgebiet des Gerichtslandes aufhält. Gesetze in Frankreich, Großbritannien und Spanien schreiben darüber hinaus vor, dass die betreffende Person eine Aufenthaltsgenehmigung haben muss, damit nationale Gerichte gegen sie wegen im Ausland verübten Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermitteln können.
Deutschland und Norwegen sind die einzigen europäischen Länder, die das Weltrechtsprinzip ohne Einschränkungen bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit undVölkermord anwenden können - das heißt, in diesen beiden Ländern ist gar kein nationaler Bezug erforderlich. Allerdings verfügen die Staatsanwaltschaften über einen breiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung, gegen Verdächtige zu ermitteln, die sich nicht im Land befinden. Entsprechend konzentrieren sich auch Deutschland und Norwegen in der Praxis auf Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.
3. Was für Verfahren wegen schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak wurden in Europa eröffnet?
Mehrere europäische Länder untersuchen derzeit schwere Völkerrechtsverbrechen, die in Syrien und im Irak verübt wurden. Die meisten Verfahren richten sich gegen Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.
Beim ersten europäischen Prozess gegen einen Kriegsverbrecher aus Syrien sprach ein Stockholmer Gericht im Februar 2015 den syrischen Staatsbürger Mohannad Droubi der Folter als Kriegsverbrechen schuldig. Droubi, der im Jahr 2013 eine Aufenthaltsgenehmigung in Schweden erhielt, kämpfte in der Freien Syrischen Armee und wurde beschuldigt, einen Mann misshandelt zu haben, der angeblich Beziehungen zu den syrischen Streitkräften unterhielt. In diesem Fall wurde Folter eines Gefangenen als Kriegsverbrechen eingestuft. Droubi hatte ein Video des Übergriffs auf Facebook veröffentlicht. Seine fünfjährige Gefängnisstrafe wurde vor kurzem bei einem Wiederaufnahmeverfahren auf acht Jahre erhöht.
Im März 2016 verhaftete die schwedische Polizei ein anderes Mitglied einer bewaffneten Gruppe in Syrien, das im Jahr 2013 nach Schweden gekommen war, wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen. Der Mann soll an der von Kampfhandlungen unabhängigen Ermordung von sieben syrischen Soldaten im Jahr 2012 im Gouvernement Idlib im Nordwesten Syriens beteiligt gewesen sein. Der Prozess soll in diesem Jahr beginnen.
Ein anderer syrischer Staatsbürger stand im Februar in Stockholm vor Gericht, nachdem Fotos von ihm in Internet auftauchten, auf denen er in einer Militäruniform auf Leichen in Zivilkleidung steht. Er gab zu, für die syrischen Streitkräfte gearbeitet zu haben, stritt aber ab, sich an Kampfhandlungen beteiligt zu haben. Das Verfahren wurde schließlich aus Mangel an eindeutigen Beweisen und Zeugen fallen gelassen.
In Deutschland wurden nach Angaben der Polizei bereits 13 Ermittlungsverfahren mit Bezug zu Syrien eröffnet. Zusätzlich wurde ein „Strukturverfahren“ zu Syrien eingeleitet. Dabei handelt es sich um breit angelegte Ermittlungen ohne konkrete Tatverdächtige, in deren Zuge in Deutschland verfügbare Beweise gesammelt werden, um zukünftige Strafverfahren vor deutschen oder anderen Gerichten zu ermöglichen. Mindestens zwei syrische Staatsbürger, die Angehörige bewaffneter Gruppen waren, befinden sich in Deutschland wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen in Haft. Einem von ihnen wird vorgeworfen, im Jahr 2013 einen UN-Beobachter entführt zu haben. Der andere ist der mutmaßliche Kommandant einer Rebellenmiliz in Aleppo. Er soll die Folter mehrerer Gefangener übersehen und mindestens zwei Personen selbst misshandelt haben.
In Frankreich haben die Staatsanwälte der Pariser Abteilung für Kriegsverbrechen im September 2015 eine vorläufige Untersuchung von Verbrechen der syrischen Regierung eingeleitet, die auf einer Sammlung von Fotos toter, syrischer Häftlinge beruht. Diese hatte ein Überläufer außer Landes geschmuggelt, der unter dem Namen Caesar bekannt wurde. Die Fotos enthüllen systematisch organisierte, weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen der syrischen Regierung, in denen Gefangene gefoltert, ausgehungert, verprügelt und Erkrankungen nicht behandelt werden. Die Staatsanwaltschaft prüft derzeit, ob sie entsprechend der Anforderungen der französischen Gesetzgebung für diese Verbrechen zuständig ist.
Darüber hinaus deuten Medienberichte darauf hin, dass die französischen Einwanderungsbehörden Informationen über mehrere Verdächtige an die Staatsanwaltschaft weitergegeben haben, etwa über einen Überläufer, der an der Folter und Ermordung von Regierungsgegnern in den Jahren 2011 und 2012 beteiligt gewesen sein soll.
Berichten zufolge ermitteln die norwegischen Behörden derzeit gegen 20 ehemalige Angehörige der syrischen Streitkräfte und bewaffneter Gruppen.
Im Jahr 2015 gaben niederländische Behörden bekannt, dass sie zehn Syrer in ihrem Hoheitsgebiet identifiziert haben, die unter dem Verdacht stehen, schwere Völkerrechtsverstöße begangen zu haben. Gegen sie wird derzeit ermittelt.
Die schweizerische Bundesanwaltschaft eröffnete im August 2016 ein Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen in Syrien.
In Finnland wurden zwei ehemalige irakische Soldaten, Jebbar Salman Ammar and Hadi Habeeb Hilal, eines Kriegsverbrechens schuldig gesprochen. Sie hatten die Leichen von Kämpfern der extremistischen Gruppe Islamischer Staat (ISIS) geschändet. Einer wurde zu 16 Monaten, der andere zu 13 Monaten Haft verurteilt. Beide Männer, die Ende des Jahres 2015 nach Finnland gekommen waren, hatten Fotos von sich auf Facebook veröffentlicht, auf denen sie abgetrennte Köpfe in den Händen hielten. Es war nicht möglich, festzustellen, ob sie die Kämpfer getötet hatten, und unter welchen Umständen. Außerdem wurden zwei Brüder, die ISIS angehörten und im September 2015 in Finnland angekommen waren, verhaften, weil sie unter Verdacht stehen, elf unbewaffnete irakische Soldaten bei einem Massaker in der irakischen Stadt Tikrit im Juni 2014 hingerichtet zu haben.
Mit all diesen Verfahren haben europäische, nationale Gerichte wichtige, erste Schritte unternommen, um die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien und im Irak zur Rechenschaft zu ziehen. Weitere Länder sollten gegen Verdächtige in ihrem Hoheitsgebiet ermitteln und - wenn die Beweislage es zu lässt - Strafverfahren einleiten. Möglicherweise werden derzeit weitere Verfahren vorbereitet, zu denen noch keine Informationen öffentlich zugänglich sind.
4. Welche Probleme bestehen bei den europäischen Prozessen zu Verbrechen in Syrien und im Irak und wie können sie verbessert werden?
Da es in Bezug auf Syrien derzeit keine Alternative gibt, weckt die Anwendung des Weltrechtsprinzips große Erwartungen. Unabhängig davon, dass die ersten Fälle sehr wichtig sind und auch andere Länder dringend ihre Weltrechtsgesetze anwenden sollten, haben die Verfahren Grenzen. Die aktuelle Rechtslandschaft könnte gestärkt werden und noch mehr dazu beitragen, dass schwere Verbrechen in Syrien und im Irak geahndet werden.
Da es in vielen Fällen unmöglich ist, dorthin zu reisen, wo die Verbrechen verübt wurden, und auch die Regierungen auf juristischer Ebene nicht zusammenarbeiten, ist es für europäische Ermittler und Staatsanwälte oft schwierig, ausreichend Beweise für eine Anklageerhebung zusammenzutragen. Zum Beispiel gibt es den Justizbehörden der Regionen Kurdistan im Irak und der irakischen Zentralregierung zufolge keine vertragliche Basis für eine juristische Zusammenarbeit mit europäischen Behörden in Weltrechtsverfahren.
Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass hochrangige Beamte oder Militärangehörige nach Europa kommen, und einige würden strafrechtliche Immunität genießen. Wegen der Anwesenheitspflicht bei Verfahren und, weil sich Staatsanwaltschaften derzeit darauf konzentrieren, gegen Personen in ihrem Hoheitsgebiet zu ermitteln, ist es anzunehmen, dass sich Weltrechtsfälle weiterhin auf Verdächtige aus den niedrigeren und mittleren Verantwortungsebenen beschränken werden.
Allerdings sollten europäische Staatsanwaltschaften ausloten, wie sie auch gegen Verdächtige aus den Führungsebenen vorgehen können, die sich nicht notwendigerweise in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten. Das wäre möglich, wenn das Opfer ein Staatsbürger des ermittelnden Landes ist, oder unter dem Prinzip der Befehlsverantwortung, nach dem militärisches und ziviles Führungspersonal für Verbrechen seiner Untergebenen zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn es diese nicht verhindert, beendet oder bestraft.
