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Art. 70 GG - Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern (Kommentar)
(1) Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht.
(2) Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern bemißt sich nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes über die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebung.
- 1. Absatz 1
- 2. Absatz 2
1. Absatz 1
1.1. Wortlaut und Struktur
Art. 70 Abs. 1 GG bestimmt die grundsätzliche Kompetenzordnung im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland. Die Norm gewährt den Ländern das Recht zur Gesetzgebung, unter der Bedingung, dass das Grundgesetz dem Bund nicht ausdrücklich Gesetzgebungsbefugnisse zuweist. Damit wird das föderale Prinzip des deutschen Staatsaufbaus bestätigt und operationalisiert. Der Artikel regelt eine grundlegende Zuständigkeitsverteilung und verweist zugleich auf die Regelungstechnik der konkurrierenden Gesetzgebung, die in Art. 72 GG weiter spezifiziert wird.
1.2. Historische Entwicklung
Das Kompetenzsystem des Grundgesetzes weist Parallelen zur Weimarer Reichsverfassung (WRV) auf, die jedoch kein klares Subsidiaritätsprinzip zwischen Reich und Ländern formulierte. Die WRV setzte stärker auf eine zentralisierte Gesetzgebungsstruktur, wodurch die Länder sukzessive Kompetenzen verloren. Die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur, die durch die Gleichschaltung der Länder ihre föderale Eigenständigkeit verloren, führten im Grundgesetz zu einer bewussten Stärkung der Länderkompetenzen.
Im Parlamentarischen Rat wurde intensiv über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern debattiert. Insbesondere die Vertreter der süddeutschen Länder plädierten für eine starke föderale Ordnung und ein begrenztes Eingriffsrecht des Bundes. Art. 70 GG wurde schließlich als zentrale Norm verankert, um die Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich bei den Ländern zu belassen. Dieser Ausgangspunkt sollte durch die ausdrückliche Zuweisung von Bundeskompetenzen durch das Grundgesetz nur ausnahmsweise durchbrochen werden.
1.3. Normzweck und Bedeutung
Art. 70 Abs. 1 GG verfolgt mehrere zentrale Ziele:
Stärkung des Föderalismus: Der Artikel betont die Bedeutung der Länder im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland und stellt sicher, dass sie eigenständig Gesetze erlassen können, solange keine explizite Kompetenz des Bundes besteht.
Gewährleistung der Subsidiarität: Die Norm entspricht dem Prinzip der Subsidiarität, indem sie Gesetzgebungskompetenzen auf der möglichst niedrigsten Ebene ansiedelt, sofern dies sinnvoll und praktikabel ist.
Schaffung eines Kompetenzrahmens: Durch die Verweisung auf die Zuweisung von Gesetzgebungskompetenzen an den Bund wird ein klar strukturiertes Kompetenzsystem geschaffen, das Konflikte zwischen Bund und Ländern minimieren soll.
1.4. Systematische Stellung
Art. 70 GG bildet den Ausgangspunkt für die Kompetenzordnung im deutschen Föderalismus und ist die Grundlage für die weitergehenden Regelungen in den Art. 71 bis 74 GG. Während Art. 70 Abs. 1 GG die Länder als primär zuständig definiert, spezifizieren die nachfolgenden Artikel die Fälle der ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung sowie deren Abgrenzung.
Darüber hinaus steht Art. 70 GG in engem Zusammenhang mit Art. 31 GG, der die Kollisionsregel „Bundesrecht bricht Landesrecht“ enthält. Diese Regel findet jedoch erst Anwendung, wenn der Bund in einem Bereich, für den ihm die Kompetenz zusteht, tatsächlich gesetzgeberisch tätig geworden ist.
