Art. 28 GG
BVerfG, 18.07.1967 - 2 BvF 3/62; 2 BvF 4/62; 2 BvF 5/62; 2 BvF 6/62; 2 BvF 7/62; 2 BvF 8/62; 2 BvR 139/62; 2 BvR 140/62; 2 BvR 334/62; 2 BvR 335/62
1. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Es besagt jedoch nicht, daß der Gesetzgeber für die Verwirklichung dieses Zieles nur behördliche Maßnahmen vorsehen darf; es steht ihm frei, dafür auch die Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorzusehen.
2. Der Bund kann nach Art. 84 Abs. 1 GG im Rahmen seiner materiellen Gesetzgebungszuständigkeit die Einrichtung und das Verfahren kommunaler Behörden regeln, sofern dies für die Gewährleistung eines wirksamen Gesetzesvollzugs notwendig ist.
3. Eine vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassene Vorschrift, die zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt, muß den Erfordernissen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechen, wenn das materielle Recht, zu dessen Durchführung die zu erlassenden Verordnungen dienen sollen, nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wesentlich geändert worden ist.
4. Die Wahrnehmung von Förderungsaufgaben durch den Bund fällt unter Art. 30, 83 GG. Sie ist, sofern dem Bund dafür vom Grundgesetz nicht ausdrücklich eine Verwaltungszuständigkeit eingeräumt ist, nur bei Aufgaben eindeutig überregionalen Charakters zulässig.
5. Die zwangsweise Anstalts- oder Heimunterbringung eines Erwachsenen, die weder dem Schutz der Allgemeinheit noch dem Schutz des Betroffenen selbst, sondern ausschließlich seiner "Besserung" dient, ist verfassungswidrig.
BVerfG, 26.11.1963 - 2 BvL 12/62
1. Der Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das BVerfG steht nicht entgegen, daß das vorlegende Gericht zuvor die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts darüber eingeholt hat, ob eine landesgesetzliche Norm mit einer Vorschrift der Landesverfassung vereinbar ist, die einer Bestimmung des Grundgesetzes entspricht.
2. Gesetzliche Regelungen, die die Personalhoheit der Gemeinden dadurch beeinträchtigen, daß sie die Gemeinden zur Übernahme von Bediensteten verpflichten, lassen den Kernbereich der gemeindlichen Selbstverwaltung unangetastet und sind mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar, wenn die Übernahmepflicht sich beschränkt auf Bedienstete, die Aufgaben wahrgenommen haben, die auf die Gemeinden übergegangen sind.
BVerfG, 30.05.1961 - 2 BvR 366/60
Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG schreibt zwingend vor, daß jeder Wahlberechtigte seine Stimme bei der Wahl soll abgeben können. Diesem Gebot ist nicht Genüge getan, wenn das Wahlergebnis durch die Aufstellung und Duldung entsprechender Wahlvorschläge vorweggenommen werden kann (sogenannte Friedenswahlen). Die Möglichkeit, die Wahlhandlung selbst, durch die Einreichung weiterer Wahlvorschläge erzwingen zu können, ist kein Ersatz für die verfassungsrechtlich garantierte Ausübung des Stimmrechts.
BVerfG, 02.11.1960 - 2 BvR 504/60
Die institutionelle Garantie der Selbstverwaltung des Art. 28 Abs. 2 GG fordert, daß in dem Prozeß der Willensbildung im überschaubaren kommunalen Bereich allen Gruppen gleiche Chancen offengehalten werden. Diesem Gebot ist nur Genüge getan, wenn die Bürger Reservelisten auch für nicht parteigebundene Kandidaten aufstellen können.
BVerfG, 12.07.1960 - 2 BvR 373/60; 2 BvR 442/60
1. Die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl beziehen sich auch auf das Wahlvorschlagsrecht.
2. Aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung folgt, daß in einem Kommunalwahlgesetz auch ortsgebundenen, lediglich kommunale Interessen verfolgenden Wählergruppen (Rathausparteien oder Wählervereinigungen) das Wahlvorschlagsrecht und deren Kandidaten eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet sein muß.
BVerfG, 27.04.1959 - 2 BvF 2/58
1. Die Nichtigkeit landesrechtlicher Vorschriften wegen Verletzung der Prinzipien des Art. 28 Abs. 1 und 2 GG kann im Verfahren des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auch von einer Landesregierung geltend gemacht werden.
2. a) Die verfassungsmäßige Ordnung im demokratischen Rechtsstaat (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) setzt eine funktionsfähige und verantwortliche Regierung voraus.
b) Zu den Regierungsaufgaben, die wegen ihrer politischen Tragweite nicht generell der Regierungsverantwortung entzogen und auf von Regierung und Parlament unabhängige Stellen übertragen werden dürfen, gehört die Entscheidung über die personellen Angelegenheiten der Beamten.
3. Es entspricht hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG), daß über Personalangelegenheiten eines Beamten in der Regel allein die ihm vorgesetzten Dienstbehörden entscheiden.
Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft.
