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Das Management von Wissen und Erfahrung
Die aktuelle Diskussion um die Künstliche Intelligenz hat dafür gesorgt, dass das Thema Know-how Management bei Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern im Fokus steht. Dabei sieht man die wesentlichen Probleme auf der technischen Ebene, aber dort findet man nur Werkzeuge. Entscheidend ist der Unterschied zwischen abstraktem Wissen und praktischer Erfahrung. Hier einige grundsätzliche Überlegungen, die unter anderem zeigen, warum eine offene Unternehmenskultur die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg des Wissensmanagements darstellt.

Humanoider Roboter unter Wasser, der mit einem Delfin interagiert, um seine Sprache zu lernen. Bild mit Dall-e, über ChatGPT/Bing im November 2023 von Lamiot, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International.
- 1. Der Unterschied zwischen Wissen und Erfahrung
- 2. Der organisatorische Rahmen für Wissens- und Erfahrungsmanagement
- 3. Frühere Werkzeuge für das Erfahrungsmanagement
- 4. Fußspuren im Schnee – GOLEM vs. GOOGLE
- 5. Künstliche Intelligenz im Management des Erfahrungswissens
- 6. Der Einfluss der Unternehmenskultur
- 7. Vergütung für Know-how-Transfer
- 8. Führung und Kontrolle
- 9. Zusammenfassung
1. Der Unterschied zwischen Wissen und Erfahrung
Warum sind Steuerberater besonders erfolgreich, wenn sie früher als Veranlagungsbeamte oder Steuerfahnder tätig waren? Warum kommen erfolgreiche Strafverteidiger oft aus der Staatsanwaltschaft? Und warum sind Steuerberater und Rechtsanwälte die sich nicht nur auf bestimmte Rechtsgebiete, sondern auf die Verhältnisse in einzelnen Branchen konzentrieren, erfolgreicher als ihre Kollegen, obwohl andere die besten Examensnoten, die meisten Veröffentlichungen und bessere wissenschaftliche Qualifikationen mitbringen?
Über die Antworten auf diese Fragen muss man nicht lange nachdenken: Die erste Gruppe hat praktische Erfahrung, die zweite nur abstraktes Wissen. Zwar beginnt alles mit ausreichendem Wissen, der Erfolg aber hängt mehr von der Erfahrung ab.
Unter Wissen verstehe ich hier die gesamte Bandbreite des akademischen Wissens bis hin zu allem, was man aus Büchern lernen kann, ein Wissen, das jeder Anwalt oder Steuerberater – ob er das nun will oder nicht – jeden Tag neu gewinnt.
Erfahrung ist etwas ganz anderes: Wir können uns gar nicht dagegen wehren, täglich neue Erfahrungen zu sammeln, auch wenn wir dazu kein Fachbuch in die Hand nehmen müssen. Der Fall, der Mandant, das Gericht, die Behörde belehren uns stets eines Besseren, denn niemand kann in 100 % aller Fälle als Berater die richtige Lösung wissen und durchsetzen. Er wird stets mit dem Know-how der anderen konfrontiert und muss sein eigenes Know-how entsprechend korrigieren.
In der Welt der Wissenschaft sieht das ganz anders aus: Dort schreiben die Spezialisten munter gegeneinander und wenn es Zitatkartelle gibt, verhindern sie wirksam, die Meinung der anderen auch nur lesen zu müssen.
Das wissenschaftliche Wissen ist für die Praxis keinesfalls belanglos: Dieser Generalbaß ist im Hintergrund des Orchesters stets zu hören (oft genug nimmt man ihn nur unbewusst wahr). Im Vordergrund aber, im Wettbewerb der Berater gegeneinander, zählt einzig und allein das Präsenzwissen oder das Know-how, das man auf Grund seiner Erfahrung kurzfristig abrufen kann.
Die Marktdifferenzierung, das entscheidende Merkmal im Wettbewerb, entsteht aus der Fähigkeit des Beraters, auf die gestellten Fragen sofort eine Antwort zu haben. So kann er seinen Mandanten am einfachsten davon überzeugen, dass er mit der Problemstellung vertraut ist. Ich hatte in meinem Büro einmal einen hoch qualifizierten jungen Juristen, der sich im Beratungsgespräch inhaltlich sehr schnell zurechtfand, aber dann seine Ergebnisse stets mit der Schlussbemerkung relativierte: »Aber das ist nur mein erster Eindruck. Sicherheitshalber muss ich auf jeden Fall noch nachschlagen.«
Aber wo hätte er nachschlagen wollen? Eine Vielzahl von Problemen ist in den Büchern nicht zu finden. Kein Buch kein Internet, kein Zeitschriftenartikel kann einem das notwendige Umgebungs-Know-how vermitteln, das in der Praxis so entscheidend ist. Man muss wissen, wie die Behörde tickt, man muss die Strafmaßpraxis kennen, man weiß, dass bestimmte Richter Einstweilige Verfügungen nie ohne mündliche Verhandlung erlassen und man kennt jene anderen, denen man Tonnen von Papier anliefern muss, wenn man ernst genommen werden will.