Darüber hinaus sollten europäische Staatsanwaltschaften erwägen, gegen diejenigen zu ermitteln und sie - wenn die Beweislage es zulässt - anzuklagen, die Verbrechen in Syrien und im Irak unterstützen. In Frankreich wurde zum Beispiel eine strafrechtliche Untersuchungen des französischen Unternehmens Qosmos eingeleitet, weil dieses Überwachungsequipment an die syrische Regierung verkauft hat, das dieser mutmaßlich ermöglicht, Personen zu verhaften und anschließend zu foltern.
Die meisten Verfahren, in denen das Weltrechtsprinzip bislang angewandt wurde, richteten sich gegen Angehörige oppositioneller bewaffneter Gruppen in Syrien oder islamistischer Gruppen wie ISIS. Das hat höchstwahrscheinlich keine politischen Gründe, sondern hängt damit zusammen, welche Informationen für europäische Staatsanwaltschaften zugänglich sind. Nichtsdestotrotz reflektieren die europäischen Verfahren die umfangreichen Gräueltaten der syrischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung nicht angemessen.
Immer, wenn es möglich ist, sollten Staatsanwaltschaften Anklagen erheben, die die Schwere der Verbrechen angemessen repräsentieren. In einigen Fällen wird den Verdächtigen vorgeworfen, einer als „terroristisch“ eingestuften, bewaffneten Gruppe in Syrien oder im Irak anzugehören, ohne dass dabei geklärt wird, ob sie schwere Verbrechen begangen haben, bei denen es sich um Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln könnte. Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze sind zwar einfacher zu untersuchen und festzustellen, aber solche Verfahren berücksichtigen die Schwere der Verbrechen in Syrien und im Irak und ihre verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung nicht ausreichend.
Abteilungen, die Kriegsverbrechen untersuchen, sollten Strafverfolgungsstrategien anwenden, die repräsentativere Verfahren ermöglichen, sowohl in Hinblick auf deren Zielpersonen als auch auf die Anklagepunkte. So könnten sie besonders bedeutsame Beiträge dazu leisten, dass Verbrechen in Syrien und im Irak geahndet werden.
5. Was hat das mit den Terrorismus-Fällen vor europäischen Gerichten zu tun?
Angesichts der schweren Anschläge, die seit Januar 2015 Dutzenden Menschen in Frankreich, Belgien und Deutschland das Leben gekostet haben, konzentrieren sich Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften überall in Europa verständlicherweise auf Terrorismus-Fälle. Diese Ermittlungen und Verfahren betreffen vor allem Personen, die möglicherweise Anschläge in Europa, nicht im Ausland, planen. Derzeit laufen zahlreiche Verfahren gegen europäische Staatsbürger, die nach Syrien oder in den Irak gereist sind oder es versucht haben, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, und die nun in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind.
Bis heute wurde die große Mehrzahl der Anschläge in Europa nicht von Asylsuchenden verübt, sondern von europäischen Staatsbürgern oder dauerhaften Anwohnern. Unabhängig von ihrer Herkunft und ihren individuellen Hintergründen sollten diejenigen vor Gericht gestellt werden, die Anschläge in Europa planen oder verüben.
6. Welche Bedeutung haben die Verfahren gegen Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak, bei denen das Weltrechtsprinzip angewandt wird?
Die Weltrechtsverfahren vor europäischen Gerichte eröffnen den Opfern von Gräueltaten ein kleines Fenster zur Gerechtigkeit. Da ihnen alle anderen Wege versperrt sind, sind diese Verfahren die einzige verfügbare Möglichkeit, in einem begrenzten Rahmen Gerechtigkeit herzustellen. Nationale Gerichte in Syrien funktionieren nicht überall, sind nicht unabhängig und glaubwürdig, und bei Verfahren im Irak bestehen gravierende Probleme.
Nachdem die Zivilbevölkerungen in Syrien und im Irak jahrelang Gräueltaten ausgesetzt waren, die das Völkerrecht, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte verletzt haben, erinnern die europäischen Verfahren daran, dass diejenigen, die ihre völkerrechtlichen Pflichten verletzen, mit Konsequenzen rechnen müssen. Sie vermitteln die Botschaft, dass die Verantwortlichen für schwere Verbrechen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden können und dass die Zahl der Orte schrumpft, an die sie fliehen können, ohne mit Verfolgung rechnen zu müssen.
Weder Syrien noch der Irak gehören dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) an. Die Europäische Union und ihre 28 Mitgliedsstaaten haben den UN-Sicherheitsrat mehrfach dazu aufgerufen, die Situation in Syrien an den IStGH zu verweisen. Die irakische Regierung haben sie aufgefordert, dem IStGH die Zuständigkeit zu übertragen und das Römische Statut zu ratifizieren, um ein IStGH-Mitgliedsstaat zu werden, zum Beispiel mit der „EU-Regionalstrategie für Syrien und Irak sowie zur Bewältigung der Bedrohung durch ISIL/Da'esh“, die die Außenminister im März 2015 angenommen haben. Allerdings folgen weder die EU noch ihre Mitgliedsstaaten ihren eigenen Forderungen konsequent, insbesondere mit Blick darauf, dass Druck von oberster Stelle erforderlich ist, um die irakische Regierung dazu zu bewegen, dem IStGH als letzter, gerichtlicher Instanz bei schwersten Verbrechen beizutreten. Russland und China haben eine Resolution des UN-Sicherheitsrats blockiert, mit der der IStGH mit Ermittlungen in Syrien betraut werden sollte.
Die europäischen Verfahren sind in ihrer Zahl und ihrem Umfang begrenzt. Aber sie vermitteln den syrischen und irakischen Opfern ein wenig Hoffnung darauf, dass nationale Gerichte in Ländern, die Geflüchtete aufnehmen, Gerechtigkeit ermöglichen können. Darüber hinaus sichern nationale Ermittlungen unter dem Weltrechtsprinzip Beweise, die in zukünftigen Verfahren vor internationalen oder nationalen Gerichten verwendet werden können.
Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip sind ein wichtiger, erster Schritt, um die Straflosigkeit in Syrien und im Irak zu beenden. Sie unterstreichen, dass schwere Völkerrechtsverstöße bei Friedensverhandlungen nicht beiseitegeschoben werden dürfen und werden ein Schlüsselelement aller zukünftiger Übergangspläne für Syrien und den Irak sein.
7. Warum werden seit kurzem mehr Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak in Europa vor Gericht gestellt?
In den vergangenen Jahren sind Millionen Menschen aus Kriegsgebieten geflohen, auch aus Syrien und dem Irak. Die große Mehrheit von ihnen sucht in Nachbarländern Schutz, etwa im Libanon, Jordanien und in der Türkei, aber zunehmend mehr Asylsuchende kommen auch nach Europa.
Das bedeutet, dass sich Opfer, Zeugen, materielle Beweise und manchmal auch Verdächtige, die bislang für europäische Ermittler und Staatsanwälte unerreichbar waren, jetzt in europäischen Ländern befinden, die über die erforderlichen Weltrechtsgesetze verfügen. Deshalb können diese Länder nun schwere Völkerrechtsverbrechen in Syrien und im Irak untersuchen.
8. Heißt das, dass sich unter den Asylsuchenden zahlreiche Kriegsverbrecher verbergen? Gibt es Grund zur Sorge?
Die europäischen Gerichtsverfahren zeigen, dass Strafverfolgungsbehörden Hinweise darauf gefunden haben, dass sich einige Personen, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind, als Asylsuchende tarnen. Nicht zum ersten Mal kommen sowohl Opfer als auch Verdächtige in europäische Länder. Das gleiche ist nach dem Genozid in Ruanda im Jahr 1994 passiert, und nach den Balkan-Kriegen in den 1990er Jahren.
Allerdings sucht die überwältigende Mehrheit der Menschen, die in den vergangenen Jahren aus Kriegsgebieten nach Europa geflohen sind, aus berechtigten Gründen Schutz vor Verfolgung, grauenhaften Verbrechen und allgemeiner Gewalt.
Es ist angemessen, die Identität von Asylsuchenden zu überprüfen, um Personen zu identifizieren und gegen sie zu ermitteln, die schwerer Verbrechen verdächtig sind. Nur so kann Gerechtigkeit hergestellt werden. Allerdings ist der Umstand, dass sich eine kleine Zahl mutmaßlicher Kriegsverbrecher möglicherweise in Europa aufhält, kein Grund, ganze Gruppen asylsuchender Menschen zu stigmatisieren und darf nicht zu rassistischen und fremdenfeindlichen Reaktionen führen. Die meisten Menschen, die nach Europa kommen, fliehen vor ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen.
9. Was sagt das Asylrecht zu Asylsuchenden, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind?
Unter Artikel 1F des UN-Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen (Flüchtlingskonvention) aus dem Jahr 1951 sind Personen, bei denen der ernste Verdacht besteht, dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt haben, vom Flüchtlingsschutz ausgenommen.
Artikel 1F gewährleistet, dass sich die Verantwortlichen für schwere Völkerrechtsverstöße nicht ihrer Verfolgung entziehen können, und, dass das Asylsystem nicht missbraucht wird. In einer Erläuterung zu Personen, die von der Flüchtlingskonvention ausgenommen sind, erklärt die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen (UNHCR):
Wenn der asylgesetzliche Schutz auch auf Verantwortliche für schwere Verbrechen anwendbar wäre, stünde das Prinzip des internationalen Schutzes in direktem Konflikt mit dem nationalen und dem Völkerrecht, und würde dem humanitären und friedlichen Kern des Asyl-Konzepts widersprechen.