BVerfG, 30.07.1958 - 2 BvG 1/58
1. Der dem Bundesverfassungsrecht angehörende Satz von der Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten kann nicht verwaltungsmäßig als eigene Angelegenheit der Länder im Sinne des Art. 84 Abs. 1 GG ausgeführt, er kann nur "beachtet" werden. Nach dem geltenden Verfassungsrecht ist er von Bund und Ländern bei jeder ihrer Maßnahmen, sei es beim Erlaß von Gesetzen, sei es beim Erlaß von Regierungs- und Verwaltungsakten zu beachten. Gegen diesen Grundsatz kann sowohl durch ein Tun als auch durch ein Unterlassen verstoßen werden.
Die Bundesregierung kann gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG unmittelbar das Bundesverfassungsgericht anrufen, um eine Entscheidung darüber zu erreichen, ob ein Land außerhalb der Ausführung von Bundesgesetzen sich dem Grundgesetz gemäß verhalten hat.
2. Die wahlberechtigten Bürger der Gemeinde, die sich an der amtlich angeordneten Volksbefragung beteiligen, nehmen teil an der Willensbildung der Gebietskörperschaft Gemeinde; sie betätigen sich dabei im status activus; ihre Stimmabgabe gehört nicht in den Bereich des Gesellschaftlichen.
3. Die Gemeinde ist als hoheitlich handelnde Gebietskörperschaft, soweit ihr nicht Auftragsangelegenheiten vom Staat zugewiesen worden sind, von Rechts wegen darauf beschränkt, sich mit Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises zu befassen. Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises sind nur solche Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf die örtliche Gemeinschaft einen spezifischen Bezug haben und von dieser örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich und selbständig bewältigt werden können. Die Gemeinde überschreitet die ihr gesetzten rechtlichen Schranken, wenn sie zu allgemeinen, überörtlichen, vielleicht hochpolitischen Fragen Resolutionen faßt oder für oder gegen eine Politik Stellung nimmt, die sie nicht als einzelne Gemeinde besonders trifft, sondern der Allgemeinheit- ihr nur so wie allen Gemeinden - eine Last aufbürdet oder sie allgemeinen Gefahren aussetzt.
4. Hoheitliche Maßnahmen einer Gemeinde reichen, auch wenn sie unter Mißachtung der der Gemeinde gezogenen rechtlichen Grenzen beschlossen und durchgeführt werden, im allgemeinen nicht in den Raum des bundesstaatlichen Verfassungslebens. Dagegen ist die amtliche örtliche Volksbefragung als bewußt gehandhabtes Mittel, den Gemeindewillen gegen den verfassungsmäßig gebildeten Bundesstaatswillen einzusetzen und eine Änderung bestimmter politischer Entscheidungen auf dem Gebiete des Verteidigungswesens zu erzwingen, ein Tatbestand des Bundesverfassungsrechts.
5. Was nach Landesrecht im Verhältnis zur Gemeinde eine im Ermessen der Landesregierung liegenden Befugnis ist, kann nach Bundesverfassungsrecht im Verhältnis zum Bund Pflicht des Landes werden.
6. Im Bundesstaat haben Bund und Länder die gemeinsame Pflicht zur Wahrung und Herstellung der grundgesetzlichen Ordnung in allen Teilen und Ebenen des Gesamtstaates. Soweit der Bund dafür nicht unmittelbar Sorge tragen kann, sondern auf die Mitwirkung des Landes angewiesen ist, ist das Land zu dieser Mitwirkung verpflichtet.
7. Der für Bund und Länder gleicherweise geltende Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens hat die Funktion, die aufeinander angewiesenen "Teile" des Bundesstaats, Bund und Länder, stärker unter der gemeinsamen Verfassungsrechtsordnung aneinander zu binden, aber nicht die Aufgabe, das bundesstaatliche Gefüge zu lockern. Deshalb kann sich kein Teil seiner Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten mit der Behauptung oder mit dem Nachweis entziehen, daß auch der andere Teil seiner Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nicht nachgekommen sei.
8. Die Feststellung der Verletzung der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten setzt nicht den Nachweis einer "Treulosigkeit" oder der Böswilligkeit voraus. Sie impliziert überhaupt keinen "Vorwurf".
BVerfG, 09.07.1957 - 2 BvL 30/56
§ 41 Abs. 2 des schleswig-holsteinischen Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes vom 29. Januar 1955, nach dem die Parteien oder Parteiengruppen für den Fall, daß ein gewählter Vertreter die Wahl ablehnt oder durch Tod oder Verlust seines Sitzes ausscheidet, die Reihenfolge des Nachrückens der Ersatzmänner aus der von ihnen eingereichten Gemeinde- oder Kreisliste nach der Stimmabgabe der Wähler ändern können, ist mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vereinbar.
BVerfG, 07.05.1957 - 2 BvR 2/56
1. Wird mit der Verfassungsbeschwerde die Verletzung einer Grundgesetzbestimmung gerügt, die einen für den herkömmlichen Begriff des Wahlrechts typischen Inhalt hat, so handelt es sich um eine Verfassungsbeschwerde aus dem Bereich des Wahlrechts nach § 14 Abs. 1 BVerfGG. Wird die Verletzung anderer Normen gerügt, kann eine Verfassungsbeschwerde aus dem Bereich des Wahlrechts dann vorliegen, wenn der angefochtene Hoheitsakt typische Wahlrechtsfragen betrifft.
2. Eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Kommunalwahlgesetz mit der Behauptung, das Gesetz verletze die Art. 38 und 28 GG, ist nicht zulässig.