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Experten befürworten Ergänzung des Energiesicherungsgesetzes

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 14:30
Sachverständige haben den Gesetzentwurf von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Änderung des Energiesicherungsgesetzes und des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (20/5993) grundsätzlich positiv bewertet, in Detailfragen aber ergänzende Präzisierungen angeregt. In der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie ging es am Montag, 27. März 2023, um die rechtssichere Erweiterung des Handlungsspielraums des Bundes zur Sicherung der Energieversorgung. Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen Der Gesetzentwurf sieht vor, das Energiesicherungsgesetz um einen Paragrafen 17b zu erweitern, der die Übertragung von Vermögensgegenständen von Unternehmen der kritischen Infrastruktur, die unter Treuhandverwaltung der Bundesnetzagentur stehen, ermöglicht, was ein milderer Eingriff wäre als die Enteignung, die im Paragrafen 18 geregelt ist. Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Treuhandverwaltung der beiden russischen Rosneft-Unternehmen, die Mehrheitseigentümer der Ölraffinerie PCK Schwedt sind und die seit September 2022 unter Treuhandverwaltung stehen, am 15. März um weitere sechs Monate verlängert, nachdem das Bundesverwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit der Treuhandanordnung bestätigt hatte. Der Koalitionsentwurf begründet das Erfordernis der Neuregelung damit, dass nach dem geltenden Energiesicherungsgesetz eine Übertragung von Vermögensgegenständen nur zulässig ist, wenn dies zum Werterhalt des Unternehmens erforderlich ist. Die dem Gemeinwohl dienende Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit bliebe dabei jedoch unberücksichtigt. "Völkerrechtlichen Investitionsschutz beachten" Prof. Dr. Till Patrik Holterhus von der Leuphana-Universität Lüneburg machte insbesondere darauf aufmerksam, dass Eigentumseingriffe des Staates sich nicht nur am Maßstab des Grundgesetzes bemessen, sondern auch am völkerrechtlichen Investitionsschutz. Paragraf 17b schließe eine Enteignungsentschädigung für die staatlich angewiesene Übertragung von Vermögensgegenständen aus, wenn es sich um eine ausländische oder von fremden Staaten beherrschte inländische juristische Person handele. Holterhus sah darin einen Konflikt mit Artikel 25 des Grundgesetzes und der allgemeinen Regel des Völkerrechts, nach der Ausländern bei Enteignung Entschädigung zu gewähren ist. Ähnlich argumentierte Prof. Dr. Patrick Abel von der Universität Passau, der es für verfassungsrechtlich problematisch hielt, dass das Energiesicherungsgesetz erlaube, von einer Anhörung der betroffenen Unternehmen abzusehen, wenn dies einen unverhältnismäßigen Aufwand verursacht. Angesichts erheblicher wirtschaftlicher Folgen für die Unternehmen sei diese Ausnahmeregel unverhältnismäßig und sollte nach Ansicht Abels gestrichen werden. Dabei gehe es nicht nur um die Verfassungsmäßigkeit, sondern auch um die Vorbeugung von Rechtsanwendungsfehlern. "Gütesiegel für den Gesetzgeber" Dr. Hermann Müller von der Anwaltskanzlei CMS Hasche Sigle bezeichnete das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts als „Gütesiegel für den Gesetzgeber“. Nach dem neuen Paragrafen 17b werde die Entschädigungshöhe in der Regel durch ein Bieterverfahren ermittelt. Dies ermögliche die Übertragung eines Vermögensgegenstandes zu Marktbedingungen, ohne dass eine weitere Entschädigung zu leisten wäre. Müller bezeichnete dies als „sinnvoll und zweckmäßig“. Die Erweiterung des staatlichen Handlungsspielraums werde durch die Gesetzesänderung „nachvollziehbar umgesetzt“, sagte Dr. Maximilian Rinck, Abteilungsleiter Handel und Beschaffung beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. Allerdings sah er Risiken für Vermögensschäden bei den sogenannten Bilanzkreisverantwortlichen, das können Energieversorgungsunternehmen, Kraftwerksbetreiber oder auch Gasimporteure sein. Beschaffungskosten am Markt, denen keine Erlöse gegenüberstehen, könnten für diese Unternehmen „insolvenzbedrohliche Ausmaße“ annehmen. Rinck empfahl, den Gesetzeswortlaut um eine Reihe von Klarstellungen zu ergänzen. "Rückzug des Staates regeln" Prof. Dr. Henning Vöpel vom Centrum für Europäische Politik der Stiftung Ordnungspolitik hielt die Gesetzesänderungen ebenfalls für „begründet und sachgerecht“. Er empfahl jedoch, auch die Rückführung von übertragenen Vermögensgegenständen an den privaten Kapitalmarkt zu regeln. Andernfalls könne dies zu negativen Auswirkungen auf private Investoren führen. Die marktwirtschaftliche Ordnung sollte nicht leiden, so Vöpel. Im Vorhinein sollte seiner Ansicht nach geregelt sein, wie der Staat sich wieder zurückzieht und was mit den unter Treuhandverwaltung gestellten Unternehmen passiert. Ines Schwerdtner, Gründerin der Bewegung „Genug ist Genug“ und Chefredakteurin des gleichnamigen Jacobin-Magazins, wies auf die geringere Eingriffstiefe des Paragrafen 17b im Vergleich zur Enteignungsregelung im Paragrafen 18 hin. Es sei eine politische Entscheidung, ob Unternehmen in öffentlicher Hand verbleiben oder an Private verkauft werden. Die Energieversorgung könne nur durch Unternehmen in öffentlicher Hand oder in Gemeineigentum sichergestellt werden. Aus ihrer Sicht ist nicht ersichtlich, warum der Bund nicht weiterhin zuständig sein sollte. Das Allgemeinwohl stehe über dem privaten Interesse, auch jenseits russischer Akteure, sagte Schwerdtner. (vom/27.03.2023)