Es ist also wichtig, die Identität von Asylsuchenden festzustellen und diejenigen auszuschließen, die schwere Verbrechen begangen haben, um die Integrität des gesamten Asylsystems zu wahren. Gleichzeitig können sich die Aufnahmeländer so sicher sein, dass die Menschen, die sie als Flüchtlinge anerkennen, diesen Status tatsächlich verdienen.
Eine Person unter Artikel 1F vom Asylverfahren auszuschließen, kann für diese schwere Folgen haben und sollte daher nur mit äußerster Vorsicht erfolgen. Artikel 1F bezieht sich nur auf Taten, die eine Person verübt hat, bevor sie in das Land einreist, in dem sie Asyl beantragt. Ob ein schweres Verbrechen begangen wurde, sollte individuell, nicht kollektiv geprüft werden, etwa bei einem Angehörigen einer bewaffneten Gruppe, dem schwere Verbrechen zur Last gelegt werden. Die Verdächtigen sollten die Möglichkeit haben, sich bei einer fairen Anhörung gegen die Vorwürfe zu verteidigen.
10. Wie können Personen identifiziert werden, die schwerer Verbrechen verdächtig sind?
Die Einwanderungsbehörden sind dafür zuständig, mögliche Verdächtige durch angemessen Identitätsfeststellungsverfahren und Verfahren zur Prüfung der Asylberechtigung zu identifizieren.
Wenn sie Asylsuchende befragen, entdecken Beamte Hinweise, die zu weitergehenden Untersuchungen führen. Das könnte zum Beispiel die Anwesenheit eines Verdächtigen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sein, zu der ein schweres Verbrechen verübt wurde, oder die Mitgliedschaft in den bewaffneten Streitkräften eines Landes oder in einer Miliz. Die Einwanderungsbehörden können auch bei der Befragung von Opfern und Zeugen wichtige Informationen ermitteln. In Deutschland erhalten syrische Asylsuchende einen Fragebogen, in dem sie auch angeben können, ob sie Kriegsverbrechen in Syrien bezeugen können und, wenn ja, ob sie weitere Informationen haben und die Verantwortlichen benennen können. Diese Fragen zu beantworten ist freiwillig und unabhängig vom Asylverfahren. Wenn sich dieser Ansatz als hilfreich dabei erweist, verwertbare Informationen zu generieren und Zeugen zu identifizieren, könnte er auf Asylsuchende aus dem Irak ausgedehnt werden.
Die Niederlande und Großbritannien haben „IF“-Abteilungen in ihren Einwanderungsbehörden eingerichtet, deren Personal die erforderliche, spezielle Expertise und Erfahrungen entwickelt, um mit diesen Fällen umzugehen, auch, indem es umfangreiche Informationen über die spezifischen Konfliktlagen sammelt.
Die Einwanderungsbehörden können dazu beitragen, dass gegen Verdächtige ermittelt wird, indem sie die nationalen Strafverfolgungsbehörden in Kenntnis setzen und Informationen mit ihnen teilen. In Frankreich hat die Einwanderungsbehörde Berichten zufolge einen ehemaligen Offizier der syrischen Streitkräfte identifiziert, der unter dem Verdacht steht, in den Jahren 2011 und 2012 Folter und Morde verübt zu haben. Die Einwanderungsbehörde der Niederlande gab an, im Jahr 2015 unter 170 Asylbewerbern zehn Verdächtige aus Syrien identifiziert zu haben.
Allerdings sollte die Zusammenarbeit zwischen Einwanderungs- und Strafverfolgungsbehörden die Rechte der Asylsuchenden achten und die Integrität des Asylverfahrens nicht gefährden. Asylsuchende müssen darüber informiert werden, dass ihre Aussagen möglicherweise an andere Regierungsstellen weitergeben werden. Verdächtige sollten rechtliche Unterstützung erhalten und Informationen sollten erst an Strafverfolgungsbehörden weitergeben werden, nachdem ein Asylantrag auf der Basis von Artikel 1F abgelehnt wurde.
11. Welche Rolle spielt die syrische und die irakische Diaspora, die nun in Europa existiert?
Diasporagemeinschaften spielen eine wichtige Rolle dabei, Verdächtige zu identifizieren. Zeugen und Opfer erkennen Verdächtige manchmal wieder. Aktuellen Medienberichten zufolge entdeckte eine kurdische, jesidische Frau auf einem Markt in Baden, Deutschland, einen der Männer, die sie monatelang in einem ISIS-Lager im Irak misshandelt haben, und informierte die Polizei.
Medienberichten zufolge haben nationale Strafverfolgungsbehörden zahlreiche Hinweise von geflüchteten Menschen erhalten. Das deutsche Bundeskriminalamt gab bekannt, dass es täglich 25 bis 30 Hinweise auf Kriegsverbrechen in Syrien erhält, merkte allerdings an, dass die meisten Berichte keine aussagekräftigen Beweise enthalten und möglicherweise nur Gerüchte darstellen. Norwegische Behörden haben in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 nach eigener Aussage mehr als 100 Hinweise von Geflüchteten erhalten. Die Schweizer Einwanderungsbehörde erhielt im Jahr 2015 mehr als 400 Hinweise von syrischen Asylsuchenden.
Dass sie mit solchen Informationen zur örtlichen Polizei gehen können, ist Angehörigen von Diasporagemeinschaften nicht unbedingt bewusst, und es ist oft kein leichter Schritt. Viele wissen nicht, dass europäische Gerichte Verbrechen untersuchen können, die in ihren Heimatländern verübt wurden. Nach aufreibenden Reisen nach Europa wollen manche lieber in die Zukunft blicken. Und andere haben unter Umständen Angst davor, dass ihre Aussagen ihr Asylverfahren beeinträchtigen oder Familienangehörige gefährden könnten, die sie zurückgelassen haben. Es ist wichtig, dass die europäischen Behörden mit diesen Ängsten sensibel umgehen. Ebenso zentral ist es, dass Beamte mögliche, rechtliche Szenarien erläutern, um keine unrealistischen Erwartungen zu wecken. Sie sollten Informationen darüber, unter welchen Voraussetzungen das Weltrechtsprinzip angewandt werden kann, an geflüchtete Menschen weitergeben. In den Niederlanden und in Deutschland werden mehrsprachige Flyer in Aufnahmeeinrichtungen verteilt und Asylsuchende dazu ermuntert, wichtige Informationen weiterzugeben.
Auf immer mehr Websites und Facebook-Seiten wird ebenfalls behauptet, Verdächtige seien in Europa identifiziert worden. Die Informationen aus diesen Quellen lassen sich allerdings schwer verifizieren und sollten sehr vorsichtig verwendet werden, da sich hinter ihnen möglicherweise persönliche Motive wie Rache verbergen.
12. Müssen europäische Länder Personen ermitteln und verfolgen, die schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak verdächtig sind?
Zwar schließt das internationale Asylrecht schwerer Völkerrechtsverstöße verdächtige Personen aus, aber mit der Ablehnung eines Asylantrags ist die völkerrechtliche Pflicht eines Landes noch nicht erfüllt, bei diesen Verbrechen Gerechtigkeit herzustellen.
In den vergangenen 50 Jahren haben immer mehr Regierungen anerkannt, dass manche Verbrechen so schwer wiegen, dass sie nicht straffrei bleiben dürfen, unabhängig davon, wo sie verübt wurden. Internationale Abkommen und das Völkergewohnheitsrecht verpflichten die internationale Staatengemeinschaft dazu, die Verantwortlichen für schwere Völkerrechtsverstöße zu verfolgen, darunter Folter, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und erzwungenes „Verschwindenlassen“.
Das Weltrechtsprinzips weitet diese Verpflichtung auf Verbrechen aus, die im Ausland verübt wurden, und zwar für alle Länder, die die Abkommen gegen Folter, Kriegsverbrechen und erzwungenes „Verschwindenlassen“ ratifiziert haben.
Angesichts dieser Verpflichtung sollten die Einwanderungsbehörden Informationen, die sie unter Artikel 1F der Flüchtlingskonvention gesammelt haben, nicht nur nutzen, um Verdächtigen die Einreise zu verweigern oder sie abzuschieben, sondern sie in den relevanten Fällen auch an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben, so dass die Verdächtigen vor Gericht gestellt werden können. In den Niederlanden werden unter Artikel 1F verdächtige Personen zunehmend abgeschoben, statt dass in ihren Fällen strafrechtlich ermittelt wird.
Einige Verdächtige, deren Asylanträge auf der Basis von Artikel 1F abgelehnt werden und die entsprechend der Flüchtlingskonvention abgeschoben werden dürfen, können nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, weil andere Menschenrechtsabkommen dies verbieten. Die Konvention gegen Folter und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte in seiner Auslegung durch den UN-Menschenrechtsausschuss verbieten es kategorisch, eine Person in ein Land abzuschieben, in dem ihr droht, gefoltert oder grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft zu werden. Das wird als Grundsatz der Nicht-Zurückweisung bezeichnet und ist ein internationales, menschenrechtliches Prinzip.
Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) verbietet, jemanden an einen Ort abzuschieben, an dem ihm Folter, die Todesstrafe, willkürliche Haft und offensichtlich unfaire Gerichtsverfahren drohen.
Das bedeutet, dass Personen, die wegen des Verdachts auf schwere Verbrechen auf Grund von Artikel 1F keinen Flüchtlingsstatus erhalten und nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden können, faktisch Straflosigkeit in ihrem Aufnahmeland genießen würden, wenn nicht strafrechtlich gegen sie ermittelt wird.
Personen, die unter Artikel 1F vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen werden, droht ein unfairer, rechtlicher Schwebezustand, wenn in ihren Fällen nicht ermittelt wird, um die Vorwürfe gegen sie entweder zu bestätigen oder fallen zu lassen. Außerdem haben sie rechtlich keine Möglichkeit, in einen Drittstaat umzuziehen.
13. Vor welchen Herausforderungen stehen europäische Gerichte, die in schweren Verbrechen ermitteln, die in Syrien oder im Irak verübt wurden?
Es ist keine einfache Aufgabe, Verbrechen, die Tausende Kilometer entfernt in einer Konfliktsituation verübt wurden, zu untersuchen und völkerstrafrechtlich zu verfolgen. Zunächst müssen nationale Gesetze solche Verfahren ermöglichen. Zusätzlich ist ein gutes Verständnis des Völkerrechts erforderlich, um in diesen Fällen tätig zu werden. Und die Ermittlungen selbst sind oft schwierig und berühren großangelegte und komplexe Verbrechen.
Europäische Fahnder und Staatsanwälte können häufig nicht in den Ländern ermitteln, in denen ein Verbrechen begangen wurde - wie derzeit in Syrien und im Irak, wo die Kampfhandlungen anhalten. Das verkompliziert die Sammlung stichhaltiger Beweise massiv.
Da große Bevölkerungsteile aus Syrien und dem Irak vertrieben wurden, sind Opfer und Zeugen oft verstreut und schwer zu finden. Außerdem müssen europäische Ermittler und Staatsanwälte sehr vorsichtig vorgehen, um die Zeugen und Opfer oder ihre Familien nicht zu gefährden. Sprachliche und kulturelle Unterschiede können die Ermittlungen beeinträchtigen, die oft lange dauern und kostenintensiv sind. Videos und Fotos wie die, die in sozialen Medien veröffentlicht werden, können verwertbare Beweise darstellen, allerdings muss dazu zweifelsfrei festgestellt werden, dass sie authentisch sind, und zu welcher Zeit und an welchem Ort sie aufgenommen wurden.
14. Wie versuchen einige europäische Staaten, mit diesen Herausforderungen umzugehen?
Mehrere europäische Staaten, darunter die Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden, Frankreich, Norwegen, Deutschland, Großbritannien und die Schweiz, haben spezielle Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen eingerichtet, die aus Polizisten und Staatsanwälten bestehen und über spezifische Expertise für diese Art von Fällen verfügen.
Untersuchungen von Human Rights Watch zeigen, dass diese Abteilungen nationalen Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften dabei helfen können, Hürden zu überwinden. Mitarbeiter der Sonderabteilungen haben sich wichtiges Wissen und Expertise angeeignet, die ihre Arbeitsfähigkeit verbessern. Wenn sie über motiviertes und erfahrenes Personal und zweckgebundene Mittel verfügen, können die Abteilungen sich auf die Ermittlungen in schweren Verbrechen konzentrieren. Ihre bloße Existenz reflektiert oft den politischen Willen von Staaten, Straflosigkeit für Gräueltaten zu bekämpfen.
Allerdings sind die Sonderabteilungen in Frankreich, Deutschland, Schweden und der Schweiz personell und finanziell unzureichend ausgestattet und mit einem wachsenden Arbeitspensum konfrontiert. Einige Abteilungen sind neben Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch für Terrorismus zuständig. Es ist verständlich, dass die innere Sicherheit für die Behörden prioritär ist. Aber dieser Schwerpunkt sollte keine Ressourcen von Fällen unter dem Weltrechtsprinzip abziehen, die wesentlich dafür sind, die Verantwortlichen für Verbrechen in Syrien und im Irak zur Rechenschaft zu ziehen.
Länder, die über Sonderabteilungen für Kriegsverbrechen verfügen, sollten diese mit den für effektive Arbeit notwendigen Ressourcen ausstatten. Außerdem sollten weitere Länder in Erwägung ziehen, solche Abteilungen einzurichten.
Darüber hinaus ist internationale Zusammenarbeit essentiell, insbesondere weil Opfer, Zeugen und mögliche Verdächtigen nach ihrer Flucht in unterschiedlichen europäischen Länder leben.
Um diese Zusammenarbeit zu stärken, hat die EU im Jahr 2002 ein „Europäisches Netz von Anlaufstellen für Fragen betreffend Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ geschaffen. Das EU Genozid-Netzwerk intensiviert die Zusammenarbeit und den Austausch über gute Arbeitsmethoden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und einigen Beobachterstaaten durch zweijährige Treffen. Das Netzwerk hat außerdem mindestens zwei Treffen organisiert, die sich ausschließlich mit Ermittlungen in schweren Völkerrechtsverbrechen in Syrien befassten.
15. Welche Rolle spielen die verschiedenen Stellen, die schwere Verbrechen in Syrien und im Irak dokumentieren?
Mehrere internationale Organisationen sammeln und bewahren Informationen über Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Syrien, darunter das Syria Justice and Accountability Centre, die Commission for International Justice and Accountability (CIJA) und die UN-Untersuchungskommission zu Syrien. Darüber hinaus hat die CIJA Mittel erhalten, um Verbrechen gegen die jesidische Minderheit im Irak zu beobachten und Justice Rapid Response hat gemeinsam mit UN Women ein Projekt zur Dokumentation von Verbrechen im Irak durchgeführt.
Diese Dokumentationsarbeit ist essentiell, um Beweise für und andere Informationen über schwere Verbrechen in Syrien und im Irak zu sichern. Die Informationen können dazu beitragen, die Systematik von Verbrechen zu erkennen und die Befehlsverantwortung hochrangiger Beamter festzustellen, sobald es einen glaubwürdigen Rechtsmechanismus gibt, um gegen sie vorzugehen – das kann sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene geschehen, auch unter dem Weltrechtsprinzip.
Dokumentationsinitiativen sammeln unter Umständen auch Hintergrundinformationen über den Konflikt oder die Organisation bewaffneter Streitkräfte, die bei Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip genutzt werden können.
Einige Organisationen, etwa die UN-Untersuchungskommission, stehen im Kontakt mit europäischen Spezialeinheiten zu Kriegsverbrechen. Derzeit suchen europäische Staatsanwaltschaften nach Informationen zu spezifischen Fällen, für die sie zuständig werden können – also zu Fällen, bei denen sich eine verdächtige Person auf ihrem Hoheitsgebiet befindet oder die Opfer Staatsbürger ihres Landes sind.
16. Könnte Baschar al-Assad unter dem Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden?
Nicht sofort. Baschar al-Assad ist das Staatsoberhaupt Syriens. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Yerodia-Urteil Belgien das Recht abgesprochen, einen Haftbefehl gegen den kongolesischen Außenminister auszustellen. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass Staatsoberhäupter und einige Minister während ihrer Amtszeit Immunität genießen, die sie auch davor schützt, von einem Drittstaat strafrechtlich verfolgt zu werden.
Allerdings könnte unter dem Weltrechtsprinzip gegen al-Assad ermittelt werden, wenn er nicht mehr im Amt ist. In einem wegweisenden Verfahren haben senegalesische Gerichte den ehemaligen Präsidenten des Tschad, Hissène Habré, wegen Verbrechen in seinem Land in den 1980er Jahren verurteilt. Das war der erste Fall, in dem ein ehemaliges Staatsoberhaupt in einem anderen Land vor Gericht stand.
Darüber hinaus können Personen, die Immunität genießen, von internationalen Gerichten wie dem IStGH verurteilt werden.
17. Wie kann auf lange Sicht in Syrien und im Irak Gerechtigkeit hergestellt werden?
Zu gewährleisten, dass schwere Verbrechen geahndet werden, ist für sich genommen wichtig – und es ist wesentlich dafür, in Syrien einen dauerhaften und stabilen Frieden herzustellen. Daher sollte die juristische Aufarbeitung des Konflikts in jedem Übergangsplan eine zentrale Rolle spielen. Fälle unter dem Weltrechtsprinzip sind erste, wichtige Schritte in einer ansonsten öden Landschaft.
Aber um Gerechtigkeit in Syrien näher zu kommen, bedarf es eines mehrschichtigen Konzepts aus nationalen und internationalen juristischen Anstrengungen. Zwar ist der Versuch des UN-Sicherheitsrates, den IStGH mit Ermittlungen in Syrien zu betrauen, gescheitert, aber nichtsdestotrotz ist dieser Gerichtshof das internationale Organ, das am besten dafür geeignet ist, die Hauptverantwortlichen für die schrecklichen Verbrechen zu ermitteln und zu verfolgen - solange die syrischen Behörden keine überzeugenden Maßnahmen ergreifen.
