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Art. 12 GG - Berufsfreiheit (Kommentar)

(1) ¹Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. ²Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.

(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.

(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.

1. Einleitung

Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet die Freiheit der Ausübung und die freie Wahl des Berufs. Die Berufsfreiheit ist ein einheitliches Grundrecht,1 das den Einzelnen und die Gemeinschaft schützt, da sie für die wirtschaftliche Betätigung zentral ist. Die freie Wahl des Berufs ermöglicht es, einen Beruf zu ergreifen, der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Sie ist daher ein wichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft.

Beruf ist jede auf Dauer angelegte, erlaubte Tätigkeit, die auf die Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage zielt.2 Die Begriffsdefinition untergliedert sich also in drei weitere Untermerkmale:

  • Auf Dauer angelegt ist jede Tätigkeit, die nach der Absicht des Grundrechtsträgers für eine gewisse Zeit ausgeübt werden soll. Eine ununterbrochene Ausübung ist aber nicht erforderlich.
  • Die Tätigkeit muss erlaubt sein, das heißt jedenfalls, dass Tätigkeiten, die in bedeutende Rechtsgüter anderer eingreifen, nicht geschützt werden.
  • Zur Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dient jede Tätigkeit, die auf die Erzielung nicht unerheblicher Einkünfte gerichtet ist. Bloße Hobbys gehören somit nicht dazu.

Der Wehr- oder Zivildienst ist nicht an Art. 12 GG zu messen,3 sondern wird speziell in Art. 12a GG geregelt.

Im Hinblick auf die Eigentumsfreiheit wird die Berufsfreiheit in Art. 12 GG dergestalt abgegrenzt, dass hiervon der Erwerb und von Art. 14 GG das Erworbene geschützt wird.4

2. Inhalt und Auslegung

2.1. Absatz 1

Absatz 1 des Art. 12 GG bestimmt, dass alle Deutschen das Recht haben, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Das bedeutet, das Grundrecht schützt die freie Wahl des Berufs und die Freiheit der Ausübung des Berufs.

2.1.1. Freie Wahl des Berufs

Die freie Wahl des Berufs bezieht sich auf das "ob" der Tätigkeit und umfasst zwei Rechte:

  • Das Recht auf Wahl des Arbeitsplatzes, also den räumlichen Ort, an dem eine berufliche Tätigkeit ausgeübt wird.
    • Der Arbeitsplatz ist die Stätte, an dem eine berufliche Tätigkeit konkret ausgeübt wird.
    • Freie Wahl des Arbeitsplatzes bedeutet Freiheit zur Aufnahme, Beibeahltung, Aufgabe oder Wechsel des Platzes in der gesamten BRD.
    • Bei den freien Berufen fällt die freie Wahl des Arbeitsplatzes mit der Niederlassungsfreiheit zusammen.5
  • Die Wahl der Ausbildungsstätte betrifft den Besuch von Einrichtungen, die erst der Ausbildung zu einem bestimmten Beruf dienen. Eine Bildungseinrichtung ist aber nur dann als Ausbildungsstätte zu qualifizieren, wenn sie eine berufsbildende Qualifikation vermitteln soll.6
  • Nicht geschützt sind nach herrschender Meinung daher die allgemeinbildenden Schulen (Grund- und Hauptschule) und Stätten der kirchlichen, sportlichen oder kulturellen Bildung.
  • Geschützte Ausbildungsstätten sind hingegen Hochschulen, staatliche Vorbereitungsdienste (Referendariat für Lehrer und Juristen) sowie weiterführende Schulen (z. B. Gymnasium).7

Das Recht auf Berufswahl schützt das Recht, einen Beruf zu ergreifen, der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Es umfasst das Recht, sich für einen bestimmten Beruf zu entscheiden und eine entsprechende Ausbildung zu absolvieren.