Demokratiefördergesetz: Fachleute sehen Ver­besserungsbedarf

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 14:30
Grundsätzlich positiv bewerten Fachleute den Gesetzentwurf der Bundesregierung "zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung“ (Demokratiefördergesetz - DFördG, 20/5823), sehen aber Verbesserungsbedarf, wie eine Anhörung des Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montag, 27. März 2023, zeigte. Kritik an der Zielrichtung des Entwurfs Christopher Gohl vom Weltethos-Institut in Tübingen unterstützte zwar den Entwurf, sah aber dennoch „viele Baustellen“. So bemängelte er, dass das Ehrenamt dort nicht verankert sei. Des Weiteren findet Gohl das „Leitbild der wehrhaften Demokratie“ unangemessen, weil es zu sehr auf sicherheitspolitische Aspekte abhebe. Entscheidend sei hingegen die Frage, wie die liberale Demokratie den Herausforderungen des Klimawandels begegne. „Wir müssen zwar auch den Extremismus bekämpfen“, aber Demokratieförderung dürfe sich nicht darin erschöpfen. Wichtig sei, dass das Gesetz kein „Instrument der Erziehung von Bürgerinnen und Bürgern“ bis weit in die Mitte der Gesellschaft werde. Es solle eine breite Debatte darüber geführt werden, welches „Leitbild von Demokratie“ gefördert werden solle. Der Juraprofessor Ralf Halfmann stellte die Frage, ob ein solches Gesetz überhaupt nötig sei. „Befremdlich“ sei, dass laut Entwurf der Staat eigene Maßnahmen ergreifen wolle, der Bund hier also auch an sich selbst denke. Der Staat dürfe private Bildungsträger nicht verdrängen oder deren Projekte an sich ziehen. Halfmann sieht hier einen Konflikt mit dem Subsidiaritätsprinzip. Aus dem Gesetzentwurf gehe außerdem nicht hervor, ob der „weltanschauliche Pluralismus“ wirklich gewahrt werden könne. Das Erfordernis der demokratischen Ausrichtung geförderter Träger und Projekte sei im Entwurf zu wenig konkretisiert. Regelung der Finanzierung Für Heiko Klare vom Bundesverband Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus stellt dagegen der Entwurf ein „sehr wichtiges Signal“ dar „für alle, die die Demokratie schützen wollen“ und sich zivilgesellschaftlich engagierten. Die langjährige Erfahrung aber zeige, dass die Akteure professionelle Unterstützung bräuchten. Diese erfordere allerdings auch eine ausreichende Finanzierung, die im Gesetz verankert werden müsse. Darüber hinaus hält Klare es für wichtig, Beteiligungsrechte der Projektträger im Gesetz zu regeln. Robert Kusche vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verwies darauf, dass solche Taten auf weit verbreiteten Ausgrenzungsideologien beruhten. Nach Zahlen des Bundeskriminalamtes (BKA) würden pro Jahr 248.000 Menschen „rassistisch körperlich angegriffen“. Die Opferberatung müsse daher gestärkt und die Förderung bedarfsgerecht ausgestaltet werden. Die Förderinstrumente seien aber auf dem Stand von 2014 stehengeblieben. Das müsse sich dringend ändern. Der Extremismusbegriff, den der Entwurf enthalte, sei zu vage. Kusche plädierte dafür, stattdessen von einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ zu sprechen, deren Opfer Schutz verdienten. Transparenz der Auswahlkriterien Der Psychologe und Islamismusexperte Ahmad Mansour begrüßte ebenfalls die Gesetzesinitiative. Träger und Projekte benötigten eine langfristige Finanzierung für ihre Planungssicherheit. Der Experte meldete aber auch Kritik an und verlangte Transparenz der Auswahlkriterien. Die Chance auf Förderung dürfe nicht von der „Ideologie“ eines Projektes oder dessen Nähe zu Regierenden abhängen. In dem Zusammenhang kritisierte er die bisherige Praxis der Förderung, von der in Einzelfällen auch Vertreter des politischen Islam profitiert hätten. Mansour betonte, dass fundamentalistische Radikalisierung nicht ausschließlich auf Diskriminierungserfahrungen zurückgehe, sondern ebenso Auswuchs eines eigenen ideologischen Weltbildes sein können. Timo Reinfrank von der Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratieentwicklung (BAGD) sowie der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) lobte den Entwurf, weil er auf „dauerhafte Demokratieförderung“ und „weg von der Befristung“ auf höchstens zwei Förderperioden ziele. Reinfrank forderte zudem, eine „institutionalisierte Form der Beteiligung“ von Projektträgern im Gesetz festzuschreiben. „Es gibt derzeit einen Krieg gegen die Demokratie“, sagte der Passauer Politikwissenschaftler Lars Rensmann. Er beklagte eine „verbreitete Abkehr vom demokratischen Verfassungsstaat“. Hier müsse der Staat reagieren, um freiheitsgefährdende Ideologien zu bekämpfen. Er begrüße deshalb ein Gesetz, dass neue und verstärkt Maßnahmen fördere, um die Demokratie zu verteidigen. Die Politikwissenschaftlerin Andrea Szukala, Uni Augsburg, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) begrüßte, dass die gesellschaftlich getragene Bildungsarbeit auf „stabile Grundlagen“ gestellt werde. Sie sieht jedoch auch Klärungsbedarf, insbesondere was den Begriff der Politischen Bildung angehe und die Abgrenzung von Extremismus-Prävention. Präventionsarbeit müsse sich von politischer Bildungsarbeit deutlich unterscheiden. In der vorliegenden Fassung berge der Gesetzentwurf die Gefahr, die Politische Bildung zu schwächen. Regelungskompetenz Bund vs. Länder Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinde in Deutschland e.V. kritisierte den Entwurf scharf: „Eine jahrelang einseitige und schlechte Praxis wird hier zum Gesetz“. Toprak warnte vor der Gefahr, auch Organisationen oder Projekte zu finanzieren, die eine „Täter-Opfer-Umkehr“ betrieben. Er persönlich habe die meisten Rassismus-Erfahrungen mit „türkischen Nationalisten“ gemacht. Der Verfassungsjurist Tim Wihl äußerte Zweifel an der Regelungskompetenz des Bundes: Extremismusprävention sei Ländersache. Klaus Ritgen vom Deutschen Landkreistag bewertete den Entwurf positiv, wies aber daraufhin, dass die Vernetzung der Akteure vor Ort unabdingbar sei. Hier bestehe „Nachbesserungsbedarf“. Die Vernetzung der Träger auf lokaler Ebene müsse als Förderkriterium in das Gesetz aufgenommen werden. Gesetzentwurf der Bundesregierung Ziel des Gesetzes ist es laut Bundesregierung „die Demokratie in Deutschland als Gesellschaftsform und Grundlage des Zusammenlebens zu schützen, weiter zu gestalten und für aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu stärken“. Die Gestaltung und Förderung der Demokratie sowie die Achtung von Recht und Rechtsstaatlichkeit sei aber nicht allein staatliche Aufgabe, sondern ein gemeinsames Anliegen des Staates und einer lebendigen, demokratischen Zivilgesellschaft, heißt es in dem Gesetzentwurf. Zur Stärkung der Demokratie, zur politischen Bildung, zur Prävention jeglicher Form von Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie zur Gestaltung von gesellschaftlicher Vielfalt und Teilhabe wolle der Bund zukünftig auf Grundlage eines ausdrücklichen gesetzlichen Auftrags bundeseigene Maßnahmen durchführen sowie Maßnahmen Dritter fördern, „sofern sie von überregionaler Bedeutung sind und in erheblichem Bundesinteresse liegen“. Die gesetzliche Verankerung gewährleiste die notwendige Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen und die damit verbundene nachhaltige Absicherung der Maßnahmen im Bereich der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung. Planungssicherheit für Bund und Zivilgesellschaft Damit einher gehe ein Zuwachs an Planungssicherheit für den Bund und die Zivilgesellschaft, schreibt die Bundesregierung. Der Zuwachs an Planungssicherheit ermögliche es, mit dem Gesetz einen wirkungsvollen Beitrag zur Förderung des gesellschaftlichen Engagements im Bereich der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention, politischen Bildung sowie der Vermittlung rechtstaatlicher, demokratischer und freiheitlicher Werte und des „Empowerments“ zu leisten. Damit trage das Gesetz dazu bei, der Entstehung demokratiefeindlicher Phänomene und extremistischer Tendenzen frühzeitig entgegenzuwirken, Radikalisierungsprozesse rechtzeitig zu unterbrechen und umzukehren sowie „wichtige Beratungsleistungen“ in diesem Themenfeld weiter auszubauen. Des Weiteren werde durch eine längerfristige Förderung von Maßnahmen gewährleistet, dass zivilgesellschaftliche Akteure „bereits bewährte Strukturen“ nicht nur aufrechterhalten, sondern vor allem auch weiterentwickeln werden können, „um den sich teils wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen Rechnung tragen zu können“. (hri/hau/27.03.2023)