Auf längere Sicht müssen auch in Syrien Prozesse stattfinden, um die Straflosigkeit einzudämmen. Sobald das möglich ist, wird das syrische Strafrechtssystem unter Umständen internationale Unterstützung benötigen. Außerdem sind Gerichtsverfahren nur ein Teil eines größeren Prozesses hin zu Gerechtigkeit und Verantwortungsübernahme. Begleitmaßnahmen werden erforderlich sein, um die Gesellschaft dabei zu unterstützen, mit den schweren Menschenrechtsverletzungen umzugehen, zum Beispiel in Form von Wahrheitskommissionen, Entschädigungszahlungen und Sicherheitssektorreformen.
Im Irak müssen ISIS auf der einen und Regierungs- und Koalitionskräfte auf der anderen Seite für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und gegen die Menschenrechte zur Rechenschaft gezogen werden. Im Februar wurde ein nationaler Prozess gegen Personen abgeschlossen, die das Massaker an bis zu 1.700 schiitischen Militärkadetten aus Camp Speicher im Norden von Tikrit im Juni 2014 verübt haben sollen. Sie wurden des Terrorismus angeklagt und der Prozess verstieß gegen internationale Standards für faire Verfahren.
Der Irak sollte Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord als Straftaten in sein nationales Recht aufnehmen und ein Mitgliedsstaat des IStGH werden. Damit wäre der Gerichtshof nicht nur für die schweren Verbrechen zuständig, die von allen Konfliktparteien im Land verübt wurden, sondern könnte durch seine Aufsicht auch den Anstoß dazu geben, dass der Irak selbst die Verantwortlichen für die schwersten Verbrechen auf allen Seiten zur Rechenschaft zieht.
18. Wie ist die Situation in Syrien und im Irak?
Syrien
In Folge des Aufstands gegen das Assad-Regime im März 2011 tobt in Syrien ein brutaler, bewaffneter Konflikt. Die Konfliktparteien verüben vorsätzliche Gräueltaten und greifen die Zivilbevölkerung willkürlich an. Bis Oktober 2015 sind mehr als 250.000 Menschen gestorben, 100.000 waren Zivilisten. Mehr als 640.000 Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt in Belagerungszuständen, 6,6 Millionen Menschen flohen in andere Landesteile, 4,8 Millionen in Nachbarländer, und mehr als 1 Millionen in die EU.
Syrische Regierungskräfte und ihre Verbündeten führen vorsätzlich willkürliche Luftangriffe durch. Unter anderem haben sie über Wohngebieten Fassbomben abgeworfen, die zum Teil mit giftigen Chemikalien gefüllt waren. Darüber hinaus belagern Regierungskräfte Gebiete, um die Zivilbevölkerung auszuhungern und Verhandlungen zu erzwingen, durch die sie die Kontrolle zurückerlangen wollen. Willkürliche und geheime Verhaftungen, Misshandlungen, Folter, und erzwungenes „Verschwindenlassen“ sind in Regierungsgefängnissen weiterhin an der Tagesordnung. Das verschlimmert die Situation in den Gefängnissen zusätzlich, in denen schreckliche Zustände herrschen. Unzählige Todesfälle in Haft zeugen davon, dass die Grundversorgung mangelhaft ist. Es fehlt an Nahrung und Hygiene, chronische Krankheiten werden oft nicht behandelt.
Auch nichtstaatliche, bewaffnete Gruppen haben schwere Völkerrechtsverbrechen begangen, etwa willkürliche und vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung in von der Regierung kontrollierten Gebieten, Rekrutierung von Kindersoldaten, Morde, Entführungen und Geiselnahmen. Extremistische islamistische Gruppen wie Jabhat al-Nusra und ISIS sind verantwortlich für systematische Menschenrechtsverletzungen, die als Kriegsverbrechen gewertet werden können, etwa grausame, außergerichtliche Tötungen. ISIS hat systematisch Frauen und Mädchen vergewaltigt, sexuell versklavt und zwangsverheiratet.
Irak
Nachdem die extremistische islamistische Gruppe ISIS im Juni 2014 die Stadt Mosul eingenommen hat, hat sich der Aufstand im Irak zu einem bewaffneten Bürgerkrieg entwickelt, in dessen Zuge sich die Menschenrechtslage rapide verschlechtert. Eine Koalition aus kurdischen und zentralirakischen Regierungskräften und regierungsnahen Milizen kämpft gegen ISIS und wird durch von der USA geführte Luftangriffe unterstützt. Bis Januar 2016 wurden mehr als 3,2 Millionen Iraker vertrieben, 3 Millionen Kinder können wegen des Konflikts die Schule nicht mehr besuchen, und der Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und Trinkwasser ist begrenzt.
Alle Konfliktparteien haben das humanitäre Völkerrecht und Menschenrechtsstandards verletzt. ISIS hat Hunderte Zivilisten hingerichtet und Frauen sexuelle versklavt. Sowohl ISIS als auch regierungsnahe Milizen rekrutieren Kindersoldaten für den bewaffneten Kampf. Erzwungenes „Verschwindenlassen“ und Folter sind anhaltende Probleme. ISIS hält Zivilisten davon ab, Konfliktgebiete zu verlassen und Regierungsstellen verwehren Menschen, die vor ISIS fliehen, zum Teil den Zugang zu sicheren Gebieten oder die Rückkehr in ihre Heimat. Regierungsnahe Milizen zerstören im Nachgang von Kampfhandlungen im großen Umfang Wohnhäuser und Geschäfte. Regierungskräfte führen mutmaßlich willkürliche Luft- und Artillerieangriffe durch.
19. Sind Verbrechen in Syrien und im Irak die einzigen, die unter dem Weltrechtsprinzip verhandelt werden?
Nein. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Strafverfolgung nationaler Gerichte auf völkerrechtlicher Grundlage deutlich weiterentwickelt. Europäische, kanadische und US-amerikanische Gerichte haben sich mit Verbrechen befasst, die unter anderem in Ruanda, der Demokratischen Republik Kongo, Afghanistan, Guatemala, dem Kosovo, dem Irak, Liberia, Bosnien-Herzegowina und Argentinien verübt wurden.
Ein senegalesisches Sondergericht hat vor kurzem den ehemaligen Präsidenten des Tschad, Hissène Habré, verurteilt. Außerdem haben Argentinien, der Senegal und Südafrika damit begonnen, massive Menschenrechtsverletzungen in China, der Demokratischen Republik Kongo, Spanien, Paraguay und Simbabwe zu untersuchen.
Verfolgung von Kriegsverbrechen in Europa
Human Rights Watch veröffentlicht heute ein „Fragen und Antworten“-Dokument und ein Video über bahnbrechende Ermittlungen und Strafverfahren in europäischen Ländern gegen Personen, denen Entführungen, Misshandlungen und Folter in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Die Verfahren wurden möglich, weil Zeugen und Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.
(Brüssel) - Human Rights Watch veröffentlicht heute ein „Fragen und Antworten“-Dokument und ein Video über bahnbrechende Ermittlungen und Strafverfahren in europäischen Ländern gegen Personen, denen Entführungen, Misshandlungen und Folter in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Die Verfahren wurden möglich, weil Zeugen und Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.
AufklappenEin Syrer trägt seine zwei Kinder über Trümmer nach einem Fassbombenanschlag auf das von Rebellen kontrollierte Gebiet al-Kalasa in der nordsyrischen Stadt Aleppo am 17. September 2015.
© 2015 GettyDie derzeit in einer Reihe von europäischen Ländern laufenden Untersuchungen beruhen auf dem Weltrechtsprinzip. Dieses befugt nationale Gerichte dazu, gegen Personen zu ermitteln, die verdächtigt werden, in einem anderen Land ein schweres Völkerrechtsverbrechen begangen zu haben. Die europäischen Ermittlungen stellen die ersten glaubhaften Versuche dar, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für brutale Übergriffe auf die Zivilbevölkerung in Syrien und im Irak verantwortlich sind. Die Verfahren unterstreichen, dass schwerste Verbrechen in diesen Ländern die Menschheit insgesamt betreffen und auch dann verfolgt werden können, wenn die Täter versuchen, im Ausland unterzutauchen.
„Mehrere europäische Länder geben den Menschen, die aus Syrien und dem Irak geflohen sind und deren Leben massiv erschüttert wurden, einen Funken Hoffnung darauf, dass die Verbrechen gegen sie nicht ungestraft bleiben werden“, so Balkees Jarrah, Völkerrechtsexpertin bei Human Rights Watch. „Außerdem stärken die Weltrechtsverfahren die Grundlage dafür, Fragen der Gerechtigkeit in die zukünftigen Friedensabkommen aufzunehmen.“
Die „Fragen und Antworten“ erläutern, wie das Weltrechtsprinzip funktioniert, stellen Verfahren aus unterschiedlichen europäischen Ländern vor, und informieren darüber, wie diese gestärkt werden können. Das Video beinhaltet Interviews mit Experten und einem syrischen Aktivisten, die das genaue Vorgehen erklären.
Verfolgung von Kriegsverbrechen in Europa
Human Rights Watch veröffentlicht heute ein „Fragen und Antworten“-Dokument und ein Video über bahnbrechende Ermittlungen und Strafverfahren in europäischen Ländern gegen Personen, denen Entführungen, Misshandlungen und Folter in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Die Verfahren wurden möglich, weil Zeugen und Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.