2.1.2. Recht auf Berufsausübung

Das Recht auf Berufsausübung schützt das Recht, einen Beruf auszuüben, den man gewählt hat. Der Bezugspunkt ist also das "wie" der Tätigkeit. Es umfasst das Recht, den Beruf frei auszuüben und die damit verbundenen Rechte und Pflichten zu genießen. Die Berufswahl und Berufsausübung lassen sich jedoch nicht völlig voneinander trennen.8

2.2. Absatz 2

Absatz 2 des Art. 12 GG enthält einen Schrankenvorbehalt für Beschränkungen der freien Wahl des Berufs. Danach können diese Rechte durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Art. 12 Abs. 2 GG verbietet den Arbeitszwang, also die persönliche Verpflichtung zu einer bestimmten Tätigkeit. Art. 12 Abs. 3 GG verbietet die Zwangsarbeit, also den Zwang, seine gesamte Arbeitskraft für einen bestimmten Zweck einzusetzen. Beide Vorschriften bilden ein einheitliches Grundrecht.9

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fasst den Begriff des Arbeitszwangs eng und nimmt insbesondere Tätigkeiten von zumutbarem Umfang und Tätigkeiten, die nicht gewerblich ausgeübt werden können, vom Schutzbereich des Art. 12 Abs. 2 GG aus.10 Ebenfalls nicht von Art. 12 Abs. 2 GG sind Tätigkeiten, die nur eine Nebenpflicht zur ausgeübten Tätigkeit darstellen.11

Zwangsarbeit ist grundsätzlich verboten, weil sie nur bei gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehung (vgl. Art. 104 GG) zulässig ist. Dabei setzt Art. 12 Abs. 3 GG gerade den Vollzug dieser Form der Freiheitsbeschränkung voraus. Außerdem muss die Zwangsarbeit als Maßnahme im herkömmlichen Rahmen unter der öffentlich-rechtlichen Verantwortung der Vollzugsbehörden erbracht werden und deren Aufsicht unterliegen.12 Außerdem ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.

Auf internationaler Ebene wird Art. 12 Abs. 2 GG durch Art. 4 EMRK ergänzt.

3. Einschränkungen

Die Schranken der freien Wahl des Berufs sind eng auszulegen. Sie müssen sich aus Gründen des öffentlichen Interesses rechtfertigen lassen. Die Rechtsprechung unterteilt die möglichen Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung und Berufswahl grundsätzlich in drei Kategorien (Dreistufentheorie). Zulässige Beschränkungen sind hiernach:

  • Berufsausübungsregelungen
  • Subjektive Zulassungsbeschränkungen
  • Objektive Zulassungsbeschränkungen.

Die verfassungsrechtlichen Rechtfertigungen sind unterschiedlich, je nachdem, auf welcher Ebene der Eingriff in das Grundrecht vorgenommen wird.

Daneben sind jeodch auch andersartige Einschränkungen des Grundrechts denkbar. Beispielsweise wird auch in die Berufsfreiheit eingegriffen, wenn jemand zur Aufnahme oder Aufgabe eines bestimmten Arbeitsplatzes gezwungen oder an der Besetzung eines bestimmten Arbeitsplatzes gehindert wird.13

3.1. Berufsausübungsregelungen

Hierunter werden Regelungen verstanden, die nur das "wie" der in Rede stehenden Tätigkeit betreffen. Im Wirtschaftsleben gibt es sehr viele Regelungen. Beispielsweise gehören hierher Regelungen zur Ladenöffnung14 oder zum Nachtbackverbot von Bäckereien15.

3.2. Subjektive Zulassungsbeschränkungen

Hierunter werden Regelungen verstanden, die für den Zugang zu einem Beruf Voraussetzungen aufstellen. Hierunter fallen z. B. die bisherige Ausbildung, das Alter und Gesundheitsvoraussetzungen eines Bewerbers. Das Wirtschaftsverwaltungsrecht sieht für viele verschiedene Tätigkeiten eine Zulassungsregel vor (vgl. z. B. § 4 GastG).