Experten uneins über EU-Asylsystem

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 14:00
Vorschläge der EU-Kommission waren unter den Sachverständigen umstritten, als es im Ausschuss für Inneres und Heimat am Montagnachmittag um die „Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) ging. Auf der Tagesordnung der öffentlichen Anhörung unter Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden Lars Castellucci (SPD) standen zudem ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion (20/684) und zwei Vorlagen der Fraktion Die Linke (20/681, 20/8582). Grenzschutz- und Rückführungsmaßnahmen Raphael Bossong (Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin) befand, der langfristige Trend in der EU-Migrations- und Asylpolitik zu mehr Grenzschutz- und Rückführungsmaßnahmen setze sich fort, unterstützt durch neue Koalitionen zwischen süd- und nordosteuropäischen Staaten. Zeitlich und inhaltlich klar definierte Einschränkungen von Asylverfahren seien vertretbar, wenn im Gegenzug die Einhaltung von Grundrechten in Krisenlagen tatsächlich gestärkt werde. Die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Migrationssteuerung und zur Versorgung von Schutzsuchenden sei unerlässlich. Ausnahmezustand an den EU-Außengrenzen Nach Ansicht von Felix Braunsdorf (Ärzte ohne Grenzen, Berlin) bergen die Vorschläge der EU-Kommission die Gefahr, den Ausnahmezustand an den EU-Außengrenzen und Abweichungen vom geltenden Recht zu institutionalisieren. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten stünden in den nächsten Monaten vor dieser Wahl: Entweder nähmen sie Schäden für das Leben und die Gesundheit der Menschen auf der Flucht weiterhin wissentlich in Kauf, um ihre Abschreckungs- und Externalisierungsstrategie weiter auszubauen. Oder sie leiteten eine Abkehr von dieser Politik hin zu einer humanen Migrations- und Grenzpolitik ein. Das Wissen dazu sei vorhanden. Beate Gminder (Task Force Migrationsmanagement, EU-Kommission, Brüssel) meinte, es sei unerlässlich, dass die Mitgliedsstaaten gemeinsame legale operative Lösungen fänden. Dazu zählte sie die Stärkung des Grenzschutzes an den Außengrenzen unter anderem durch mehr Personenkontrollen und bessere IT-Systeme. Wichtig sei nicht zuletzt eine Zusammenarbeit mit Drittländern, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Zugang zu Asyl in Europa Wiebke Judith (PRO ASYL, Frankfurt am Main) strich als Ziel einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems heraus, für Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Menschenwürde und Menschenrechten von schutzsuchenden Menschen sowohl an den Außengrenzen als auch in den Mitgliedsstaaten zu sorgen. Die aktuell diskutierten Vorschläge der EU-Kommission gefährden nach Judiths Ansicht den Zugang zu Asyl in Europa und verschlechterten die Situation von Schutzsuchenden weiter. Die Pushbacks an den europäischen Außengrenzen seien gut dokumentiert. Trotzdem gebe es in der EU kaum politische Bestrebungen, hier wieder zur Achtung von Recht zu kommen. Gerald Knaus (European Stability Initiative, Berlin) unterstrich, es gebe bei allen Überlegungen zur Reform des europäischen Asylsystems keine Alternative zu Kooperation mit Drittstaaten. Legale Angebote zu machen, sei der einzige Weg. Er verwies auf Staaten, die angesichts der gegenwärtigen Situation bereits die Rechtsstaatlichkeit aufgegeben hätten. Einschränkung der irregulären Asylmigration Ruud Koopmans (Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin) setzte sich für die Ersetzung von irregulärer Fluchtmigration durch reguläre Migration ein. Ohne eine wirkungsvolle Einschränkung der irregulären Asylmigration könne man sich alle Gedanken über großzügige Aufnahmekontingente und humanitäre Visa sparen. Er regte mehr und wirkungsvollere Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern von Asylbewerbern an, insbesondere solchen mit geringen Anerkennungsquoten wie die westafrikanischen Länder. Die hätten zwar daran kein Interesse. Deshalb solle mit der Verpflichtung zur Wiederaufnahme von abgelehnten Asylbewerbern die Eröffnung von legalen Kontingenten für Arbeitsmigration verbunden werden. Screening-Verfahren an den Außengrenzen Für Roman Lehner (Institut für Öffentliches Recht, Georg-August-Universität Göttingen) ist ein obligatorisches Screening-Verfahren an den Außengrenzen die eigentliche Innovation des Vorschlags der EU-Kommission. Es diene nicht nur der Identitätsfeststellung oder einer allgemeinen Sicherheitskontrolle, sondern auch als asylrechtliche Vorprüfung, die eine direkte Überführung in das allgemeine Außengrenzverfahren ermögliche. Er geht davon aus, dass es Mitgliedsstaaten gibt, die die für das Screening-Verfahren eingerichteten Transitzonen regelmäßig auch nutzen werden, um schon dort das Asylverfahren zum Abschluss zu bringen - dann nämlich, wenn ein Asylantrag von vornherein als unbegründet eingestuft werde, etwa bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat oder bei Antragstellern aus einem sicheren Herkunftsland. Zusammenlegung von Asyl- und Rückführungsverfahren Josephine Liebl (European Council on Refugees and Exiles, Brüssel) lehnte das vorgeschlagene Grenzverfahren ab und äußerte ernsthafte Bedenken hinsichtlich der beabsichtigten Zusammenlegung von Asyl- und Rückführungsverfahren. Beides werde zu einer Zunahme der Inhaftierungen, zu Schutzlücken und einem erhöhten Risiko der Zurückweisung von Personen führen. Der Vorschlag solle angesichts der Reduzierung der Standards und der Komplexität, die ihn in der Praxis undurchführbar mache, aufgegeben werden. Er basiere auf einem Modell der Eindämmung an den Grenzen mit unverhältnismäßiger Verantwortung für die Ersteinreiseländer. Grenzverfahren im Zentrum der Kritik Daniel Thym (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Universität Konstanz) meinte, die EU-Kommission setze eindeutig auf Grenzverfahren, die auf die bestehende Gesetzgebung und - nach seiner Ansicht vielfach defizitäre - Praxis der sogenannten Hotspots aufbauen, zugleich jedoch deutlich darüber hinausgingen. Die Grenzverfahren stünden im Zentrum der Kritik vor allem durch Nichtregierungsorganisationen, die davor warnten, dass der Zugang zum Asylrecht unterminiert werde und eine massenhafte Inhaftierung drohe. Sein Befund: Auf Ebene des Gesetzesrechts rechtfertigten die Vorschläge der EU-Kommission dieses Fazit nicht. Er verwies auf Grenzverfahren, die etwa in Deutschland an internationalen Flughäfen durchgeführt werden. Kein „Anziehungseffekt“ durch Seenotrettung Zeynep Yanaşmayan (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, Berlin) betonte, Solidaritätsnetzwerke und Seenotrettung sollten dringend entkriminalisiert werden. Es bestehe kein „Anziehungseffekt“ durch Seenotrettung im Mittelmeer. Die Lage an den Außengrenzen der EU bleibe prekär und erfülle häufig nicht die rechtlichen Mindeststandards für die Aufnahmebedingungen und das Asylrecht. Die geplante Screening-Verordnung könne die Belastung an den Außengrenzen erhöhen und den Zugang zum Asylverfahren erschweren. Der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine habe gezeigt, welche Aufnahmemöglichkeiten bestünden, wenn der politische Wille vorhanden sei. Antrag der CDU/CSU Die CDU/CSU-Fraktion dringt darauf, die europäische Asyl- und Migrationspolitik voranzubringen, „aber nicht einseitig zulasten Deutschlands“. Dies geht aus ihrem Antrag hervor. Danach soll die Bundesregierung ihre humanitären Verpflichtungen „im Zusammenwirken mit Steuerung, Ordnung und Begrenzung der irregulären Zuwanderung“ umsetzen und deutsche Alleingänge, die in der zusätzlichen Aufnahme von Asylsuchenden münden, unterlassen, „da sie den Migrationsdruck auf die EU und Deutschland weiter erhöhen“. Zugleich wird die Bundesregierung in der Vorlage aufgefordert, die Zustimmung anderer EU-Mitgliedstaaten zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) „nicht einseitig dadurch zu erkaufen, dass Deutschland zukünftig noch größere Teile der Migrationslasten übernimmt“. Vielmehr soll sie nach dem Willen der Fraktion „die von der Bundesregierung im Februar 2020 gemachten GEAS-Vorschläge“ als Richtschnur verwenden und bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene die „wichtigsten Punkte“ durchsetzen. Dazu zählt dem Antrag zufolge unter anderem, die „Registrierung inklusive Sicherheitsüberprüfung und Identitätsfeststellung sowie die inhaltliche Vor-Asylprüfung von allen Asylbewerbern“ an der EU-Außengrenze verpflichtend einzurichten. Anträge der Linken Die Fraktion Die Linke will „Menschen- und Flüchtlingsrechte in der Europäischen Union und an der polnisch-belarussischen Grenze verteidigen“. In ihrem ersten Antrag fordert die Fraktion die Bundesregierung auf, sich für eine sofortige Evakuierung und Übernahme der in der polnisch-belarussischen Grenzregion verbliebenen Flüchtlinge durch Mitgliedstaaten der EU einzusetzen „und dabei mit gutem Beispiel voranzugehen“. Auch soll die Bundesregierung der Vorlage zufolge auf die polnische Regierung einwirken, „damit die Sperrzone an der polnisch-belarussischen Grenze aufgehoben wird, um humanitäre und medizinische Unterstützung, rechtsanwaltliche Hilfe und eine freie Berichterstattung zu ermöglichen“. Ferner wird die Bundesregierung in dem Antrag aufgefordert, keine Überstellungen im Rahmen des Dublin-Systems nach Polen vorzunehmen, „solange eine regelmäßige (faktische) Inhaftierung in geschlossenen Lagern droht und wegen der gegenwärtigen Bedingungen keine fairen Asylprüfungen in Polen garantiert sind“. Zudem soll sich die Bundesregierung nach dem Willen der Fraktion unter anderem gegenüber der EU-Kommission für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einsetzen „wegen der aktuellen systematischen Verstöße gegen EU-Asylrecht im Umgang mit Schutzsuchenden an der Grenze zwischen Belarus und der EU, wie vor allem die Zurückweisung von Schutzsuchenden, ohne ihnen ein Asylverfahren zu gewähren“. Mit ihrem zweiten Antrag wendet sich Die Linke gegen illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen und fordert von der Bundesregierung, sich innerhalb der EU und bilateral für eine Beendigung derselben einzusetzen. (fla/sto/27.03.2023)