1.5. Dogmatische Einordnung
Art. 70 Abs. 1 GG verankert ein grundlegendes Kompetenzvermutungsprinzip zugunsten der Länder. Dies unterscheidet sich von anderen föderalen Systemen wie den Vereinigten Staaten, wo die Kompetenzvermutung zugunsten des Bundes erfolgt. Die deutsche Regelung setzt auf eine dezentrale Ausgestaltung der Staatsorganisation und hebt die Länder als eigenständige Gesetzgeber hervor.
Das Grundgesetz nutzt die Technik der enumerativen Kompetenzzuweisung, d.h., die Bundeskompetenzen werden abschließend aufgezählt. Diese Kompetenzaufzählung erfolgt in den Art. 73 (ausschließliche Gesetzgebung) und Art. 74 (konkurrierende Gesetzgebung). Für alle nicht ausdrücklich geregelten Bereiche verbleibt die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern.
1.6. Anwendungsbereich und Reichweite
1.6.1. Umfang der Länderkompetenz
Die Formulierung des Art. 70 Abs. 1 GG deutet darauf hin, dass die Länder für alle nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesenen Bereiche zuständig sind. Dies umfasst insbesondere Bereiche der Bildung, Kultur, Polizei und kommunalen Verwaltung. Die Länder haben hier nicht nur die Kompetenz, Gesetze zu erlassen, sondern auch, diese eigenständig auszuführen.
1.6.2. Einschränkungen durch Bundeskompetenzen
Die Länderkompetenz wird durch die in Art. 73 und 74 GG aufgezählten Bundeskompetenzen eingeschränkt. In Bereichen der ausschließlichen Gesetzgebung (Art. 73 GG) hat der Bund die alleinige Regelungskompetenz. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG) dürfen die Länder nur dann tätig werden, wenn der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch macht oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht erfüllt sind.
1.6.3. Dynamische Entwicklung durch Rechtsprechung
Die Abgrenzung von Landes- und Bundeskompetenzen ist Gegenstand umfangreicher Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In Fällen von Kompetenzkonflikten entscheidet das Gericht häufig anhand des Subsidiaritätsprinzips, wobei es die Länderkompetenz stärker betont, sofern keine überwiegenden Interessen des Bundes vorliegen. Beispielhaft sei hier das Volkszählungsurteil von 1983 genannt, das die Bedeutung der Länderkompetenzen in Fragen der Datenverarbeitung betonte.
1.7. Praxisrelevanz und Konfliktpotenziale
Art. 70 Abs. 1 GG hat erhebliche praktische Bedeutung, insbesondere in Bereichen, in denen sowohl der Bund als auch die Länder Interessen verfolgen. Konfliktfelder ergeben sich häufig in der Steuerpolitik, bei Umweltfragen oder in der Bildungspolitik. Diese Konflikte führen nicht selten zu Kompetenzklagen vor dem Bundesverfassungsgericht.
Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion um den Digitalpakt Schule. Während Bildung grundsätzlich in die Länderkompetenz fällt, hat der Bund durch die Bereitstellung finanzieller Mittel und die Formulierung von Rahmenvorgaben Einfluss auf diesen Bereich genommen. Solche Mischformen führen regelmäßig zu Diskussionen über die Reichweite der jeweiligen Kompetenzen.
1.8. Verfassungsrechtliche Herausforderungen
1.8.1. Kompetenzverschiebungen
Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist dynamisch, da durch Verfassungsänderungen Bundeskompetenzen ausgeweitet werden können. Dies wurde beispielsweise durch die Föderalismusreformen 2006 und 2009 deutlich, die teilweise Kompetenzen neu zugeordnet haben. Art. 70 GG bleibt jedoch der grundlegende Ankerpunkt, der die Länder als originäre Gesetzgeber festlegt.
1.8.2. Harmonisierung und Wettbewerb
Ein Spannungsfeld ergibt sich aus dem Bedarf an harmonisierten Regelungen einerseits und dem föderalen Wettbewerb andererseits. Während der Föderalismus Vielfalt ermöglicht, kann er auch zu Unterschieden führen, die als problematisch wahrgenommen werden, etwa im Schul- oder Gesundheitswesen.