Die Abgrenzung zwischen Berufsausübungsregel und subjektiver Zulassungsbeschränkung nimmt die Rechtsprechung nach der Frage vor, ob für eine Tätigkeit ein bestimmtes traditionelles Berufsbild existiert. Falls dies nicht der Fall ist, lässt sich die Regelung als eine bloße Berufsausübungsregelung qualifizieren.16

3.3. Objektive Zulassungsbeschränkungen

Derartige Zulassungsbeschränkungen machen den Zugang zu einem bestimmten Beruf von Voraussetzungen abhängig, auf deren Erfüllung der Einzelne keinen Einfluss hat. Im Wirtschaftsverwaltungsrecht gehören hierzu vor allem Regelungen, welche die Zulassung zu einer Tätigkeit von einer Bedarfsprüfung abhängig machen, also davon, ob der Staat für die jeweilige Tätigkeit noch einen Bedarf sieht. Hierzu gehört z. B. die Regelung des § 13 Abs. 4 PBefG für das Taxigewerbe.

3.4. Die Rechtfertigung von Eingriffen in die Berufsfreiheit

Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG regelt, dass Berufsausübung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden kann. Entgegen dem Wortlaut erstreckt sich dieser Gesetzesvorbehalt jedoch auf alle in Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG genannten Aspekte.17

Um dem Gesetzesvorbehalt zu genügen, reicht ein Gesetz im materiellen Sinne aus, d. h. auch Satzungen.

Die Dreistufentheorie besagt im Wesentlichen, dass die Rechtfertigung von Eingriffen in die Berufsfreiheit von der Eingriffsintensität abhängen. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die verfassungsmäßige Rechtfertigung des Eingriffs umso höher sein muss, je höher die Eingriffsintensität ist. Das heißt, die Dreistufentheorie ist im Rahmen einer Prüfung in die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu integrieren.18 Hieraus ergibt sich die folgende Prüfungsreihenfolge:19

  • Es ist zu fragen, ob die Regelung einem legitimen, im öffentlichen Interesse liegenden Zweck dient.
  • Wird dies bejaht, ist danach zu fragen, ob die Regelung geeignet ist, den Regelungszweck zu erreichen.
  • Wird dies positiv festgestellt, ist zu fragen, ob die Regelung erforderlich ist, ob es also zur Erreichung des Zwecks ein gleich geeignetes, aber milderes Mittel gibt.
  • Hier wirkt sich die Dreistufentheorie zum ersten Mal aus. Der Staat darf sich einer bestimmten Eingriffsstufe erst bedienen, wenn eine Regelungen auf niedrigerer Stufe ausscheidet.
  • Das heißt z. B. konkret: Der Staat darf erst von einer subjektiven Zulassungsbeschränkung Gebrauch machen, wenn eine Berufsausübungsregel nicht mehr ausreicht.
  • Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinn ist die Zweck-Mittel-Relation und deren Angemessenheit zu prüfen. Auch hier wirkt sich die Dreistufentheorie aus.
  • Die Rechtsprechung nimmt zur Feststellung der Angemessenheit eine Abwägung zwischen der Berufsfreiheit und dem mit dem staatlichen Eingriff verfolgten Zweck vor. Je nach Eingriffsstufe gibt es einen anderen bzw. höheren Rechtfertigungsbedarf.
  • Berufsausübungsregelungen sind grundsätzlich durch jeden vernünftigen Zweck gedeckt.
  • Subjektive Zulassungsbeschränkungen rechtfertigen sich nur durch die Notwendigkeit, ein wichtiges Gemeinschaftsgut zu schützen.
  • Objektive Zulassungsbeschränkungen rechtfertigen sich nur durch die Verpflichtung des Staats, dringende Gefahren von überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern abzuwenden.

4. Rechtsfolgen

4.1. Allgemeine Rechtsfolgen

Art. 12 Abs. 1 GG hat weitreichende Rechtsfolgen. Er gewährleistet die freie Wahl des Berufs und die freie Berufsausübung. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich also auf den Beruf in all seinen Aspekten. Dazu gehört beispielsweise:

  • Die wirtschaftliche Verwertung der beruflich erbrachten Leistung,20
  • Festsetzung des Entgelts für die berufliche Leistung und dessen Verhandlung mit Dritten.21

Umgekehrt folgt aus der Berufsfreiheit aber auch negativ, dass grundsätzlich niemand dazu gezwungen ist, beruflich tätig zu werden,22 solange die Person z. B. von Erspartem leben kann.