Fahrermangel, fehlende Lkw-Parkplätze und CO2-Maut

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 14:00
Fahrermangel, fehlende Lkw-Parkplätze und steigende Mautkosten waren einige der Themen, die im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Verkehrsausschusses zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel „Güterverkehrs- und Logistikbranche aus der Krise führen“ (20/3932) am Montag, 27. März 2023, diskutiert wurden. Dabei warnte unter anderem Dirk Engelhardt, Vorstandssprecher vom Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), angesichts des sich verschärfenden Lkw-Fahrermangels vor einem Versorgungskollaps in Deutschland. Sozialdumping und Fahrernomadentum „In ein, zwei Jahren haben wir englische Verhältnisse aufgrund des demographischen Wandels“, sagte Engelhardt. Der Fahrermangel sei inzwischen auch nicht mehr durch Osteuropa zu kompensieren, weil es ihn auch dort gebe. Der BGL-Vorstandsprecher forderte, Sozialdumping und Fahrernomadentum entschieden zu bekämpfen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ein großes Problem für die Branche sei auch die Doppelbelastung durch die CO2-Maut und das Brennstoffemissionshandelsgesetz, die nicht hinnehmbar sei. Die CO2-Maut, so sagte er, werde keine Lenkungswirkung hin zu batteriebetriebenen Lkw haben, „weil die Unternehmer keine solchen Fahrzeuge anschaffen können“. Die Kostensteigerung werde schlussendlich beim Verbraucher landen. Corona, Lieferketten, Energiepreise Gegen die CO2-Maut wandte sich auch der Speditionsunternehmer Josef Dischner aus Weiding im Landkreis Cham (Bayern). Die Branche leide noch immer unter der Corona-Krise, der Unterbrechung der Lieferketten, steigender Energiepreise und der hohen Inflation. „Zum aktuellen Zeitpunkt darf es keine weiteren Kostenerhöhungen geben“, betonte er. Die Situation sei in jeder Hinsicht sehr angespannt. Auch Dischner sah keine Lenkungswirkung der CO2-Maut. Elektro-Lkw etwa seien schlichtweg nicht in der Lage, die von seinem Unternehmen durchgeführten Transporte auszuführen. E-Lkw hätten zehn bis 15 Prozent der Reichweiten eines Diesel-Lkw. „Wir brauchen also deutlich mehr Reichweiten und eine funktionierende Infrastruktur“, sagte der Speditionsunternehmer. Bußgelder im europäischen Vergleich Thomas Fiala, Polizeihauptkommissar im Polizeipräsidium Köln bei der Direktion Verkehr, sprach von einer suboptimalen Kontrolldichte des Lkw-Verkehrs. Immer öfter höre er, dass einzelne Fahrer zehn Jahre und länger nicht kontrolliert worden seien. Der fehlende flächige Kontrolldruck führe zu Wettbewerbsverzerrungen „zu Lasten deutscher Unternehmen“. Zudem seien die deutschen Bußgelder im europäischen Vergleich „geradezu lächerlich und nicht abschreckend“, befand Fiala. Verstöße gegen die Abstandsregelung bei Lkw etwa seien europaweit nicht vollstreckbar, „im Gegensatz zur Parkknolle, die von Finnland bis Zypern ahndbar ist“. Unerträglich, so der Polizeibeamte, sei die Parkplatzsituation für Lkw. Der Parkplatzausbau müsse forciert werden, verlangte Fiala. Nutzung der Schiene als Alternative Aus Sicht von Ingo Hodea vom Bundesverband Spedition und Logistik hat sich die Branche in den verschiedenen Krisen als resilient erwiesen. Ein Kollaps sei nicht in Sicht, befand er. Gleichzeitig dürfe es aber auch kein „Weiter so“ geben. Hodea machte deutlich, dass schon jetzt viele Spediteure verstärkt die Schiene nutzen würden, wenn es ausreichende Kapazitäten gäbe. Nach wie vor werde aber „in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft“ auch die Straße benötigt. „Wir brauchen den Lkw in der Fläche und zur Versorgung urbaner Zentren“, sagte er. Dort dürften ihm nicht Steine in den Weg gelegt werden - etwa in Form von Fahrverboten. Hilfstätigkeiten an der Verladerampe Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamtes für Logistik und Mobilität, hält die in Deutschland möglichen Bußgeldhöhen nicht für zu klein. 1.250 Euro würden bei einem fahrlässigen Kabotageverstoß fällig - 2.500 Euro bei Vorsatz. Auch Hoffmann ging auf den Fahrermangel und die zu verbessernden Arbeitsbedingungen ein. Insbesondere im Fernverkehr sei es misslich, wenn aufgrund fehlender Verabredungen zwischen Spediteur und ent- oder beladendem Unternehmen die Fahrer für Hilfstätigkeiten an der Verladerampe hinzugezogen würden. Vereinbarkeit von Familie und Beruf Nach Einschätzung von Ronny Keller von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist der Fahrermangel nur durch gute Arbeitsbedingungen und einen attraktiven „Arbeitsplatz Lkw“ zu beseitigen. Es brauche eine auskömmliche Bezahlung und Arbeitsbedingungen, die durch Tarifverträge verbindlich gelten. Ebenso brauche es aber auch menschenwürdige Rahmenbedingungen unterwegs auf der Straße und an den Raststätten. Keller forderte zugleich eine Tourenplanung, die einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf förderlich ist und Abwesenheitszeiten vom Wohnort durch kombinierten Verkehr sowie Begegnungsverkehr reduziert. Der Verdi-Vertreter plädierte zudem für den Ausbau von kombinierten Verkehren und eine nachhaltige Verlagerung von Transporten auf die Schiene und auf Wasserverkehrsstraßen. „Schwarz-Weiß-Diskussion“ Straße oder Schiene Peter Westenberger, Geschäftsführer beim Netzwerk Europäischer Eisenbahnen, forderte eine Abkehr von der „Schwarz-Weiß-Diskussion“ Straße oder Schiene. Er warb für die Attraktivitätssteigerung intermodaler Logistikketten. Dazu brauche es einen entschlossenen intermodal ausgerichteten Infrastrukturausbau sowie eine Anlastung der externen Kosten für die Treibhausgasemissionen über die Lkw-Maut. Somit käme man zu einer diskriminierungsfreien Erfassung ausländischer Fahrzeuge, könne einen Anreiz zur Verbesserung der Auslastung setzen und schaffe Verwendungsmöglichkeiten für intermodal angelegte Verbesserungen des Transportangebots für die verladene Wirtschaft. Antrag der Union Zur Lösung der aktuellen Krise der Güterverkehrs- und Logistikbranche soll nach dem Willen der CDU/CSU-Fraktion eine Runder Tisch unter Federführung des Bundesverkehrsministerium eingerichtet werden. Ebenso soll ein zweiter Runder Tisch zur Erarbeitung von Lösungsvorschlägen zur Bekämpfung des Berufskraftfahrermangels unter Federführung des Ministeriums initiiert werden, heißt es in ihrem Antrag. Zudem soll auf eine Erhöhung der Lkw-Maut in zwei Phasen ab Januar 2023 verzichtet und stattdessen eine umfassende und langfristig kalkulierbare Mautreform zum Ende des Jahres 2023 vorbereitet werden. Darüber hinaus setzt sich die Union für eine Beschleunigung der Instandsetzung der Verkehrsinfrastruktur und des Baus von Lkw-Parkplätzen und Autohöfen mit angemessener sanitärer Infrastruktur ein. Der Beruf „Lkw-/Berufskraftfahrer“ soll zum Engpassberuf erklärt, die Erlangung des Lkw-Führerscheins durch Reformierung des Berufskraftfahrerqualifikationsgesetzes erleichtert und in Fremdsprachen ermöglicht sowie sie Ausbildung europaweit harmonisiert werden. (hau/ste/27.03.2023)