1.8.3. Subsidiarität und Europäisierung
Mit der zunehmenden Integration in die Europäische Union hat sich die Rolle der Länder verändert. Obwohl die Gesetzgebungskompetenz in vielen Bereichen bei den Ländern verbleibt, werden die Rahmenbedingungen häufig durch europäische Vorgaben vorgegeben. Dies reduziert den Handlungsspielraum der Länder und verschiebt faktisch Teile der Regelungskompetenz von der Landes- auf die europäische Ebene.
2. Absatz 2
2.1. Wortlaut und Struktur
Art. 70 Abs. 2 GG bestimmt die Grundsätze der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland. Der Artikel verweist ausdrücklich auf die im Grundgesetz niedergelegten Regelungen zur ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung, die in den Art. 71 bis 74 GG detailliert ausgeführt werden. Damit wird klargestellt, dass die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen nicht durch Gewohnheitsrecht, politische Praxis oder pragmatische Einzelfallregelungen bestimmt wird, sondern ausschließlich durch die in der Verfassung niedergelegten Vorschriften.
2.2. Historische Entwicklung
Die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern war bereits in der Weimarer Reichsverfassung geregelt, wobei jedoch das Reich deutlich dominierte. Im Gegensatz dazu stärkt das Grundgesetz den Föderalismus, indem es den Ländern gemäß Art. 70 Abs. 1 GG grundsätzlich die Gesetzgebungskompetenz zuspricht, jedoch in Art. 70 Abs. 2 GG die genaue Abgrenzung durch die in der Verfassung niedergelegten Kompetenzkataloge spezifiziert. Diese duale Konstruktion wurde im Parlamentarischen Rat intensiv diskutiert und sollte sowohl Konflikte vermeiden als auch eine klare Kompetenzordnung schaffen.
Die Föderalismusreformen von 2006 und 2009 haben die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern weiterentwickelt und präzisiert. Insbesondere die Neuordnung der konkurrierenden Gesetzgebung und die Einführung von Abweichungskompetenzen der Länder in bestimmten Bereichen (Art. 72 Abs. 3 GG) zeigen, dass die Kompetenzverteilung dynamisch bleibt und an politische Erfordernisse angepasst werden kann. Art. 70 Abs. 2 GG blieb jedoch in seiner Grundkonstruktion unangetastet und bewahrt seinen Charakter als grundlegende Verweisnorm.
2.3. Systematische Stellung
Art. 70 Abs. 2 GG steht in engem Zusammenhang mit den folgenden Artikeln, die die ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung regeln:
- Art. 71 GG: Regelt die Gesetzgebungskompetenz des Bundes bei der ausschließlichen Gesetzgebung.
- Art. 72 GG: Legt die Bedingungen fest, unter denen der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung tätig werden kann.
- Art. 73 GG: Enthält den Katalog der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes.
- Art. 74 GG: Listet die Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung auf.
Darüber hinaus ergänzt Art. 30 GG, der die grundsätzliche Zuständigkeit der Länder für alle staatlichen Aufgaben vorsieht, die Kompetenzabgrenzung. In der Praxis kommt es häufig zu Überschneidungen zwischen den Regelungen der Art. 70 ff. GG und spezifischen Sachverhalten, etwa in der Steuerpolitik (Art. 105 GG) oder bei internationalen Verpflichtungen (Art. 32 GG).
2.4. Normzweck und Bedeutung
Art. 70 Abs. 2 GG verfolgt mehrere zentrale Ziele:
- Rechtsklarheit und Rechtssicherheit: Die Norm sorgt für eine klare Kompetenzordnung, die sich aus den spezifischen Regelungen des Grundgesetzes ergibt. Dadurch werden potenzielle Konflikte minimiert, und die Zuständigkeiten sind für alle Beteiligten nachvollziehbar.