4.2. Der öffentliche Dienst

Die Berufe des öffentlichen Dienstes werden auch von Art. 12 Abs. 1 GG erfasst, jedoch ermöglicht es Art. 33 GG in weitem Umfang Sonderregelungen zu treffen.23 So werden Nebentätigkeiten von Beamten nach bisheriger (nicht unumstrittener) verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung nicht von Art. 12 Abs. 1 GG erfasst, sondern nur von Art. 2 Abs. 1 GG.24

Auch Art. 48 GG enthält verfassungsimmanente Beschränkungen der Berufsfreiheit zu Gunsten von Abgeordneten.

5. Weitere Ausprägungen und Kritik

5.1. Weitere Ausprägungen

Die Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG wird nicht nur als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe betrachtet, sondern dem Grundrecht kommt auch eine Teilhabefunktion zu.25 Hiernach folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG unter weiteren Voraussetzungen ein grundsätzliches Recht auf Teilhabe an einer staatlichen Ausbildung.26

Weitere aus Art. 12 Abs. 1 GG resultierende Leistungsrechte, insbesondere ein Recht auf Arbeit, werden jedoch von der Rechtsprechung abgelehnt, da dies zu massiven Eingriffen des Staates in die Wirtschaft und Privatautonomie führten.27

5.2. Kritik

Art. 12 Abs. 1 GG wird im Hinblick auf die Begriffsdefinition des Berufs kritisch gesehen.28 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangte jedenfalls in dem Apotheken-Urteil, dass der Beruf auch wirtschaftlich sinnvoll sein und dadurch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringen soll. Ob dieses zusätzliche Kriterium wirklich erforderlich ist, ist jedenfalls sehr fragwürdig, da damit der Grundrechtsschutz schleichend ausgehöhlt werden könnte. Die Argumentation könnte dazu missbraucht werden, aus tendentiell eher unerwünschten oder "überflüssigen" Berufen auch unerlaubte Berufe zu machen.29

Weiterer Kritikpunkt besteht im Hinblick auf die Erlaubtheit des Berufs. Die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahm dies jedenfalls an.30 In der neueren Rechtsprechung wurde das Merkmal der Erlaubtheit ablehnend behandelt.31 "Ob die Tätigkeit im Ergebnis verboten bleibt oder es sich um einen nicht gerechtfertigten Eingriff hin den Schutzgbereich handelt, ist auf der Stufe der Grundrechtsschranken zu klären.".32

6. Europarechtliche Perspektiven

Da Grundrechtsträger nach Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG jeder Deutsche i. S. d. Art. 116 GG ist, kann darüber diskutiert werden, ob ausländische Staatsangehörige Träger des Grundrechts sind. Zwar gilt dies aufgrund des Wortlauts nicht, jedoch erkennt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes.33 Unionsbürger genießen jedenfalls Freizügigkeit im Gebiet der Europäischen Union, nach Maßgabe der Art. 45 ff. AEUV Niederlassungsfreiheit und nach Maßgabe der Art. 56 ff. AEUV Dienstleistungsfreiheit. Wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG), muss sich für Unionsbürger daraus eine Rechtsstellung ergeben, die derjenigen deutscher Staatsangehöriger jedenfalls im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG angenähert ist.34 Die Grundfreiheiten haben zwar in dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eine andere Zielsetzung (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV) als die Grundrechte, führte dies früher dazu, dass nach früherer verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung ausländische Staatsangehörige jedoch direkt über Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wurden.35

Außerdem wird Art. 12 Abs. 1 GG auf europäischer Ebene ergänzt durch Art. 15 GRCh und Art. 16 GRCh.