Experten uneins über Maßnahmen für inklusiveren Arbeitsmarkt

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 14:00
Der Großteil der befragten Sachverständigen begrüßt die im Gesetzentwurf (20/5664) der Ampel-Koalition geplante Einführung einer „vierten Stufe“ bei der Ausgleichsabgabe. Das Wegfallen der Bußgeldregelung für „Null-Beschäftiger“ wiederum kritisierten einige Experten. Dies ging aus einer Anhörung zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts hervor, die am Montag, 27. März 2023, im Ausschuss für Arbeit und Soziales stattfand. Gegenstand der Anhörung waren neben dem Gesetzentwurf, Anträge der AfD-Fraktion (20/5999) und der Fraktion die Linke (20/5820). Die Maßnahmen des Gesetzentwurfs zielen darauf ab, mehr Menschen mit Behinderung auf den sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Erreicht werden soll dieses Ziel unter anderem durch die Einführung einer höheren Ausgleichsabgabe für Betriebe, die trotz gesetzlicher Vorgaben keine Menschen mit Behinderung beschäftigen („vierte Stufe“). Sogenannte Null-Beschäftiger mit mehr als 60 Angestellten müssen künftig 720 Euro monatlich pro unbesetzter Stelle zahlen. Bislang gab es drei Stufen der Ausgleichszahlung, die höchste sah einen Betrag von 360 Euro vor. Im Gegenzug soll die Bußgeldregelung abgeschafft werden. Bislang können „Null-Beschäftiger“ zunächst mit einem Bußgeld von bis zu 10.000 Euro belegt werden. Ausgleichsabgabe zur zweckgebundenen Förderung Da noch immer viele Unternehmen die Beschäftigungspflicht nicht erfüllten, sei die Einführung der vierten Stufen „absolut richtig“, sagte Dorothee Czennia vom Sozialverband VdK Deutschland e.V. Jörg Polster vom Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland e.V. kritisierte, dass Unternehmen die Ausgleichsabgabe weiterhin steuerlich absetzen könnten. Dass die Ausgleichsabgabe künftig zweckgebunden zur Förderung von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt genutzt werde, begrüßte Claudia Rustige von der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen e.V. Da der inklusive Arbeitsmarkt laut Rustige eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ ist, muss eine Finanzierung durch Haushaltsmittel gesichert sein. Konstantin Fischer (Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen) mahnte, dass „Dienste und Einrichtungen“ weiterhin dieselbe Qualität gewährleisten müssten, auch wenn die Ausgleichsabgabe als Finanzierungsmöglichkeit für die Werkstätten mit der neuen Zweckbindung wegfalle. Die Werkstätten thematisierte auch Dr. Janina Jänsch vom Bundesverband für körperlich- und mehrfachbehinderte Menschen. So müsse dringend der Übergang von Schule zu Beruf in den Fokus gesetzt werden, um dem „Automatismus, von Förderschule direkt in die Werkstatt zu gehen“, entgegenzuwirken, sagte sie. Als „Skandal“ bezeichnete der ehemaligen Richter am Bundesarbeitsgericht Prof. Franz Josef Düwell das Wegfallen der Bußgeldregelung. Der Staat habe dadurch künftig keine Möglichkeit mehr, Unternehmen bei Nicht-Beschäftigung durch eine Ordnungswidrigkeit zu belangen. Auch Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel) kritisierte das Vorhaben, das Bußgeld zu streichen. Eine „Nicht-Beschäftigung“ stelle eine Diskriminierung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention dar und müsse entsprechend als Ordnungswidrigkeit behandelt werden. Beratung für Unternehmen Zweifel an der Effektivität einer vierten Stufe äußerte Olivia Trager (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V.). „Weitere Sanktionierungen“ seien nicht der richtige Schritt, da eine Beschäftigung von Menschen mit Behinderung nicht am Willen der Unternehmen scheitere und höhere Abgaben die Wirtschaft insgesamt stärker belasten würden, sagte sie. Monika Labruier, die als Geschäftsführerin der ProjektRouter gGmbH aktiv auf einen inklusiveren Arbeitsmarkt hinarbeitet, betonte, dass Jobcoaches und eine gute Beratung für Unternehmen entscheidend seien, um mehr Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt zu holen. Dass der Gesetzentwurf ein sogenanntes Genehmigungsverfahren vorsieht, begrüßte Evelyn Räder vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Dadurch würden Anträge, sollte das Integrationsamt sich nicht binnen sechs Wochen einschalten, automatisch als genehmigt gelten. Eva-Maria Thoms (mittendrin e.V.) berichtete von ihrer Erfahrung mit dem Projekt „Ausbildung mittendrin“: Es sei hierbei kein Problem, Auszubildende mit geistiger Beeinträchtigung auf dem Arbeitsmarkt zu bringen. Vielmehr seien systematische Hürden im Weg, sagte Thoms. So seien beispielsweise Berufsschulen nicht darauf vorbereitet, mit der neuen Zielgruppe umzugehen. Gesetzentwurf der Bundesregierung Die Bundesregierung möchte den inklusiven Arbeitsmarkt stärker fördern. Für eine inklusive Gesellschaft sei es entscheidend, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und selbstbestimmt am Arbeitsleben teilhaben können, begründet die Regierung ihren Entwurf und verweist zugleich auf den hohen Fachkräftebedarf. Die Maßnahmen dieses Gesetzes zielen darauf ab, mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Arbeit zu bringen, mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Arbeit zu halten und zielgenauere Unterstützung für Menschen mit Schwerbehinderung zu ermöglichen. Erreicht werden sollen diese Ziele unter anderem durch die Erhöhung der Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber, die trotz Beschäftigungspflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen („vierte Staffel“). Für kleinere Arbeitgeber sollen wie bisher Sonderregelungen gelten. Die Mittel aus der Ausgleichsabgabe sollen sich künftig auf die Förderung der Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konzentrieren. Für Anspruchsleistungen des Integrationsamtes wird eine Genehmigungsfiktion eingeführt. Die Deckelung für den Lohnkostenzuschuss beim Budget für Arbeit soll aufgehoben werden. Der Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizinische Begutachtung soll neu ausgerichtet werden. Antrag der AfD Unternehmen, die die gesetzlichen Vorgaben erfüllen und alle sogenannten Pflichtarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung besetzt haben, sollen dafür eine jährliche Bonuszahlung erhalten. Dies fordert die AfD-Fraktion in ihrem Antrag. Die Ausgleichsabgabe, die von Betrieben zu zahlen ist, die diese Vorgaben nicht erfüllen, solle künftig ein Fünftel des durchschnittlichen Arbeitslohns für einen Vollzeitbeschäftigten in diesem Betrieb betragen. Außerdem fordern die Abgeordneten die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den ein Teil der Ausgleichsabgabe in einen Fonds für individualisierte Beratungsangebote für Unternehmen fließen könne. Antrag der Linken Die Fraktion Die Linke fordert „mehr Schritte hin zu einem inklusiven Arbeitsmarkt“. In ihrem Antrag bezieht sich die Fraktion auf den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts. Dieser enthalte zwar einige Regelungen, „die Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt erwarten lassen“. Zu wichtigen Aspekten zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes enthalte der Gesetzentwurf allerdings keine ausreichenden Regelungen. So würden beispielsweise arbeitslose Menschen mit Behinderung „völlig vergessen“. In diesem Zusammenhang schlägt die Fraktion unter anderem spezielle Fördermaßnahmen insbesondere für langzeitarbeitslose Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen vor. (des/che/scr/des/27.03.2023)

Anhörung zum Afghanistan-Engagement zwischen 2009 und 2014

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 13:00
Der mittleren Phase des internationalen Afghanistaneinsatzes, den Jahren 2009 bis 2014, hat sich die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ in ihrer öffentlichen Anhörung am Montag, 27. März 2023, angenommen. Das Sitzungsthema lautete: „Ausweitung, Eskalation und Transition 2009 bis 2014: Die Ausweitung des deutschen Engagements im Kontext von Strategiewechsel und verschärfter Sicherheitslage“. Es war die Zeit, in der das Afghanistan-Mandat um das Ziel der Aufstandsbekämpfung erweitert wurde, die Truppenzahlen und auch die finanziellen Mittel zum Staatsaufbau der internationalen Geber aufgestockt wurden, um die Verantwortung mittelfristig in die Hände der afghanischen Regierung zu legen, und zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg fiel ein deutscher Soldat im Kampf, skizzierte der Vorsitzende, Michael Müller (SPD), den historischen Kontext. Zwischen Aufbauambitionen und Abbruchgedanken Hintergründe und Schwächen der Policy Review zum amerikanischen Afghanistan-Engagement zu Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama, mit der die Aufstandsbekämpfung in den Mittelpunkt des amerikanischen Engagements rückte, schilderte Dr. Barnett Rubin vom Stimson Center in Washington, von 2009 bis 2013 Berater des Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan im US State Department. Seit dem ursprünglichen Marschbefehl Präsident Bushs 2001 mit dem Ziel der Terroristenjagd sei der Afghanistaneinsatz unter allen Administrationen und vier in dieser Zeit amtierenden Präsidenten in Washington viel diskutiert worden und umstritten gewesen, zwischen Aufbauambitionen und Abbruchgedanken, bis hin zu der Einsicht, dass man sich am besten so wenig wie möglich dort engagieren und alsbald zurückziehen sollte. Am Ende sei man gescheitert. "Regime Change"-Operationen könnten nicht erfolgreich und sollten kein Mittel der Außenpolitik sein, sagte der Politikberater und nannte als limitierende Faktoren des Afghanistan-Einsatzes, dass man die Taliban nicht daran habe hindern können, sich in das Nachbarland Pakistan als in einen sicheren Hafen zurückzuziehen, ein Land, auf das man selber als Brückenkopf für den eigenen Nachschub unbedingt angewiesen gewesen sei. Außerdem hätten die Strategen in Washington verkannt oder verdrängt, dass sich der afghanische Staat, eines der ärmsten Länder der Welt, niemals eine eigenständige, die Taliban abschreckende Armee, hätte leisten können. Die afghanischen Streitkräfte seien mit modernem Gerät nicht zurecht gekommen, dauerhaft von externer Unterstützung abhängig gewesen und hätten sich nie zu einer echten unabhängigen Kraft entwickeln können. Statt eine Rückzugsversicherung für die US-Kräfte zu sein und die Stabilität des Landes über den internationalen Einsatz hinaus zu garantieren, war die afghanische Armee noch vor dem endgültigen Abzug der Amerikaner kollabiert. Brigadegeneral: Heute besser aufgestellt Über seine Einsatzerfahrungen in Nordafghanistan zu dieser Zeit berichtete Brigadegeneral Jared Sembritzki, Abteilungsleiter Einsatz im Kommando Heer in Strausberg in Brandenburg und 2010 Kommandeur Quick Reaction Force 5, Isaf in Afghanistan. Afghanistan habe eine Generation deutscher Soldaten entscheidend geprägt. Die Bundeswehr habe als Institution einen wertvollen Lernprozess durchgemacht. Für ähnliche Einsätze sei man heute besser aufgestellt. Wichtig sei, dass die Politik bei der Mandatierung keine "Zero Risk"-Strategie suggeriere. Ab dem Frühjahr 2010 habe man aufgrund des Strategiewechsels schärfer gegen Aufständische vorgehen dürfen. Man habe damals erstmals als Bataillon außerhalb des Feldlagers über sechs Monate in einem ungesicherten, feindlichen Bereich operiert. Die Anwendung militärischer Mittel sei von da an nicht mehr als das letzte Mittel betrachtet worden, sondern man habe im Feld die Möglichkeit bekommen, sich einem Gegner entgegenzustellen, noch bevor man selber angegriffen wurde. „Clear, hold and build“ Schlüsselfragen seien damals gewesen, Sicherheit und Bewegungsfreiheit für die eigenen Kräfte in einem Raum herzustellen, den man selber nicht vollständig habe kontrollieren können. Den Ansatz des „clear, hold and build“ betrachte er nach wie vor als erfolgsversprechende Strategie, sagte der General. Dazu sei von großer Bedeutung gewesen, mit den lokalen, afghanischen Akteuren zusammenzuarbeiten. Afghanisches Militär, das sich im Aufbau befand, habe man nach und nach in die eigenen Operationen eingebunden. Auch bei den regelmäßigen gemeinsamen Lagebesprechungen habe man sich kennengelernt. So sei wertvolles Vertrauen gewachsen. Diese Rückbindung zu den Menschen vor Ort als ein Erfolgsfaktor sei leider in den späteren Jahren des Einsatzes wieder verloren gegangen. 2010 aber habe man gemeinsam mit den Afghanen in zum Teil wochenlangen, schweren Gefechten den Feind zurückdrängen und so in einem Raum eine permanente Präsenz schaffen können, der zuvor noch ein Kernland der Taliban gewesen sei. In einen sogenannten vernetzten Ansatz hätte er gerne alle einbezogen, aber damals habe es in seinem Einsatzgebiet an Vertretern anderer Bereiche gemangelt, so dass der Truppe entsprechende Aufgaben, von der Polizeiarbeit bis zum Straßenbau, zugewachsen seien, die man dann selbst wahrgenommen habe. Entwicklungspolitische Arbeit Das Verhältnis von Sicherheitslage und entwicklungspolitischer Arbeit in den Jahren 2009 bis 2013 beleuchtete Florian Broschk, Projektleiter bei der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und von 2010 bis 2015 Sicherheitsberater der staatlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Mazar-e-Sharif und Kabul. Die internationale militärische Präsenz in den großen Feldlagern habe der Entwicklungszusammenarbeit, die ihre Stützpunkte in den Städten gehabt habe, geholfen. Direkter Ansprechpartner aber seien die afghanischen Sicherheitskräfte gewesen. Zusätzlich habe man bei der GIZ ein eigenes Risk Management Office (RMO) mit mehreren Loken Teams unterhalten, das für jedes einzelne Projekt den lokalen Sicherheitskontext evaluiert habe. Es habe zu dem international viel gelobten deutschen entwicklungspolitischen Ansatz gehört, engen Kontakt zu den Afghanen zu unterhalten, und beispielsweise in lokale Ratsversammlungen hineinzugehen, und um Zustimmung und Schutz für Projekte zu werben. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sei stark in der Fläche des Landes präsent gewesen. Ganz unterschiedliche örtliche Kontexte, Strukturen, Akteure habe man sich da aneignen und verstehen müssen. Lokalen Kontext verstehen Das vorzubereiten sei Aufgabe der RMO-Teams gewesen. Dank dieser Unterstützung und zivilen Vernetzung hätten sich deutsche Entwicklungshelfer sehr zielgerichtet und sicher im Land bewegt und es sei dadurch nur selten zu Zwischenfällen gekommen. Man habe Projekte in freundschaftlicher Atmosphäre besprechen und Warnzeichen für eine Verschlechterung der Sicherheitslage frühzeitig wahrnehmen können. Die Taliban seien dann vor allem entlang traditioneller politischer Konfliktlinien und zunächst auch in eher wohlhabenden Gegenden wieder erstarkt, und nicht so sehr aufgrund von Armut. Man hätte den Wiederaufstieg der Taliban auch nicht durch noch mehr Entwicklungshilfeprojekte verhindern können. An die Politik richtete Broschk den Wunsch, die Entwicklungszusammenarbeit nicht mit zu hohen Erwartungen zu überfrachten. Idealerweise müsse man sich bei Entwicklungszielen Bescheidenheit verordnen, kulturell sensibel auftreten und versuchen den lokalen Kontext zu verstehen und daran die nötige Expertise ausrichten. (ll/27.03.2023)

