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Art. 18 GG - Grundrechtsverwirkung (Kommentar)

¹Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Absatz 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Absatz 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. ²Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.

1. Allgemeines zu Art. 18 GG

Artikel 18 des Grundgesetzes (GG) gehört zu den außergewöhnlichen Bestimmungen der deutschen Verfassung. Er enthält die Möglichkeit, dass Grundrechte verwirkt werden können, wenn sie „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ missbraucht werden. Die Regelung des Art. 18 GG ist einzigartig, da sie das Grundrechtskonzept des Grundgesetzes in einer Weise ergänzt, die über den üblichen Schutz vor Missbrauch hinausgeht. Während Grundrechte im Wesentlichen Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat darstellen, sieht Art. 18 GG eine scharfe Sanktion für den Missbrauch dieser Rechte vor. Dabei verfolgt er einen präventiven Ansatz: Der Missbrauch grundlegender Rechte, um die freiheitliche demokratische Grundordnung zu bekämpfen, soll konsequent unterbunden werden.

Art. 18 GG war immer wieder Gegenstand intensiver verfassungsrechtlicher Diskussionen und hat eine erhebliche Bedeutung im Kontext einer wehrhaften Demokratie. Die Norm ist ein Instrument des Verfassungsschutzes, das mit dem Ziel geschaffen wurde, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen und das staatliche Gemeinwesen gegen seine Feinde zu verteidigen.

2. Historische Entwicklung und Hintergrund

Die Regelung des Art. 18 GG geht auf historische Erfahrungen der Weimarer Republik zurück, die im Grundgesetz bewusst reflektiert wurden. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) war eine der liberalsten Verfassungen ihrer Zeit, ermangelte jedoch effektiver Schutzmechanismen gegen antidemokratische Bestrebungen. Parteien und Bewegungen, die die demokratische Ordnung der Weimarer Republik bekämpften, konnten die Verfassungsrechte jener Republik frei in Anspruch nehmen, um deren Abschaffung zu propagieren. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes zogen aus diesen Erfahrungen die Lehre, dass die neue Demokratie „wehrhaft“ sein müsse. Art. 18 GG ist somit ein Ausdruck der „wehrhaften Demokratie“, die das Grundgesetz durchsetzt.

3. Persönlicher und sachlicher Schutzbereich

3.1. Persönlicher Schutzbereich

Der persönliche Schutzbereich des Art. 18 GG umfasst grundsätzlich jede natürliche Person, die die genannten Grundrechte in Anspruch nehmen kann. Er betrifft sowohl deutsche Staatsangehörige als auch Ausländer, soweit diese die geschützten Grundrechte gemäß den Bestimmungen des Grundgesetzes beanspruchen können. Personenmehrheiten, wie zum Beispiel Vereine oder Organisationen, sind ebenfalls umfasst, soweit sie Träger der entsprechenden Grundrechte sind. Die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungs-, Pressefreiheit) und Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) gelten in gewissem Umfang auch für juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach anwendbar sind (Art. 19 Abs. 3 GG).

3.2. Sachlicher Schutzbereich

Art. 18 GG umfasst im sachlichen Schutzbereich eine Vielzahl besonders gewichtiger Grundrechte. Die Norm führt diese Grundrechte explizit auf:

  • Freiheit der Meinungsäußerung und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG): Die Meinungsfreiheit als „Schutzschild“ der Demokratie wird hier besonders hervorgehoben. Missbrauch liegt vor, wenn die Meinungsfreiheit genutzt wird, um beispielsweise zu Hass und Hetze gegen die verfassungsmäßige Ordnung aufzurufen.
  • Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG): Hierunter fällt die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre. Ein Missbrauch könnte gegeben sein, wenn etwa wissenschaftliche Thesen verbreitet werden, die dem Zweck dienen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu untergraben.
  • Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG): Die Versammlungsfreiheit als zentrales demokratisches Recht ist erfasst, wenn Demonstrationen oder Versammlungen organisiert werden, um demokratiefeindliche Ziele zu verfolgen.
  • Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG): Der Missbrauch liegt hier vor, wenn sich Vereine oder Vereinigungen zu Zwecken gründen, die dem Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung dienen.
  • Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG): Ein Missbrauch kann vorliegen, wenn dieses Grundrecht zur Kommunikation genutzt wird, die darauf abzielt, staatsfeindliche Aktivitäten zu koordinieren.
  • Eigentum (Art. 14 GG): Der Missbrauch könnte etwa in der Bereitstellung finanzieller Mittel zur Finanzierung verfassungsfeindlicher Bestrebungen bestehen.
  • Asylrecht (Art. 16a GG): Ein Missbrauch des Asylrechts könnte vorliegen, wenn das Recht auf Asyl genutzt wird, um eine demokratisch verfasste Ordnung zu bekämpfen.