Die Europäische Menschenrechtskonvention enthält kein mit Art. 12 Abs. 1 GG vergleichbares Grundrecht, wenngleich Art. 12 Abs. 2 GG durch Art. 4 Abs. 2 EMRK, Art. 5 Abs. 2 GRCh und Art. 32 Abs. 1 S. 1 GRCh ergänzt wird. Unter bestimmten weiteren Voraussetzungen kann auch das Ergreifen eines Berufs als Aspekt des durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Rechts auf Privatsphäre erkannt werden.36

7. Perspektive des öffentlichen Wirtschaftsrechts

Die Perspektive des öffentlichen Wirtschaftsrechts auf die Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG betont die Teilhabefunktion des Grundrechts stärker. So ergibt sich aus dem umfassenden Schutz der Berufsfreiheit, dass diese in eine Vielzahl weiterer Einzelfreiheiten ausdifferenziert werden kann, so z. B.37:

  • Freiheit unternehmerischer Betätigung38,
  • Gewerbefreiheit (§ 1 GewO),
  • Wettbewerbsfreiheit39,
  • Recht auf freie Vertrags- und Preisgestaltung in der beruflichen Sphäre, auch mit eigenen Arbeitnehmern40,
  • Werbefreiheit für berufliche Zwecke41,
  • Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen42.

Art. 12 Abs. 1 GG erfasst dabei grundsätzlich nicht den Schutz vor Konkurrenz.43 Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen, da der Staat selbst durch dessen Handlen wettbewerbsbeeinflussend agieren kann. Denkbar sind beispielsweise:

  • der Marktzugang ist staatlich reguliert, hat also keinen freien Zugang,
  • mehrere miteinander konkurrierende Unternehmen wollen an einem bestimmten Markt teilnehmen, dieser gibt jedoch nur (z. B. wegen der Gesetzeslage oder anderer Umstände) eine bestimmte Kapazität her44,
  • es gibt in Bezug auf den Markt staatliche Planungen und Subventionierungen45.

8. Perspektive des Arbeitsrechts

Die Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG hat für das moderne Arbeitsrecht insbesondere im Wege der (mittelbaren) Drittwirkung große Bedeutung.46 Das heißt, zwar gelten die Grundrechte im Zivilrecht nicht unmittelbar, beeinflussen jedoch das bürgerliche Recht und damit auch das Arbeitsrecht dergestalt, dass keine zivilrechtliche Vorschrift im Widerspruch mit dem in den Grundrechten verankerten Wertesystem stehen darf. Generalklauseln im Zivilrecht, wie z. B. §§ 242, 307 Abs. 1, Abs. 2, 826 BGB, setzen eine wertende Beurteilung des Sachverhalts voraus und sind daher "Einbruchstellen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht.47

8.1. Eingriffe in die Berufsfreiheit aus arbeitsrechtlicher Sicht

Aus Sicht des Arbeitsrechts sind nicht nur Vorgaben für die Berufsausübung, also z. B. gesetzlich vorgeschriebene Ausbildungs- und Qualifikationsvoraussetzungen, usw., als Eingriffe auf der Ebene von Berufsausübungsregelung, subjektiven oder objektiven Berufszulassungsbeschränkungen zu sehen,48 sondern vielmehr – und auch schwerer einordenbar – Regelungen und Maßnahmen mit einer berufsregelnden Tendenz.49 Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung wurde hierzu jedoch im Laufe der Zeit eher uneinheitlich.50

Weitere Eingriffe in die Berufsfreiheit, welche eher außerhalb von Berufsausübungsregelung, subjektiven oder objektiven Berufszulassungsbeschränkungen stehen, sind beispielsweise:

  • Geschäftschädigende Äußerungen mit unrichtigen Informationen oder unsachlichen Wertungen, die darauf gerichtet sind, den Wettbewerb zu verzerren,51
  • die Pflicht zur Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen darf nicht zu weit gefasst werden,52
  • Eingriffe in die Vertragsfreiheit sind unter gewissen Umständen möglich, um sozialen oder wirtschaftlichen Ungleichgewichten zu begegnen.53