Experten: Weiter Änderungsbedarf an Preisbremse-Gesetzen

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 13:00
Eine von den Koalitionsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP geplante Änderung des Preisbremsegesetzes (20/5994) war am Montag, 27. März 2023, Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Klimaschutz und Energie. Konkret geht es um zwei größere Änderungen: Die am 24. Dezember 2022 in Kraft getretenen Gesetze zur Einführung einer Strompreisbremse (StromPBG) und zur Einführung von Preisbremsen für leitungsgebundenes Erdgas und Wärme (EWPBG) sehen eine Prüfbehörde vor. Angesichts der umfangreichen und komplexen Aufgaben, die die Prüfbehörde im Rahmen des Gesetzesvollzugs übernehmen soll, planen die Koalitionsfraktionen den Kreis der für die Aufgabenwahrnehmung in Frage kommenden Personen oder Institutionen um juristische Personen des Privatrechts zu erweitern. Zudem wird vorgesehen, dass ab dem 15. Februar 2023 auch äquivalente Absicherungsgeschäfte, die in ihrer Wirkung einem Absicherungsgeschäft an der Energiebörse European Energy Exchange AG in Leipzig (EEX) entsprechen, gemeldet werden dürfen. Experte bemängelt "erhebliche Rechtsunsicherheit" Deutschland sei gut durch den Winter gekommen, besser als man das vor einem halben Jahr gedacht habe, sagte Dr. Sebastian Bolay von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) - und fügte sogleich ein deutliches „Aber“ an. Die gesetzliche Umsetzung der Preisbremsen habe in den vergangenen Wochen in der Wirtschaft zu erheblicher Rechtsunsicherheit geführt und sehr viele Ressourcen gebunden. Aufgrund der Dringlichkeit und der Geschwindigkeit, mit der die Bundesregierung die Gesetze vorbereitet habe, bestehe für zahlreiche Aspekte nach wie vor Klärungsbedarf, für die das Reparaturgesetz keine Regelungen liefere. Dazu zählten etwa Probleme für die Unternehmen, die mehr als zwei Millionen Euro Beihilfen in Anspruch nehmen wollen; des Weiteren der falsche Referenzpunkt (2021, im Lockdown, hätten die Unternehmen teils sehr viel weniger Energie verbraucht) - und es sei nach wie vor unklar, welche anderen Beihilfen mit Blick auf die Höchstgrenze einberechnet werden müssten. „Wir haben schon wieder ein Reparaturgesetz“, stellte Rechtsanwalt Dr. Wieland Lehnert fest. Es sei aber gut, dass das Gesetz repariert und korrigiert werde. Das Gesetzgebungsverfahren sei ein sehr schnelles gewesen, was auch notwendig gewesen sei, weil es Vorgaben von EU-Seite umzusetzen galt. Dass es für nötige Prüfungen Private brauche, sei aber kritisch zu bewerten: „Hoheitliche Aufgaben sollten vom Staat wahrgenommen werden“, sagte Lehnert. Er warb deshalb für ein Ausschreibungsverfahren, um sicherzustellen, dass es eine Auswahl gebe, bei der unter anderem darauf zu achten sei, dass Interessenkonflikte vermieden und auf die Unabhängigkeit der Bewerber geachtet werde. "Der Markt hat geliefert" Die allgemeine Lage im Energiemarkt sei gut, sagte Barbara Maria Lempp vom Verband Deutscher Energiehändler. Für Endkunden habe mit dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen aber eine problematische Zeit begonnen. Auch für Energieunternehmen bedeute er große Herausforderungen. Doch der Markt habe geliefert und die Gasbeschaffung für Europa sei auf neue Beine gestellt worden. So gesehen sei es sehr problematisch, dass erlaubte Erlöse und Gewinne vom Staat vorgeschrieben würden. Das Eingreifen des Staates verhindere eine nachfragegerechte Produktion, eine vernünftige Preisbildung und führe zu Verzerrungen. Deswegen sei es wichtig, dass man das Abschöpfen von Übergewinnen beende und wieder auf den Markt setze. Motto: „Besser das Immunsystem stärken als an Erkältungssymptomen herumdoktern“. Die Möglichkeit der Verlängerung des Abschöpfungszeitraumes durch Rechtsverordnung über den 30. Juni 2023 hinaus sollte aus dem Gesetz gestrichen werden forderte Ingbert Liebing vom Verband kommunaler Unternehmen (VKU). Der Abschöpfungsmechanismus zur Finanzierung der Strompreisbremse bleibe aus VKU-Sicht ein grundsätzlicher Fehler, weil nicht Gewinne, sondern Erlöse abgeschöpft würden - auch dann, wenn gar keine Gewinne entstünden. Des Weiteren forderte Liebing, dass die Missbrauchstatbestände auf Sachverhalte beschränkt werden, bei denen tatsächlich die Gefahr einer unberechtigten Inanspruchnahme der Preisbremsen bestehe. Die Sicherheitszuschläge für feste Biomasse, Abfall, Klärschlamm, Klärgas und Grubengas sollten deutlich angehoben werden. Bei anlagenbezogenen Vermarktungsverträgen sollten Anlagenbetreiber stets die Möglichkeit haben, die Überschusserlöse auf der Grundlage individueller Erlöse anstelle von Spotmarktpreisen oder Monatsmarktwerten zu ermitteln. Dies sollte auch für anlagenbezogene Vermarktungsverträge gelten, die zwischen verbundenen Unternehmen abgeschlossen werden. „Wir begrüßen, dass mit dem vorliegenden Entwurf nun vorgesehen ist, dass ab dem 15. Februar 2023 auch solche Absicherungsgeschäfte, die in ihrer Wirkung einem Absicherungsgeschäft an der Energiebörse European Energy Exchange AG in Leipzig (EEX) entsprechen, gemeldet werden dürfen.“ Die Vorgaben zur Berücksichtigung von Absicherungsgeschäften sollten aber noch mehr an die Praxis angepasst werden „Bitte die Abschöpfung nicht verlängern“ Weiteren Verbesserungsbedarf sieht auch Dr. Maximilian Rinck vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Der BDEW begrüße aber im Grundsatz sehr, dass der Gesetzgeber kurzfristig Anpassungen zu Preissicherungsmeldungen für zukünftige Absicherungsgeschäfte bei der Überschusserlösabschöpfung auf den Weg gebracht habe. Der BDEW begrüßt außerdem, dass der Gesetzgeber kurzfristig rückwirkend zum 15. Februar 2023 klarstellt, dass auch außerbörsliche Handelsgeschäfte als Grundlage für Preissicherungsmeldungen nach Paragraf 17 Nr. 2 i.V.m. Anlage 5 StromPBG dienen können. Die Formulierungshilfe adressiere jedoch nicht die Fälle, bei denen zum Beispiel interne Geschäfte als Fahrpläne abgesichert werden, da diese nicht oder nur schwer auf standardisierte EEX-Lieferprofile abgebildet werden können. Dr. Carsten Rolle vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) stieß ins gleiche Horn. Für viele liefen die Preisbremsen ins Leere, sagte Rolle. „Deswegen ist es unser starker Wunsch mit dieser Novelle nicht abzuschließen“, appellierte Rolle an den Gesetzgeber und forderte, weiter in der EU darauf zu dringen, dass die beihilferechtlichen Bedingungen geändert werden. Dr. Christine Wilckens sieht aus Sicht der Kommunalen Spitzenverbände drei Änderungsbedarfe. Zum einen fehle es an Rechtssicherheit für kommunale Beteiligungen bei nicht- oder teilsnichtunternehmerischen Betätigungen - so entstehe für Kommunen ein enormer Graubereich etwa bei Kindergärten, von denen manche kommunal, andere privatwirtschaftlich betrieben würden. Ein Problem sei die Beantragungsfrist. Diese bringe die Kommunen in Bedrängnis, denn die Beantragung sei so komplex, dass das in der vorgesehenen Zeit kaum zu schaffen sei. Und auch sie schloss mit dem Appell: „Bitte die Abschöpfung nicht verlängern.“ (mis/27.03.2023)