An diesen Beispielen kann man klar erkennen, dass Rechtsanwälte und Steuerberater im Grunde einen Handwerksberuf ausüben. Zwar brauchen sie Bücher und Medien, um das Recht richtig beurteilen zu können, aber wie man es durchsetzt, dafür muss man Erfahrung selbst durchleiden. Woran liegt das? Wenn man von allen riskanten Prozessen oder Verträgen abraten wollte, würde man als Anwalt zwar immer Recht behalten, aber man würde keine Mandanten mehr haben. Unsere Arbeit besteht in einem täglichen Abschätzen von Chancen und Risiken und die Kugel des Zufalls ist es nicht selten, die den Ausgang einer Sache bestimmt.
Kurz: »Wissen ist wenig, Können ist König.«1
2. Der organisatorische Rahmen für Wissens- und Erfahrungsmanagement
2.1. Wissensmanagement
In jedem Anwalts- oder Steuerberaterbüro gibt es eine Aufbau- und eine Ablauforganisation. Manchen Anwälten ist sie bewusst, manchen nicht. Das in ihnen organisierte Wissensmanagement besteht daraus, in den vorhandenen Büchern, Fachzeitschriften, Datenbanken usw. nach der Lösung bestimmter Probleme zu forschen und sie der eigenen Entscheidung zu Grunde zu legen. Die größeren Büros leisten sich den Luxus einer eigenen »Bibliotheksverwaltung«, die Bücher, Loseblattsammlungen und Zeitschriften organisierten. Richtig strukturierte Bibliotheken helfen dabei und wenn der Umlauf der Zeitschriften gut organisiert ist, der Zugang zu Datenbanken jedermann offen steht etc., war bisher für das Wissensmanagement alles getan, was man tun konnte.
Jeder Anwalt recherchiert nach seinen eigenen Bedürfnissen und in seinem eigenen Stil. In den großen Büros übertragen die Partner solche Aufgaben jüngeren Anwälten. Sehr selten habe ich gesehen, dass man einen älteren Kollegen darum bittet, das Wissensmanagement in die Hand zu nehmen. Dort wäre es aber am besten aufgehoben, denn es ist für einen älteren Anwalt leichter, seine jungen Kollegen zu beraten, als fordernde Mandanten, die wenig Geduld haben. Natürlich wird ein älterer Anwalt mit der neuesten IT-Technologie seinen Schwierigkeiten haben, aber dafür hat er Assistenten. Seltsam, dass diese naheliegende Lösung nicht häufig zu finden ist.
Über die Art und Weise, wie man das Wissensmanagement organisieren sollte, gibt es in der wissenschaftlichen Welt eine Vielzahl von nützlichen Hinweisen.
In diesen Veröffentlichungen geht es um die Kernprozesse des Wissensmanagements, also die Wissensziele, den Erwerb von Wissen, die Wissensentwicklung, die Verteilung, die Nutzung sowie die Speicherung und die Bewertung. In großen Anwaltsbüros wird man sich auch um solche verfeinerten Strukturen bemühen, aber die bisherigen Erfahrungen lehren, dass der Wirkungsgrad, den man dabei für die praktische Arbeit erzielt, relativ gering bleibt. Mit den oben geschilderten Bordmitteln kann man 90 % aller Wissensprobleme lösen und der Aufwand, einen höheren Wirkungsgrad zu erreichen, steht meist außerhalb der Verhältnisse zu den Kosten.
2.2. Erfahrungsmanagement
Für das Erfahrungsmanagement gibt es – soweit ich sehen kann – noch keine Standardlösung, die denjenigen für das Wissensmanagement vergleichbar wäre. Hier stoßen wir auf eine Vielzahl von Schwierigkeiten, die Martin Schulz und Marcel Klugmann schon vor 20 Jahren beschrieben haben2:
- Ob und in welchem Umfang jemand Erfahrungen sammelt, ist keinesfalls (nur) von seiner intellektuellen Kapazität abhängig, sondern mehr oder weniger eine Persönlichkeitsfrage.
- Deshalb vertrauen die einen fröhlich in allen Lebenslagen auf ihr Präsenzwissen, während die anderen misstrauisch und vorsichtig jeden Zettel aufheben, der mit Erfahrung zu tun haben kann.
- Es gibt pädagogisch interessierte Anwälte, die sich freuen, ihr Wissen mit Kollegen zu teilen.
- Aber es gibt auch die vielen anderen, die schon lange begriffen haben, dass Wissen nicht nur Macht, sondern auch Geld ist – gerade die eigenen Erfahrungen führen zu schnelleren und höheren Umsätzen, die man nicht mit anderen teilen will.