Das Arbeitsrecht selbst betrifft ein grundrechtliches Spannungsverhältnis. Eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit des Arbeitnehmers kann auch darin gesehen werden, „wenn das soziale Übergewicht des Arbeitgebers bei Abschluss des Arbeitsvertrags und der vertragsrechtlichen Regelung von Arbeitsbedingungen unkontrolliert zur Durchsetzung einseitiger Interessenwahrnehmung ausgenutzt werden kann.“.54 Ein Eingriff in die Berufsfreiheit macht sich also nicht nur beim Abschluss und der Durchführung des Arbeitsverhältnisses bemerkbar, sondern erst Recht bei dessen Beendigung, da in dem Fall sowohl die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers als auch Arbeitgebers berücksichtigt werden müssen.55

8.2. Relativierung der Stufenlehre

Wie erwähnt, ist die Stufenlehre eine besondere Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. „Bei Eingriffen in die Freiheit der Arbeitsplatzwahl können die Prüfungsmaßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht zu Eingriffen in die Berufswahl- bzw. in die Berufsausübungsfreiheit entwickelt hat […] nicht schematisch angewandt werden. Es kommt vielmehr darauf an, wie sich der Eingriff in die Arbeitsplatzwahlfreiheit konkret auswirkt.“.56 „Je intensiver die Berufsfreiheit eingeschränkt wird, desto schwerer müssen die Gründe dafür wiegen und desto strenger ist die Kontrolle des Bundsverfassungsgerichts im Rahmen des Prüfungsprogramms der Verhältnismäßigkeit.“.57

Im Laufe der Zeit hat das Bundesverfassungsgericht die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anhand der entwickelten Stufenlehre mehr und mehr relativiert, da eine klare Trennung danach, auf welcher Stufe der Eingriff stattfindet(Berufsausübungsregelung, subjektive oder objektive Berufszulassungsbeschränkung), wegen des weit auszulegenden Berufsbegriffs an sich gar nicht möglich ist.58 Das Bundesverfassungsgericht wendet den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Prüfung des Art. 12 Abs. 1 GG vielmehr nun dergestalt an, dass es Eingriffe in die freie Ausübung der Berufswahl als denkbar stärkste Eingriffe in die Berufsfreiheit erkennt.59 Andere Eingriffe in die Berufsfreiheit bewertet das Bundesverfassungsgericht eher individuell und einzelfallbezogen. So beschränkte sich das Gericht z. B. bei gesetzgeberischen Eingriffen in die Berufsfreiheit teilweise auch auf eine substantiierte und qualifizierte Vertretbarkeitskontrolle auf der Grundlage der dem Gesetzgeber zur Verfügung stehenden Daten.60

8.3. Weitere arbeitsrechtliche Problemschwerpunkte

8.3.1. Abschlussfreiheit und Kontrahierungszwänge

Die Freiheit des Arbeitgebers in dessen Entscheidung, ob und mit wem Arbeitsverträge geschlossen werden, wird von Teilen der Literatur als das Kernstück der Berufsfreiheit des Arbeitgebers gesehen.61 Die Abschlussfreiheit des Arbeitgebers wird durch viele verschiedene Vorschriften teils weiter konkretisiert, teils eingeschränkt (s. z. B. § 2 AGG, § 8 TzBfG, Kündigungsschutzgesetz). Sofern diese Regelungen greifen, bedürfen sie auf verfassungsrechtlicher Ebene für ihre Rechtfertigung „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“.62

Neben der Abschlussfreiheit können auf verfassungsrechtlicher Ebene aber auch Kontrahierungszwänge zum tragen kommen, also Fallgestaltungen, in denen der Arbeitgeber dazu gezwungen ist, ein Arbeitsverhältnis einzugehen. Aus Sicht des Grundgesetzes sind jedenfalls Art. 3 Abs. 2, Abs. 3, Art. 5 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 3 GG als denkbare Vorschriften zu erkennen. Diese benötigen jedoch, um einen entsprechenden Anspruch auf Abschluss eines Arbeitsvertrags zu begründen, wiederum einer einfachgesetzlichen Grundlage (z. B. § 18 Abs. 2 AGG).63