4. Voraussetzungen und Verfahren der Grundrechtsverwirkung

4.1. Missbrauch von Grundrechten

Die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG setzt einen „Missbrauch“ voraus. Der Begriff des Missbrauchs ist restriktiv auszulegen und setzt voraus, dass die Ausübung des Grundrechts „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ erfolgt. Dies bedeutet, dass das jeweilige Grundrecht gezielt dazu verwendet wird, gegen die Verfassung zu agieren. Es genügt nicht, dass das Grundrecht lediglich im Rahmen einer Handlung berührt wird, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegensteht. Vielmehr muss der Gebrauch des Grundrechts der eigentliche Zweck der Bekämpfung sein.

4.2. Freiheitliche demokratische Grundordnung

Der Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ ist verfassungsrechtlich definiert. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung festgehalten, dass es sich dabei um eine „ordnungspolitische Grundentscheidung der Verfassung“ handelt, die „den Kern der verfassungsmäßigen Ordnung“ darstellt (BVerfGE 5, 85 [141]). Sie umfasst wesentliche Verfassungsprinzipien wie die Achtung der Menschenrechte, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit für alle politischen Parteien sowie das Recht auf verfassungsmäßige Ausübung einer Opposition.

4.3. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

Die Verwirkung eines Grundrechts kann nur durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden. Dies ergibt sich aus dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 18 GG („wird durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen“). Das Verfahren zur Feststellung der Grundrechtsverwirkung ist in den §§ 36 ff. BVerfGG geregelt. Antragsteller kann nur der Bundestag, der Bundesrat oder die Bundesregierung sein. Das Gericht entscheidet im Rahmen einer Verhandlung durch Urteil. Es handelt sich um ein objektives Verfahren mit strafrechtlichen Einschlägen, da es die Verwirkung grundrechtlicher Ansprüche zur Folge hat.

5. Rechtsfolgen der Grundrechtsverwirkung

5.1. Umfang der Verwirkung

Die Verwirkung nach Art. 18 GG bezieht sich ausdrücklich auf das „Grundrecht“ und kann sich auf einzelne Grundrechte oder auf alle in Art. 18 GG genannten Grundrechte beziehen. Die Verwirkung kann in ihrem Umfang beschränkt werden. Sie kann auf bestimmte Verhaltensweisen oder Bereiche eingegrenzt sein und ist nicht zwingend umfassend. Die Entscheidung hierüber trifft das Bundesverfassungsgericht, welches die Verwirkung und ihren Umfang im Urteil genau festlegt.

5.2. Dauer der Verwirkung

Auch die Dauer der Verwirkung kann variieren. Das Bundesverfassungsgericht kann die Verwirkung auf bestimmte Zeiträume beschränken oder sie dauerhaft aussprechen. Eine Wiederherstellung der verwirkten Grundrechte kann unter Umständen möglich sein, wenn die Voraussetzungen der Verwirkung nicht mehr vorliegen. In der Praxis sind solche Fälle jedoch äußerst selten.

5.3. Folgen für die Grundrechtsträger

Ein Verlust von Grundrechten hat gravierende Folgen für den Grundrechtsträger. Er verliert die Möglichkeit, die verwirkten Grundrechte gegenüber dem Staat geltend zu machen, was weitreichende Auswirkungen auf seine rechtliche Position und Handlungsfreiheit hat. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass ein Grundrechtsträger, der sein Recht auf freie Meinungsäußerung verwirkt hat, dieses nicht mehr als Abwehrrecht gegen staatliche Maßnahmen nutzen kann.

6. Verfassungsrechtliche Kontrolle und Rechtsschutz

Gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verwirkung von Grundrechten gibt es keine Rechtsmittel. Es handelt sich um eine abschließende Entscheidung im Sinne des Verfassungsrechts. Betroffene können jedoch eine Individualbeschwerde bei internationalen Menschenrechtsinstitutionen, wie etwa dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), erheben, wenn sie der Ansicht sind, dass die Verwirkung ihrer Grundrechte im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsverträgen steht.

7. Kritik und verfassungsrechtliche Diskussion

Art. 18 GG wird in der verfassungsrechtlichen Diskussion sowohl als notwendiges Schutzinstrument einer wehrhaften Demokratie als auch als problematisch hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit angesehen. Kritiker bemängeln, dass die Verwirkung von Grundrechten ein scharfer Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen darstellt und somit nur unter strengsten Voraussetzungen gerechtfertigt sein sollte. Andererseits betonen Befürworter, dass der Artikel die demokratische Grundordnung gegen gezielte Angriffe schützt und damit als ultimativer Abwehrmechanismus dient.