Die derzeit in einer Reihe von europäischen Ländern laufenden Untersuchungen beruhen auf dem Weltrechtsprinzip. Dieses befugt nationale Gerichte dazu, gegen Personen zu ermitteln, die verdächtigt werden, in einem anderen Land ein schweres Völkerrechtsverbrechen begangen zu haben. Die europäischen Ermittlungen stellen die ersten glaubhaften Versuche dar, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für brutale Übergriffe auf die Zivilbevölkerung in Syrien und im Irak verantwortlich sind. Die Verfahren unterstreichen, dass schwerste Verbrechen in diesen Ländern die Menschheit insgesamt betreffen und auch dann verfolgt werden können, wenn die Täter versuchen, im Ausland unterzutauchen.
Warum Deutschland Folter-Verbrechen der USA untersuchen kann und soll
Im Jahr 2004 erstatteten vier Iraker beim deutschen Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen leitende US-Beamte wegen Folter und anderer Verbrechen der amerikanischen Streitkräfte im Gefängnis Abu Ghraib im Irak. Die US-Regierung protestierte vehement dagegen und drohte damit, dass dieser Fall die deutsch-amerikanischen Beziehungen belasten könnte. Der Generalbundesanwalt untersuchte die einzelnen Vorwürfe erst gar nicht, sondern wies die Klage zurück. Die pauschale Begründung dafür lautete: Es bestünden keine Anhaltspunkte, daß die Behörden und Gerichte der Vereinigten Staaten von Amerika von strafrechtlichen Maßnahmen wegen Folter in amerikanischen Hafteinrichtungen im Irak Abstand genommen hätten oder Abstand nehmen würden.
Zehn Jahre später ist klar, dass die USA die meisten in Abu Ghraib verübten Verbrechen nicht effektiv und unabhängig untersucht haben. Das gleiche gilt, für das noch viel umfangreichere, staatlich geförderte Folterprogramm, das nach den Anschlägen vom 11. September aufgebaut wurde.
Genau vor einem Jahr veröffentlichte der US-Senat eine vernichtende, 499-seitige Zusammenfassung seiner Untersuchung des geheimen Entführungs-, Haft- und Verhörprogramms der CIA. Dieser Kurzbericht bestätigte frühere Meldungen über schwere Misshandlungen von Gefangenen und enthüllte, dass US-Beamte brutaler, systematischer und umfangreicher gefoltert haben, als dies zuvor bekannt war. Gefangene wurden wochen-, monate- oder jahrelang in stockfinstere, fensterlose Zellen gesperrt und nackt oder mit Windeln an Wände gekettet. Andere wurden auf schockierende Art „rektal ernährt“ oder dem sogenannten „Waterboarding“ unterzogen. Ein Gefangener musste ohne Schlaf tagelang mit gebrochenen Knochen stehen.
US-Beamte haben im völkerrechtlichen Sinne schwerste Verbrechen verübt. Die US-Regierung ist rechtlich dazu verpflichtet, die Verantwortlichen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Aber offensichtlich fehlt den Behörden jeder politische Wille, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Umso wichtiger ist es, dass andere Länder, auch Deutschland, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv werden und verhindern, dass die CIA-Folterer ihrer Strafe entgehen.
In einem am 1. Dezember veröffentlichten Bericht weist Human Rights Watch die Argumente zurück, mit denen die US-Behörden die Straflosigkeit rechtfertigen, darunter die Position von Präsident Obama, es sei „Zeit, nach vorne statt nach hinten zu sehen“, und Behauptungen, dass rechtliche Hindernisse strafrechtliche Untersuchungen unmöglich machten. Der Bericht zeigt, dass es nach US-Recht möglich ist, die Verbrechen zu untersuchen. Wenn die Regierung weiter untätig bleibt, verletzt sie nicht nur ihre völkerrechtlichen Pflichten, sondern lässt auch die Möglichkeit offen, dass zukünftige US-Beamte erneut menschenrechtswidrige Praktiken anwenden. Diese Sorge ist nicht unbegründet, denn einige Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen im kommenden Jahr haben bereits angedeutet, dass sie die Folter-Politik wiederbeleben wollen, wenn sie gewählt werden.
Die USA tragen die Hauptverantwortung dafür, Vorwürfe gegen ihre Beamten zu untersuchen und Folter-Opfer zu entschädigen. Das US-Justizministerium sollte neue Ermittlungen einleiten. Aber Prozesse sind auch in anderen Ländern möglich.
Nach deutschem Recht sind hiesige Gerichte für bestimmte, schwerste internationale Verbrechen zuständig, auch wenn diese im Ausland gegen Ausländer oder von Ausländern verübt wurden. Das entspricht dem wichtigen, völkerrechtlichen „Weltrechtsprinzip“. Im Jahr 2009 richtete die deutsche Regierung eine hochspezialisierte Zentralstelle für Kriegsverbrechen beim Bundeskriminalamt und bei der Generalbundesanwaltschaft ein. Es wurden bereits zwei Prozesse gegen Verantwortliche für in Ruanda und in der Demokratischen Republik Kongo verübte Verbrechen geführt. Mehrere andere Untersuchungen laufen noch, darunter auch „strukturelle Ermittlungen“, in deren Zuge ohne konkrete Tatverdächtige Informationen und Beweise gesammelt werden - etwa für anhaltende Völkerrechtsverstöße in Syrien.
Die völkerrechtlichen Grundlagen und der politische Wille, Straflosigkeit für unvorstellbare Gräueltaten zu beenden, haben ihren Ursprung in der Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen und in den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund seiner Geschichte zählt Deutschland heute zu den Ländern, die eine Führungsrolle dabei spielen, dass schwerste Verbrechen nicht ungeahndet bleiben.
Nach der Veröffentlichung des US-Senatsberichts wurde im Dezember 2014 in Deutschland erneut Strafanzeige gegen US-Beamte im Zusammenhang mit Folter gestellt.
Der Generalbundesanwalt sollte erwägen, eine „strukturelle Untersuchung“ schwerster Verbrechen von US-Beamten nach dem 11. September einzuleiten. Das wäre ein deutliches Signal, dass sogar die Vertreter eines mächtigen Staates wie der USA nicht außerhalb des Rechts stehen, wenn sie foltern oder auf andere Art massiv gegen das Völkerrecht verstoßen. Und es würde beweisen, dass Deutschland sich überall gegen Straflosigkeit einsetzt - egal, ob die Verantwortlichen aus Ruanda, Syrien oder den USA stammen.
Die im Zuge einer strukturellen Untersuchung gesammelten Informationen können in zukünftigen Strafverfahren genutzt werden, sofern die Verdächtigen jemals nach Deutschland kommen. Und selbst dann, wenn sie niemals in Deutschland oder andere Länder einreisen, in denen derartige Ermittlungen eingeleitet werden können, wäre nichts verloren. Die Reisefreiheit mutmaßlicher Täter einzuschränken und Beweise zur späteren Verwendung zu sammeln, ist nur ein kleiner Schritt für die Gerechtigkeit. Doch es ist ein Schritt in die richtige Richtung.
DR Kongo: Deutsches Gericht verurteilt zwei ruandische Rebellen-Führer
(Stuttgart) – Die Verurteilung durch ein deutsches Gericht von zwei ruandischen Rebellen-Führern wegen Verbrechen in der Demokratischen Republik Kongo ist ein wichtiger Beitrag, um den Opfern von Massenverbrechen im Kongo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so Human Rights Watch heute.
Am 28. September 2015 verurteilte ein Gericht in Stuttgart Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni, den Präsidenten und den Vize-Präsidenten der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (Forces Démocratiques pour la Libération du Rwanda, FDLR), zu 13 beziehungsweise acht Jahren Haft. Das Gericht sprach Murwanashyaka schuldig wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit fünf Angriffen der FDLR im Osten des Kongos und wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung. Musoni wurde ebenfalls wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, allerdings von den Vorwürfen freigesprochen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt zu haben.
AufklappenNach dem Einmarsch der ruandischen Armee fliehen diese Menschen aus Angst vor Vergeltungsschlägen der FDLR aus ihren Dörfern. Region Masisi, Nord-Kivu, Demokratische Republik Kongo, Februar 2009.
© 2009 Michael Kavanagh„Das Urteil eines deutschen Gerichts gegen ruandische Rebellen-Führer wegen Verbrechen im Kongo zeigt, dass die Welt für Kriegsverbrecher kleiner geworden ist“, so Géraldine Mattioli-Zeltner, Advocacy-Direktorin der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Das Stuttgarter Gericht ist zwar weit entfernt vom Osten des Kongos, aber seine Richter haben Tausenden Kongolesen endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, deren Menschenrechte die FDLR auf schrecklichste Weise verletzt hat.“
Die FDLR wurde lange Zeit nicht strafrechtlich wegen der schweren Gräueltaten verfolgt, die sie an der kongolesischen Zivilbevölkerung begangen hat. Dies war der erste Prozess, bei dem sich zwei Führer der Rebellengruppe verantworten mussten. Die deutschen Behörden sollen Maßnahmen ergreifen, damit die betroffene Bevölkerung im Kongo von diesem wichtigen Urteil erfährt, etwa indem die Opfer Zugang zu relevanten Informationen erhalten.