8.3.2. Arbeitsvertragliche Inhaltskontrolle

Zwar ist jeder gesetzgeberische Einfluss oder jeder richterliche Eingriff auf bzw. in den Vertragsinhalt als Eingriff in die Vertrags- und Berufsfreiheit zu erkennen. In der arbeitsrechtlichen Praxis ist die Vertragsfreiheit jedoch grundsätzlich ungleich verteilt.64 So werden beispielsweise die einzelnen Vertragsinhalte in der Regel nicht ausgehandelt, sondern vom Arbeitgeber vorformuliert.65 Daher fordert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht bei derartigen Situationen eine Kompensation durch das Recht.66 Diesem Ziel dienen beispielsweise im Kern die §§ 307 ff. BGB und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Ganz allgemein schützt Art. 12 GG das Interesse des Arbeitnehmers an zumutbaren Arbeitsbedingungen.67

8.3.3. Arbeitsplatzschutz

Der Arbeitsplatzschutz ist der Schwerpunkt der Berufsfreiheit des Arbeitnehmers. Hier kommen hauptsächlich das Kündigungsschutz- und Befristungsrecht zur Anwendung.68 Diese und weitere Gesetze zum Schutz des Arbeitsplatzes sind verfassungskonform auszulegen und anzuwenden.69

Aus der Verfassung können jedoch keine bestimmten Regeln abgeleitet werden, die als Untergrenze den Mindeststandart markieren. Die Abgrenzungsfrage, was noch zumutbare Arbeitsbedingungen sind, ist eine Wertungsfrage, bei der differenziert nach dem jeweils speziellen Schutzbedürfnis geprüft werden muss.70 Auf verfassungsrechtlicher Ebene kann jedenfalls zusammenfassend davon ausgegangen werden, dass ein angemessener Ausgleich der gegenläufigen Grundrechtspositionen gegeben sein muss.71

Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 

Lehrbücher:

  • Ipsen, Jörn, Staatsrecht II: Grundrechte, 15. Auflage (2012), Verlag Franz Vahlen,
  • Junker, Abbo, Grundkurs Arbeitsrecht, 17. Auflage (2018), Verlag C. H. Beck,
  • Kühl, Kristian / Reichold, Hermann / Ronellenfitsch, Michael, Einführung in die Rechtswissenschaft - Ein Studienbuch, 3. Auflage (2019), Verlag C. H. Beck,
  • Oberrath, Jörg-Dieter, Öffentliches Recht: Verfassungsrecht, Europarecht, Allg. Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht mit Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts, 7. Auflage (2021), Verlag Franz Vahlen,
  • Pieroth, Bodo / Schlink, Bernhard, Grundrechte Staatsrecht II, 24. Auflage (2008), Verlag C. F. Müller,
  • Schmidt, Reiner / Wollenschläger, Ferdinand [Hrsg.], Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Auflage (2016), Springer-Verlag,
  • Ziekow, Jan, Öffentliches Wirtschaftsrecht - Ein Studienbuch, 5. Auflage (2020), Verlag C. H. Beck.

Kommentare:

  • Müller-Glöge, Rudi / Preis, Ulrich / Schmidt, Ingrid [Hrsg.], Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Auflage (2023), Verlag C. H. Beck,
  • Wolff, Heinrich Amadeus / Hömig, Dieter [Hrsg.], Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Auflage (2022), Nomos Verlag.
Weitere Literatur: 

Aufsätze:

  • Nolte, Martin / Tams Christian, JuS 2006, Seiten 31-34, 130-133, 218-221 - Grundfälle zu Art. 12 Abs. 1 GG.
  • Welter, Karl-Heinz, ZVR-Online Dok. Nr. 5/2020, Corona-Krise. Städtische Allgemeinverfügungen zu Hotelschließungen auf dem Prüfstand, Rn. 46, 49.
Rechtsprechung: 

Bundesverfassungsgericht:

  • BVerfG, Beschluss vom 23.03.2022 - 1 BvR 1187/17,
  • BVerfG, Beschluss vom 15.11.2018 - 1 BvR 1572/17,
  • BVerfG, Beschluss vom 29.06.2016 - 1 BvR 1015/15,
  • BVerfG, Beschluss vom 14.01.2014 - 1 BvR 2998/11,
  • BVerfG, Beschluss vom 19.07.2011 - 1 BvR 1916/09,
  • BVerfG, Beschluss vom 08.06.2010 - 1 BvR 2011/07,
  • BVerfG, Beschluss vom 23.04.2009 - 1 BvR 3405/08,
  • BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 25.02.2008 -1 BvR 3255/07,
  • BVerfG, Beschluss vom 12.12.2006 - 1 BvR 2576/04,
  • BVerfG, Urteil vom 28.03.2006 - 1 BvR 1054/01,
  • BVerfG, Beschluss vom 14.03.2006 - 1 BvR 2087/03,
  • BVerfG, Urteil vom 09.06.2004 - 1 BvR 636/02,
  • BVerfG, Urteil vom 30.03.2004 - 2 BvR 1520, 1521/01,
  • BVerfG, Beschluss vom 26.06.2002 - 1 BvR 558/91,
  • BVerfG, Urteil vom 01.07.1998 - 2 BvR 441, 493/90, 618/92, 212/93 und 2 BvL 17/94,
  • BVerfG, Urteil vom 17.02.1998 - 1 BvF 1/91,
  • BVerfG, Beschluss vom 27.01.1998 - 1 BvL 15/87,
  • BVerfG Urteil vom 08.07.1997 - 1 BvR 2111/94,
  • BVerfG, Beschluss vom 22.01.1997 - 2 BvR 1915/91,
  • BVerfG, Beschluss vom 21.02.1995 - 1 BvR 1397/93,
  • BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 - 1 BvR 126/85,
  • BVerfG, Urteil vom 24.04.1991 - 1 BvR 1341/90,
  • BVerfG, Beschluss vom 12.06.1990 - 1 BvR 355/86,
  • BVerfG, Beschluss vom 10.05.1988 - 1 BvR 482/84 und 1166/85,
  • BVerfG, Beschluss vom 06.10.1987 - 1 BvR 1086, 1468, 1623/82,
  • BVerfG, Beschluss vom 13.01.1987 - 2 BvR 209/84,
  • BVerfG, Beschluss vom 21.10.1981 - 1 BvR 52/81,
  • BVerfG, Urteil vom 01.03.1979 - 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und BvL 21/78,
  • BVerfG, Beschluss vom 20.06.1978 - 1 BvL 14/77,
  • BVerfG, Urteil vom 18.07.1972 - 1 BvL 32/70 und 25/71,
  • BVerfG, Beschluss vom 12.04.1972 - 2 BvR 704/70,
  • BVerfG, Beschluss vom 08.02.1972 - 1 BvR 170/71,
  • BVerfG, Beschluss vom 23.01.1968 - 1 BvR 709/66
  • BVerfG, Beschluss vom 29.11.1967 - 1 BvR 175/66,
  • BVerfG, Beschluss vom 30.10.1961 - 1 BvR 833/59,
  • BVerfG, Beschluss vom 17.07.1961 - 1 BvL 44/55,
  • BVerfG, Beschluss vom 17.03.1959 - 1 BvR 53/56,
  • BVerfG, Urteil vom 11.06.1958 - 1 BvR 596/56,
  • BVerfG, Urteil vom 15.01.1958 - 1 BvR 400/51.

Bundesverwaltungsgericht:

  • BVerwG, Urteil vom 16.04.1970 – VIII C 183.67.

Bundesarbeitsgericht:

  • BAG, Urteil vom 31.01.2019 - 8 AZR 410/13,
  • BAG, Urteil vom 23.01.2019 - 7 AZR 733/16.

Verfassungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg:

  • VerfGH BW, Urteil vom 02.03.2023 - 1 VB 98/19 und 1 VB 156/21.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof:

  • BayVGH, Urteil vom 13.01.2014 – 7 BV 13.1397.