Zweifel am Gesetz­gebungs­verfahren beim Hinweisgeberschutz

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 13:00
Bereits zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode hat im Rechtsausschuss eine Anhörung zum Schutz von sogenannten Whistleblowern, die auf Rechts- und Regelverstöße in Unternehmen und Behörden hinweisen, stattgefunden. Dabei ging es am Montag, 27. März 2023, nicht nur um den Inhalt der Neuregelung, sondern auch um das dafür geplante Gesetzgebungsverfahren. Denn nachdem der Bundesrat einen vom Bundestag beschlossenen Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Hinweisgeberschutz abgelehnt hatte, haben die Koalitionsfraktion das Vorhaben in zwei Gesetzentwürfe aufgespalten, von denen nach ihrer Auffassung nur einer im Bundesrat zustimmungspflichtig ist. In diesem Verfahren sehen nun einige Sachverständige die Gefahr eines Verfassungskonflikts. Entwurf zum Hinweisgeberschutzgesetz Der neu eingebrachte Entwurf eines Hinweisgeberschutzgesetzes (20/5992) ist weitgehend identisch mit dem am 16. Dezember 2022 vom Bundestag verabschiedeten Gesetzentwurf (20/4909). Allerdings nimmt er ausdrücklich Beamte der Länder und Kommunen aus seinem Anwendungsbereich aus. Dadurch ist nach Einschätzung der einbringenden Koalitionsfraktionen keine Zustimmung des Bundesrates mehr erforderlich. In einem zweiten, zustimmungspflichtigen Gesetzentwurf „zur Ergänzung der Regelungen zum Hinweisgeberschutz“ (20/5991) wird diese Einschränkung wieder aufgehoben. Dieses Gesetz soll bereits vor dem eigentlichen Hinweisgeberschutzgesetz in Kraft treten, so dass letzteres von Anfang an dem usprünglichen, vom Bundesrat abgelehnten Gesetz entsprechen würde. Das ursprüngliche Hinweisgeberschutzgesetz hatte in der Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2023 keine Mehrheit gefunden, weil die Länder mit Regierungsbeteiligung von CDU und CSU ihre Zustimmung verweigert hatten. Begründet hatten die Unionsvertreter ihre Ablehnung insbesondere mit einer zu starken Belastung kleiner und mittlerer Unternehmen. Die von ihnen beanstandeten Regelungen sollen nun nach dem Willen der Koalitionsfraktionen auch ohne Zustimmung der Länderkammer in Kraft treten können. Aufspaltung von Gesetzesvorhaben Jetzt in der Anhörung hat der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Winfried Kluth von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ernste Bedenken gegen dieses Vorgehen geäußert. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht mehrfach die Aufspaltung von Gesetzesvorhaben in einen zustimmungspflichtigen und einen nicht zustimmungspflichtigen Teil gebilligt, allerdings verlangt, dass eine solche Gestaltung nicht willkürlich oder missbräuchlich sein dürfe. Hier gebe es aber Zweifel, dann so Kluth in seiner Stellungnahme, „die Aufteilung in zwei Gesetzesvorhaben war einzig die Reaktion auf die Verweigerung der Zustimmung zum ersten, alle Aspekte umfassenden Gesetzesentwurf“ und nicht inhaltlich begründet. Übereinstimmend kommt der Bonner Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Gregor Thüsing in seiner Stellungnahme zu dem Schluss: „Wenn es sich hier nicht um Willkür, also nicht aus sachlichen Gründen gerechtfertigte, sondern nur aus dem System der Zustimmungsbedürftigkeit hergeleiteten Trennung handelt, wann dann?“ Nach den Recherchen in seinem Institut habe es einen solchen Fall, dass ein bereits im Bundesrat abgelehntes Gesetz aufgespalten und dann neu eingebracht wird, noch nicht gegeben. Thüsing plädierte eindringlich dafür, stattdessen das Vermittlungsverfahren zu wählen: „Nutzen Sie diese Chance, zu einem besseren Gesetz zu kommen!“ Warnung vor „Zwei-Klassen-Recht“ Die Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerks, Kosmas Zittel, wies auf eine Konsequenz hin, wenn das als zustimmungspflichtig eingestufte Aufhebungsgesetz vom Bundesrat abgelehnt werden sollte. Dann gebe es ein „Zwei-Klassen-Recht“, das für Bundesbeamte Anderes gilt als für Landes- und Kommunalbeamte. In diesem Fall aber sei auch das eigentliche Hinweisgeberschutzgesetz nicht EU-konform, da ja die EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern, die mit der Neuregelung in nationales Recht umgesetzt werden soll, für das ganze Land gelte und damit auch für Landesbedienstete. Inhaltlich bekräftigten die zu der Anhörung geladenen Sachverständigen, die teilweise schon an der letzten Anhörung im Oktober teilgenommen hatten, vielfach bereits damals geäußerte Kritik, wobei wie damals die positive Einschätzung überwog. Es gab aber auch neue Einwände gegen Änderungen, die der Rechtsausschuss nach der Anhörung in den damaligen Gesetzentwurf eingearbeitet hatte und die sich im jetzt vorliegenden Text wiederfinden. Verbesserung gegenüber geltendem Recht Wie auch andere Sachverständige sieht der Münchener Rechtsanwalt Dr. Maximilian Degenhart, der Unternehmen und Kommunen in Compliance-Fragen berät, in dem Gesetzentwurf eine wesentliche Verbesserung gegenüber geltendem Recht. Er beseitige Rechtsunsicherheit für potenziell hinweisgebende Beschäftigte und Beschäftigungsgeber. Aus seiner Praxis könne er berichten, dass Hinweisgeber fast immer etwas an ihrer Arbeitsstelle verbessern wollten und es „praktisch keine böswilligen Hinweise“ gebe. Dies spreche dafür, wie im Gesetzentwurf vorgesehen internen Meldestellen den Vorrang vor externen Meldestellen zu geben. Belastung kleinerer Unternehmen Die Belastung kleinerer Unternehmen durch die Umsetzung des geplanten Gesetzes stellte Hildegard Reppelmund, Syndikusrechtsanwältin der Deutschen Industrie- und Handelskammer, in den Vordergrund. Sie stellte deshalb die Pflicht zur Einrichtung anonymisierter Meldekanäle, die einen erheblichen Aufwand erfordere, in Frage. Dagegen begrüßte Louisa Schloussen von Transparency International die verpflichtende anonyme Meldemöglichkeit, die nach der Anhörung im Oktober „auf unsere Kritik hin“, wie sie erklärte, in den Gesetzentwurf eingefügt worden sei, als besonders wichtig. Aus seiner Erfahrung, dass gerade in kleinen Betriebsstätten die Chefs oft weniger an der Klärung eines gemeldeten Sachverhalts interessiert seien als daran, wer die Meldung gemacht hat, plädierte der Münchener Rechtsanwalt Dr. Christoph Klahold, Sprecher des Vorstands des Deutschen Instituts für Compliance, für Meldestellen auf Konzern-Ebene. Jana Wömpner vom Deutschen Gewerkschaftsbund monierte, dass der Gesetzentwurf an verschiedenen Stellen uneindeutige Begriffe wie den „hinreichenden Grund zur Annahme“ enthalte. Damit werde das Ziel, Rechtsklarheit zu schaffen, verfehlt und es bestehe sogar die Gefahr, dass sich die Rechtsposition von Hinweisgebenden verschlechtert. Zudem blieben verschiedene Regelungen zum Schutz von Hinweisgebenden und zum Schadenersatz hinter der EU-Richtlinie zurück, die mit dem Gesetz umgesetzt werden soll. Notwendigkeit des Hinweisgeberschutzes Der Göttinger Rechtswissenschafter Dr. Simon Gerdemann, der ein Forschungsprojekt zum Whistleblowing-Recht leitet, forderte die Anpassung des Gesetzentwurfs an eine unlängst ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Zusammenhang mit dem sogenannten LuxLeaks-Skandal. Diese bestätige im Kern die Notwendigkeit eines Hinweisgeberschutzes in Fällen von grundlegender Bedeutung für das demokratische Gemeinwesen. Vor diesem Hintergrund müsse der Schutz des Gesetzes, der sich bisher nur auf die Meldung von Verstößen gegen bestehende Rechtsnormen erstreckt, auch Personen umfassen, die auf formal legale, gesellschaftlich aber bedenkliche Vorgänge hinweisen. Regelung zu Äußerungen von Beamten Kontrovers wurde in der Anhörung eine vom Rechtsausschuss im Dezember in den damaligen Gesetzentwurf eingefügte und jetzt übernommene Regelung bewertet, dass Hinweisgeber, die auf verfassungsrechtlich bedenkliche Äußerungen von Beamten hinweisen, auch dann unter dem Schutz dieses Gesetzes stehen, wenn die Äußerungen nicht strafrechtlich relevant sind. Rechtsanwalt David Werdemann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte verwies auf die beamtenrechtliche Relevanz und begrüßte die damit geschaffene Möglichkeit, etwa gegen rechtsextreme Äußerungen in geschlossenen Chatgruppen vorzugehen. Andere Sachverständige warnten dagegen vor einer Kollision dieser Bestimmung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Erster Gesetzentwurf der Koalition Der jetzt neu eingebrachte Entwurf eines Hinweisgeberschutzgesetzes (20/5992) ist weitgehend identisch mit dem am 16. Dezember 2022 vom Bundestag verabschiedeten Gesetzentwurf (20/4909). Allerdings nimmt es ausdrücklich Beamte der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der sonstigen der Aufsicht eines Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie Richterinnen und Richter im Landesdienst aus seinem Anwendungsbereich aus. Dadurch ist nach Einschätzung der einbringenden Fraktionen keine Zustimmung des Bundesrates mehr erforderlich. Zweiter Gesetzentwurf der Koalition In einem zweiten Gesetzentwurf „zur Ergänzung der Regelungen zum Hinweisgeberschutz“ (20/5991) wird diese Einschränkung wieder aufgehoben. Das ursprüngliche Hinweisgeberschutzgesetz hatte in der Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2023 keine Mehrheit gefunden, weil die Länder mit Regierungsbeteiligung von CDU und CSU ihre Zustimmung verweigert hatten. Begründet hatten die Unionsvertreter ihre Ablehnung insbesondere mit einer zu starken Belastung kleiner und mittlerer Unternehmen. Die von ihnen beanstandeten Regelungen sollen nun nach dem Willen der Koalitionsfraktionen auch ohne Zustimmung der Länderkammer in Kraft treten können. Kern des Gesetzentwurfes ist unverändert die Einrichtung von Meldestellen in Unternehmen, Behörden und Organisationen, an die sich Whistleblower wenden können. Diese sollen auch anonyme Meldungen bearbeiten und dazu eine anonyme Kommunikation zwischen Hinweisgebenden und Meldestellen ermöglichen. Geschützt sein soll auch, wer verfassungsfeindliche Äußerungen von Beamtinnen und Beamten meldet. Das soll auch für Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle gelten. Hinweisgeber, die Repressalien erleiden, sollen eine Entschädigung in Geld auch dann verlangen können, wenn es sich nicht um einen Vermögensschaden handelt. Unternehmen mit mindestens 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern müssen eine interne Meldestelle einrichten. Unternehmen mit bis zu 249 Mitarbeitenden können dabei Meldestellen gemeinsam aufbauen. Als externe Meldestelle soll, mit einigen Ausnahmen, das Bundesamt für Justiz dienen. Geschützt sein sollen nicht nur Beschäftigte der Unternehmen und Behörden, sondern etwa auch Beschäftigte von Zulieferern sowie Anteilseigner. Sofern ein Whistleblower nach einer Meldung berufliche Nachteile erfährt, sieht das Gesetz eine Beweislastumkehr vor. Es wäre dann zu beweisen, dass die Benachteiligung nicht auf der Meldung beruhte. Wer allerdings vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige Informationen meldet, begeht eine Ordnungswidrigkeit und muss für einen dadurch entstandenen Schaden aufkommen. (scr/pst/27.03.2023)