Die FDLR ist eine überwiegend ruandische Hutu-Rebellengruppe im Osten des Kongo. Einige ihrer Führer waren im Jahr 1994 am Genozid im benachbarten Ruanda beteiligt. Murwanashyaka und Musoni lebten seit mehreren Jahren in Deutschland,als sie im November 2009 verhaftet wurden. Beiden wurden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt, die zwischen den Jahren 2008 und 2010 von FDLR-Kämpfern im Osten des Kongos verübt worden sein sollen, sowie die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Der Prozess begann im Mai 2011. Ein schriftliches Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht. Murwanashyaka und Musoni können gegen das Urteil und das Strafmaß Berufung einlegen.
Das Verfahren war das erste unter dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch, das das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in das deutsche Recht integriert. Es befugt deutsche Gerichte, zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid zu ermitteln und die Verantwortlichen zu verfolgen, unabhängig davon, wo die Verbrechen verübt wurden. Im April 2009 wurde im Bundeskriminalamt eine Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) geschaffen, die darauf spezialisiert ist, Ermittlungen zu schwersten internationalen Verbrechen durchzuführen.
Die Ermittlungen in und die Verfolgung von komplexen Verbrechen, die Tausende Kilometer entfernt verübt wurden, stellt das deutsche Justizsystem vor große Herausforderungen.
Etwa wurden mehrere Anklagepunkte aus den Bereichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Laufe des Verfahrens fallen gelassen, da Beweise fehlten. Das warf Fragen auf, wie gründlich die deutschen Behörden ermittelt haben. Besondere Maßnahmen waren nötig, um die Sicherheit und den Schutz von Opfern und Zeugen zu gewährleisten. Die zum Teil schlechte Qualität von Übersetzungen aus Sprachen, die im Kongo und in Ruanda gesprochen werden, ins Deutsche führte vor Gericht zu Auseinandersetzungen darüber, wie verwertbar einzelne Aussagen waren.
Auch sind manche Vorschriften des deutschen Verfahrensrechts für diese Art von Prozessen ungeeignet. So müssen etwa die Namen von Opfern, die als Zivilparteien im Prozess auftreten, veröffentlicht werden. Dadurch konnten kongolesische Opfer aus Sicherheitsgründen nicht am Prozess teilnehmen.
Die deutschen Justizbehörden sollen aus diesem Prozess lernen, um zukünftige Strafverfahren wegen schwerster internationaler Verbrechen zu verbessern.
Deutschland und andere Länder, die über entsprechende Gesetze verfügen, sollen weiterhin zu schwerwiegenden, im Ausland verübten Verbrechen ermitteln, insbesondere wenn eine Strafverfolgung in den Ländern selbst nicht möglich ist.
Im Jahr 2012 erließ der IStGH einen Haftbefehl gegen den militärischen Führer der FDLR, General Sylvestre Mucacumura, der sich mutmaßlich im Ost-Kongo aufhält und sich bislang erfolgreich den Justizbehörden entzieht.
Der Stuttgarter Schuldspruch unterstreicht, wie wichtig es ist, den Militärkommandanten der FDLR zu verhaften, dessen Truppen grauenhafte Menschenrechtsverletzungen im Ost-Kongo verübt haben. Die kongolesischen Behörden und die UN-Friedensmission sollen dringend dem Haftbefehl des IStGH folgen und sicherstellen, dass sich auch Mudacumura vor Gericht verantworten muss.
„Trotz der Komplexität des Verfahrens haben die deutschen Behörden das Richtige gemacht. Mit diesem Prozess haben sie bewiesen, dass Deutschland kein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher ist“, so Mattioli-Zeltner. „Die Regierung soll daran arbeiten, zukünftige Verfahren unter dem Völkerstrafgesetzbuch zu verbessern. Zudem soll die Arbeit der Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen politisch und finanziell weiterhin starke Unterstützung erhalten.“
Europa: Nationale Gerichtshöfe bauen Reichweite der Justiz aus
(Den Haag) - Regierungen sollen sich drei europäische Länder mit Führungsrolle zum Vorbild nehmen, wenn sie die Straflosigkeit für schwerste internationale Verbrechen bekämpfen wollen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Spezialisierte Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit Vertretern der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Einwanderungsbehörde können die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen weltweit vor Gericht bringen und gewährleisten, dass Kriegsverbrecher selbst nach der Flucht aus dem eigenen Land keinen sicheren Aufenthaltsort finden.
In dem 109-seitigen Bericht „The Long Arm of Justice: Lessons from Specialized War Crimes Units in France, Germany, and the Netherlands” wird untersucht, wie Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen in den drei Ländern agieren und welche wichtigen Erfahrungen sie gemacht haben. An den Orten, wo derartige Verbrechen begangen werden, ist es um die Justiz zumeist schlecht bestellt, deshalb wenden die Gerichte der drei Staaten wie auch in anderen Ländern häufiger das seit langem geltende Prinzip der „weltrechstprinzip“ an, um Personen strafrechtlich zu verfolgen, die des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen verdächtigt werden, und zwar unabhängig davon, wo die Verbrechen begangen wurden und welche Nationalität Opfer und Angeklagte haben.
„Universelle Gerichtsbarkeit ist ein wichtiges Sicherheitsnetz für Opfer, die sich ansonsten nirgendwo an die Justiz wenden können“, sagte Leslie Haskell, Expertin für internationale Justiz von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen sorgen dafür, dass in diesen Fällen etwas geschieht – und vermitteln Personen, die die Menschenrechte verletzen, eine ganz klare Botschaft: Die Zeiten sind vorbei, in denen derartige Verbrechen straffrei blieben und man es sich in einem hübschen Exil gemütlich machen konnte.“
Häufig sind nationale Gerichtshöfe der Länder, in denen Verbrechen begangen wurden, nicht imstande, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Dies kann mit zerstörten juristischen Institutionen, unzureichender Gesetzgebung oder fehlenden Ressourcen zu tun haben. Manche Staaten tun sich auch schwer damit, der Gerechtigkeit Genüge zu tun, wenn ranghohe Regierungsvertreter in die Verbrechen verwickelt sind. Internationale Tribunale, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs, können in derartigen Fällen zwar Abhilfe schaffen, doch aufgrund von Einschränkungen ihrer Jurisdiktion und ihrer Ressourcen nicht den vollen Anforderungen der Justiz gerecht werden. Die von den speziellen Abteilungen propagierte universelle Gerichtsbarkeit hat sich dagegen zu einem wichtigen Instrument entwickelt, um Personen, die für schwere völkerrechtliche Straftaten verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen.
Für den Bericht wurden Staatsanwälte, Ermittlungsrichter, Polizeiermittler, Beamte von Einwanderungsbehörden, Anwälte der Verteidigung und der Opfer, Regierungsvertreter, Akademiker, Aktivisten und Gerichtsbeobachter in den drei Ländern befragt. Auf dieser Grundlage wurden die Erfolge der Abteilungen für Kriegsverbrechen beurteilt und untersucht, welchen Problemen diese Abteilungen weiterhin ausgesetzt sind. Die dienstälteste und stabilste Abteilung zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen ist in den Niederlanden. Sie kann gut als Vorbild für Regierungen dienen, die über die Gründung einer ähnlichen Einrichtung nachdenken. In dem Bericht wird auf Verfahren in jedem der Länder eingegangen sowie auf den Abschluss der ersten Gerichtsverfahren, die von den entsprechenden Abteilungen in Frankreich und Deutschland initiiert worden waren.
Die meisten schwebenden Verfahren gibt es in Frankreich, wo noch mehr als zwei Dutzend Fälle gegen ruandische Staatsbürger offen sind, denen Beteiligung am Völkermord von 1994 vorgeworfen wird. In Frankreich finden zudem bahnbrechende Ermittlungen gegen zwei französische Unternehmen statt, die Überwachungstechnik nach Libyen und Syrien verkauft haben – Technik, die mutmaßlich dazu verwendet wurde, Regierungsgegner zu kontrollieren, was letztlich dazu führte, dass diese Personen verhaftet und gefoltert wurden.
Schwere völkerrechtliche Verstöße auf der Grundlage der weltrechstprinzipzu untersuchen, ist eine besonders komplexe Angelegenheit, weil die Verbrechen vor vielen Jahren im Ausland und in großem Umfang stattfanden. Zudem könnenBeweise über verschiedene Länder verteilt sein. Zwei der wichtigsten Leistungen der Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen stellen die innovativen Ermittlungstechniken dar sowie die Fähigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft, im Ausland zu ermitteln, und zwar auch in den Ländern, wo die Verbrechen begangen wurden.
„Für Polizisten und Staatsanwälte, die den Umgang mit nationalen Verbrechen gewohnt sind, kann es eine einschüchternde Erfahrung sein, gegen Völkermörder und Kriegsverbrecher aus weit entfernten Ländern zu ermitteln und sie anzuklagen“, so Haskell. „Um dieser Herausforderung bestmöglich Herr zu werden, sollte die Erfahrung in spezialisierten Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit dem notwendigen Personal, der notwendigen Erfahrung und den notwendigen Ressourcen gebündelt werden.“
Polizei und Staatsanwaltschaft in den Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen haben gelernt, mit den vielen Schwierigkeiten umzugehen, die diese Fälle in der Praxis mit sich bringen – beispielsweise glaubwürdige Opfer und Zeugen zu finden, beim Umgang mit Dolmetschern und anderen Experten oder wenn es darum geht, die Kooperation ausländischer Justizbehörden zu gewährleisten. Wie Human Rights Watch feststellte, hat das Personal dieser spezialisierten Abteilungen seine Ermittlungstechniken durch Versuch-und-Irrtum- verbessert und wertvolle Erfahrungen gemacht, die in künftigen Fällen von Nutzen sein können.