- Föderale Balance: Art. 70 Abs. 2 GG trägt zur Wahrung der föderalen Balance bei, indem er den Ländern eine grundlegende Gesetzgebungskompetenz belässt und die Zuständigkeiten des Bundes auf explizite Zuweisungen beschränkt.
- Vermeidung von Kompetenzkonflikten: Durch den Verweis auf die Kompetenzkataloge der ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung wird eine systematische Grundlage geschaffen, die Konflikte durch unklare Zuständigkeitsregelungen vermeiden soll.
2.5. Dogmatische Einordnung
Art. 70 Abs. 2 GG konkretisiert das in Art. 70 Abs. 1 GG enthaltene Grundprinzip der Länderkompetenz. Die Regelung verwendet die Technik der enumerativen Kompetenzzuweisung, die sich an föderalen Systemen wie den Vereinigten Staaten orientiert, jedoch die Kompetenzvermutung zugunsten der Länder gestaltet.
2.5.1. Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes (Art. 71, Art. 73 GG)
Die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes umfasst Bereiche, die im Katalog des Art. 73 GG aufgeführt sind, wie etwa die auswärtigen Angelegenheiten, die Verteidigung und die Währungsordnung. In diesen Bereichen haben die Länder keinerlei Gesetzgebungsbefugnisse, es sei denn, sie werden ausdrücklich durch ein Bundesgesetz dazu ermächtigt.
2.5.2. Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72, Art. 74 GG)
Die konkurrierende Gesetzgebung erlaubt den Ländern, in den in Art. 74 GG aufgeführten Bereichen tätig zu werden, solange der Bund nicht von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht erfüllt sind. Diese Bereiche umfassen unter anderem das Strafrecht, das Arbeitsrecht und Teile des Sozialrechts.
2.5.3. Abweichungsgesetzgebung
Die Föderalismusreform 2006 führte die Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung ein. In bestimmten Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung (z.B. Hochschulwesen, Naturschutz, Raumordnung) dürfen die Länder von den bundesgesetzlichen Regelungen abweichen. Dies hat die föderale Vielfalt erhöht, jedoch auch zu neuen Konflikten geführt.
2.6. Praxisrelevanz und Konfliktpotenziale
Art. 70 Abs. 2 GG hat erhebliche praktische Bedeutung, da er die Grundlage für die Kompetenzordnung im deutschen Föderalismus bildet. In der Praxis führen jedoch unterschiedliche Interpretationen der Kompetenzkataloge zu Konflikten zwischen Bund und Ländern. Beispiele sind:
- Bildungspolitik: Obwohl Bildung traditionell Ländersache ist, nimmt der Bund über Förderprogramme wie den Digitalpakt Schule Einfluss auf diesen Bereich.
- Klimaschutz: Der Klimaschutz erfordert Maßnahmen auf Landes- und Bundesebene. Die Abgrenzung der Kompetenzen ist hier aufgrund der übergreifenden Natur des Themas häufig umstritten.
2.7. Verfassungsrechtliche Herausforderungen
Die Kompetenzverteilung nach Art. 70 Abs. 2 GG steht vor mehreren Herausforderungen:
- Europäisierung: Viele Regelungen auf Bundes- und Landesebene werden durch EU-Richtlinien beeinflusst. Dies verändert die Kompetenzverteilung faktisch, da EU-Vorgaben oft eine bundeseinheitliche Umsetzung erfordern.
- Globalisierung: Internationale Abkommen und Verträge, etwa im Klimaschutz, tangieren die Kompetenzen von Bund und Ländern. Die Verhandlung solcher Abkommen liegt beim Bund, ihre Umsetzung betrifft jedoch häufig die Länder.
- Föderale Vielfalt vs. Einheitlichkeit: Die Abweichungsgesetzgebung und die unterschiedlichen Regelungen der Länder können zu einer föderalen Vielfalt führen, die in der Praxis jedoch als unübersichtlich wahrgenommen wird.