Versorgung von Früh­geborenen mit niedrigem Geburtsgewicht

Bundestag | Aktuelle Themen - Mo, 27.03.2023 - 12:00
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) steht hinter der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) wonach bei der Versorgung von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.250 Gramm 25 Kinder, statt bislang 14 Kinder, an einem Standort pro Jahr betreut werden müssen, damit die Krankenhäuser diese Leistungen erbringen dürfen. Das wurde während einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses am Montag, 27. März 2023, deutlich. „In den Einrichtungen mit mehr Erfahrung im Umgang mit Extrem-Frühchen reduziert sich die Sterbewahrscheinlichkeit der Kinder signifikant“, sagte BMG-Staatssekretär Dr. Edgar Franke (SPD). Für eine Rückkehr zur ursprünglichen Fallzahl von 14 Kindern pro Jahr spricht sich indes Renate Krajewski, Vorsitzende der Mitarbeitervertretung am Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum (DBK) in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) aus. Ihre der Sitzung zugrunde liegende öffentliche Petition konnte in der Mitzeichnungsfrist neben 56.682 Online-Unterstützungen auch noch 54.193 „analoge Unterschriften“ verbuchen. "Keine Anlaufstelle zwischen Rostock und Berlin" Die Frühchen-Station in Neubrandenburg ist der Eingabe zufolge vom Verlust des Status Perinatalzentrum Level 1 betroffen, weil die Zahl der dort frühgeborenen Kinder nur bei 16 bis 20 in den vergangenen Jahren lag. Klinik-Vertreterin Krajewski fordert daher in ihrer Petition, die vom G-BA beschlossene Mindestfallzahl von 25 Fällen pro Jahr zu streichen und durch „angemessenere Maßnahmen zur Qualitätssicherung“ zu ersetzen. Da in Neubrandenburg diese Anzahl nicht erreicht werde, „gibt es zwischen Rostock und Berlin keine Anlaufstelle mehr für Frühgeburten unter 1.250 Gramm, obwohl wir seit vielen Jahren in nachweislich guter Qualität arbeiten“, sagte sie vor den Abgeordneten. Der die Petentin begleitende Chef der Neubrandenburger Kinderklinik, Dr. med. Sven Armbrust, hielt eine Mindestzahl von 14 Kinder pro Jahr ebenfalls für ausreichend. „Die Sterblichkeit bei den Frühchen ist in den letzten Jahren von 5,1 Prozent auf 4,6 Prozent gesunken“, sagte er. So schlecht könne also die Versorgung trotz einiger kleinerer Zentren nicht gewesen sein. "Ein Gewinn an Sicherheit" Krajewski und Armbrust wiesen auf die sich durch längere Fahrwege zu den künftigen Zentren ergebenden Probleme hin. Frühgeburtlichkeit betreffe schließlich die gesamte Familie, sagte der Klinik-Chef. Wenn Mutter und Kind mehrere Monate auf der Station liegen müssten, sei es umso problematischer für den Rest der Familie, je weiter das Krankenhaus vom Wohnort weg gelegen ist. Das gelte insbesondere für den ländlichen Raum. Krajewski kritisierte außerdem, dass als Notfälle in ihrem Krankenhaus zur Welt gekommene Extrem-Frühchen nach der Geburt verlegt werden müssten. Die Risiken der Verlegung solcher extrem sensibler Kinder seien bei der Entscheidung des G-BA nicht berücksichtigt worden. Karin Maag, unparteiisches Mitglied im G-BA, sah das anders. Der Gewinn an Sicherheit für die extrem frühgeborenen Säuglinge sei in Einrichtungen, wo es eine höhere Fallzahl gebe und man daher mehr Erfahrungen damit habe, so groß, dass dies durch längere Fahrzeiten und Fragen der Mutter-Kind-Bindung nicht aufgewogen werden könne, sagte sie. Das Sterberisiko bei Frühchen sei schließlich extrem hoch. Umstritten blieb während der Sitzung unter anderem die Frage, ob es sich bei den Frühgeburten um planbare Behandlungen oder Notfälle handelt. Maag und Franke sprachen davon, dass 90 Prozent der Frühgeburten planbar seien. Der Leiter der Neubrandenburger Kinderklinik hielt dem entgegen, dass zwei Drittel der Geburten Notfälle seien. Dies habe eine Rückfrage seinerseits unter Kollegen bestätigt. „Es ist eine planbare Leistung“, sagte hingegen BMG-Staatssekretär Franke. Der Geburt eines Säuglings unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht ginge regelmäßig eine erhebliche Entscheidungsphase voraus, „weil die drohende Frühgeburt in aller Regel Folge einer Erkrankung der werdenden Mutter in der Schwangerschaft ist“. Die Entscheidung des G-BA sei „wohlbegründet“ und Ergebnis eines ordnungsgemäßen Verfahrens, urteilte Franke. (hau/27.03.2023)