Darüber hinaus hat Human Rights Watch Bereiche ausgemacht, in denen Verbesserungsbedarf besteht, beispielsweise wenn es darum geht, sich bei Ermittlungen im Ausland nicht unnötig abhängig von den dortigen Behörden zu machen, oder beim besseren Zeugen- und Opferschutz. Dokumentarische oder forensische Beweise sind häufig nur schwer zu finden, deshalb kommt in derartigen Verfahren den Aussagen von Zeugen und Opfern – von denen viele noch immer in dem Land leben, in dem die Verbrechen begangen wurden – ganz besondere Bedeutung zu. Diese Personen gehen für sich und ihre Angehörigen oftmals hohe Risiken ein, wenn sie mit den Justizbehörden kooperieren. In nahezu allen Fällen sei der Zeugenschutz eine Hauptsorge gewesen, sagen Polizei und Staatsanwaltschaft der drei Länder.
In Deutschland hat die Bundesstaatsanwaltschaft auch ohne spezifische Verdächtige breit angelegte vorläufige Untersuchungen zu Verbrechen in mehreren Konfliktländern, darunter Syrien, eingeilet. Diese „strukturellen Ermittlungen“ dienen dazu, Informationen zu Verbrechen zusammenzutragen und mögliche Opfer und Zeugen in Deutschland zu identifizieren, die von Nutzen sein könnten, wenn zu einem späteren Zeitpunkt in Deutschland oder einem anderen Land Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Seit Ende 2013 bittet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylsuchende aus Syrien, in einem Formular zu beantworten, ob sie Zeuge von Kriegsverbrechen wurden und ob sie die Verantwortlichen benennen können.
„Spezialisierte Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen haben die Erfahrung gemacht, dass es einfacher ist, kurz nach dem Verbrechen Beweise zu sammeln als nach vielen Jahren. Syrien ist hervorragend dafür geeignet, diese Lektion in die Praxis umzusetzen“, so Haskell. „Die nationalen Behörden sollen alle in ihrem Land zur Verfügung stehenden Beweise für schwere Völkerrechtsverstöße sammeln lassen, auch durch Flüchtlinge, damit diese Beweise später für Anklagen genutzt werden können.“
Ohne den politischen Willen ist die Gründung von Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen nicht machbar. Genauso ist der politische Wille unerlässlich, damit die spezialisierten Abteilungen erfolgreich arbeiten können. Schließlich sind die Fälle, mit denen sie sich befassen, oftmals politisch heikel und von Spannungen auf diplomatischer Ebene begleitet – vor allem dann, wenn sich die Ermittlungen auf ranghohe ausländische Staatsvertreter erstrecken.
Der in den Niederlanden herrschende starke politische Wille, der Straflosigkeit einen Riegel vorzuschieben, hat zur Gründung einer spezialisierten Abteilung der Einwanderungsbehörde geführt. Diese überprüft Asylsuchende mit dem Ziel, Personen keinen Flüchtlingsstatus zu gewähren, denen schwere völkerrechtliche Verbrechen vorgeworfen werden. Haben Beamte der Einwanderungsbehörde den Verdacht, eine Person könnte ein schweres völkerrechtliches Verbrechen begangen haben, alarmieren sie die Polizei und die Staatsanwaltschaft und übergeben alle Informationen, die für eine strafrechtliche Ermittlung von Belang sein könnten.
Ebenfalls von zentraler Bedeutung für die erfolgreiche Arbeit von Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen ist die Kooperation untereinander. Die Europäische Union hat ein Netzwerk erschaffen, in dem Vertreter nahezu aller 28 EU-Mitgliedstaaten sowie eine Handvoll Beobachterstaaten zwei Mal im Jahr zusammenkommen, um über rechtliche und praxisbezogene Themen ihrer Arbeit zu sprechen und Informationen zu speziellen Fällen zu teilen. Die beeindruckenden Erfolge dieser Initiative haben zu ähnliche Bemühungen anderer Kooperationsgremien der EU sowie der Afrikanischen Union geführt.
„Das Genozid-Netzwerk der EU hat die internationale Zusammenarbeit beträchtlich verbessert und könnte noch mehr erreichen, wenn die Brüsseler Institutionen mehr politische Rückendeckung und zusätzliche Ressourcen bereitstellen würden“, sagte Haskell. „Die EU-Staaten verfügen über das Potenzial, bei der weltrechstprinzipan vorderster Front zu stehen und eine Führungsrolle zu übernehmen, damit die Verantwortlichen für die abscheulichen Verbrechen in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik und in anderen Konfliktgebieten zur Verantwortung gezogen werden.“
UN-Mitgliedstaaten sollen sich gegen Besuch al-Bashirs aussprechen
(New York) – Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und andere UN-Mitgliedstaaten sollen sich öffentlich gegen eine Teilnahme des sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir an der UN-Vollversammlung aussprechen, da gegen diesen ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts (IStGH) wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Darfur besteht. Die Regierungen sollen klarstellen, dass sie mit al-Bashir, falls dieser nicht von seinem Besuch absieht, keinerlei Umgang pflegen und nicht an Veranstaltungen teinehmen werden, an denen al-Bashir teilnimmt.
Vertretern der amerikanischen Regierung zufolge hat al-Bashir ein Visum beantragt, um an der UN-Vollversammlung teilzunehmen, deren Generaldebatte für den Zeitraum vom 24. September bis 2. Oktober 2013 anberaumt ist. Gegen al-Bashir bestehen zwei Haftbefehle des IStGH wegen Verbrechen in Darfur, der eine wegen Völkermordes, der andere wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der IStGH hatte Ermittlungen eingeleitet, nachdem der UN-Sicherheitsrat im März 2005 in seiner Resolution Nr. 1593 die Lage in Darfur an den Gerichtshof überwiesen hatte.
„Sollte al-Bashir bei der UN-Vollversammlung erscheinen, würde er die Bemühungen des Sicherheitsrats für die Strafverfolgung der Verbrechen in Darfur in dreister Weise auf die Probe stellen“, so Elise Keppler, stellvertretende Direktorin der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Das letzte, was die UN jetzt braucht, ist ein Besuch von einem IStGH-Flüchtling.“
Mit al-Bashirs Besuch würde zum ersten Mal eine Person die USA und die UN besuchen, gegen die ein Haftbefehl des IStGH vorliegt. Bislang vermieden viele Staaten – Unterzeichner und Nicht-Unterzeichner des IStGH-Statuts gleichermaßen – al-Bashirs Besuche, indem sie ihn zur Entsendung anderer Vertreter der sudanesischen Regierung aufforderten, Treffen räumlich und zeitlich verschoben oder seine Visite schlichtweg absagten. Zu diesen Staaten gehören Südafrika, Malaysia, Sambia, die Türkei, die Zentralafrikanische Republik, Kenia und Malawi.
Die USA verurteilten al-Bashirs geplanten Besuch zur UN-Vollversammlung. Am 16. September bezeichnete Samantha Power, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, diesen als „bedauerlich, zynisch und äußerst unagemessen“.
In Reaktion auf al-Bashirs geplanten UN-Besuch appellierte Human Rights Watch an alle UN-Mitgliedstaaten, die möglichen rechtlichen Konsequenzen zu bedenken. Die Vertragsstaaten des IStGH sind durch das Römische Statut verpflichtet, bei der Verhaftung Strafverdächtiger mit dem Gerichtshof zu kooperieren. Auch die UN-Sicherheitsratsresolution 1593, welche die Lage in Darfur an den IStGH verweist, fordert alle Staaten und die betroffenen regionalen sowie andere internationalen Organisationen auf, uneingeschränkt mit dem Gericht zusammenzuarbeiten. Die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1949 verlangt in Artikel 4: „Personen, die Völkermord [...] begehen, sind zu bestrafen, gleichviel ob sie Regierungsvertreter, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind.“
Die Resolution 1593 verpflichtet den Sudan zur Kooperation mit dem IStGH. Auch in einer Präsidententerklärung des Sicherheitsrats aus dem Jahr 2008 wird der Sudan aufgefordert, mit dem Gericht zusammenzuarbeiten, damit das Land die Resolution 1593 einhält. Der Rat verfolgte diese Erklärung jedoch nicht angemessen weiter.
Menschenrechtler und Nichtregierungsorganisationen mobilisieren, insbesondere in Afrika, gegen jegliche Reisen al-Bashirs und für seine Auslieferung an den IStGH. Zuletzt reichte die nigerianische Koalition für den IStGH in Nigeria Klage ein, als al-Bashir das Land unerwartet besuchte, um an einer Konferenz der Afrikanischen Union teilzunehmen. Die öffentliche Verurteilung seines Besuchs trug zweifellos zu seiner abrupten Abreise bei.
„Al-Bashir gehört an genau einen Ort: Vor den IStGH, wo er sich wegen der abscheulichen Verbrechen in Darfur verantworten muss“, so Keppler. „Die zahllosen Opfer in Dafur verdienen es, ihn dort zu sehen - und nicht in den Sälen der Vereinten Nationen.“