Das Erfahrungswissen kann keine einheitliche Struktur haben, weil die Menschen keine einheitlichen Persönlichkeiten sind. Manch wissenschaftlicher Ansatz leugnet daher, dass man Erfahrungswissen überhaupt managen kann – man müsse vielmehr versuchen, bei den einzelnen Menschen anzusetzen. Dieser Rat ist richtig, aber wie macht man das?
Nach meiner Erfahrung bleiben solche Versuche ohne Ergebnis, wenn für das Erfahrungswissen nicht ein Rahmen aufgebaut wird, der für alle sichtbar zeigt, wie es erworben, weitergegeben und gespeichert werden soll. Lassen Sie mich die Umrisse eines solchen Rahmens kurz skizzieren. Er muss folgende Elemente enthalten:
- Eine klare Unterscheidung zwischen dem besonderen eigenen Know-how und dem allgemein zukaufbarem Fremdwissen.
- Die Erkenntnis, dass das Wissen in unterschiedlichen Medien gespeichert werden muss (Papier/Datenbank/mobile Lösungen etc.).
- Die Regelung des Transfers von Erfahrung in horizontaler Richtung (zwischen gleichrangigen Beratern) und vertikaler Richtung (zwischen Beratern in unterschiedlichen Rängen).
- Die Einsicht, dass Wissen, wie jeder Wert, nur ausgetauscht wird, wenn es dafür eine Vergütung gibt (Geld, Anerkennung, andere Credits).
Sind einem diese vier Pfeiler nicht bewusst und kann man aus ihnen kein stimmiges Gebäude errichten, kann Erfahrungsmanagement keinen Erfolg haben.
3. Frühere Werkzeuge für das Erfahrungsmanagement
Die Beck‘sche Leitsatzkartei lernte ich erstmals 1968 an der Universität München kennen. Die Idee hat mich so beeindruckt, dass ich sie für eigene Zwecke aus jeder Nummer ausschnitt und in die dazu gelieferten Kästen einordnete. Nach ungefähr fünf Jahren war der Bestand so groß, dass das Einordnen einen halben Tag erforderte – und dann habe ich die Arbeit eines Tages eingestellt. Sie hat mir in vieler Hinsicht bei juristischen Konzepten geholfen, aber für den konkreten Fall war diese »Papierdatenbank«, nur selten von wirklichem Nutzen, denn vor allem fehlten die unveröffentlichten Urteile.
Dieses Problem haben wir mit Bordmitteln einigermaßen in den Griff bekommen.3 Wir haben früher eine Reiseversicherung vertreten4, die von ihren Kunden an jedem deutschen Amtsgericht verklagt worden ist. Jedes von uns erstrittene Urteil wurde mit einem Leitsatz erfasst und sowohl nach Sachfragen wie nach Amtsgerichten sortiert. So konnte ich dem Amtsgericht Flensburg nachweisen, was es selbst vor wenigen Wochen entschieden hatte, ein Wissen, das der Amtsrichter in der Fülle seiner Akten oft genug verloren hatte, wenn der nächste Fall in ähnlicher Konstellation auf seinen Tisch kam. Wir haben die Fälle in kürzerer Zeit und mit höherer Erfolgsquote lösen können als ohne dieses Erfahrungswissen.
Schon dieses einfache Beispiel zeigt: Die Investition in Erfolge und Fehlschläge solcher Archive macht im Kern den Goodwill aus, der nur im Wert der eigenen Erfahrungen und nicht in den Büchern steckt. Deshalb heben viele Rechtsanwälte und Steuerberater sich Verträge, Urteile, Gutachten und andere Arbeitsergebnisse auf, in der Hoffnung, sie dann leichter wieder zu finden als in der Akte, in der sie ohnehin nach einigen Jahren begraben und weggeworfen werden. Beginnt man mit so einer Archivierung, stellen sich tausende von typischen Bibliotheksproblemen, die man ohne Fachkenntnisse meist nicht lösen kann.
Im Lauf der Zeit wurde klar, dass die gedruckten Bücher und Zeitschriften in der Zukunft eine immer geringere Rolle spielen würden – das Gutenberg-Zeitalter war zu Ende.5 Niemand wusste aber, wie lange die Übergangszeit dauern würde. Ihre Dauer hängt nicht zuletzt von den Gewohnheiten der Anwälte ab, wie sie Ihre Recherche durchführen. Loseblattsammlungen von Gesetzen sind im Grunde seit spätestens zehn Jahren kaum mehr verwendbar, weil die online-Versionen viel aktueller sind. Und trotzdem finden wir sie auch heute noch in zahllosen Büros, denn man kann keinem Partner sagen, wie er seine Recherche anlegen soll.
4. Fußspuren im Schnee – GOLEM vs. GOOGLE
Die technischen Möglichkeiten, um Suchstrategien in geeignete Software umzusetzen, waren im 20. Jahrhundert noch ziemlich beschränkt. Bei juris wurde GOLEM eingesetzt, ein System, das ähnlich wie die Software bei Beck online in seinem Suchverhalten so funktionierte, wie man das als Student in der Universitätsbibliothek gewöhnt war: Wenn man den präzisen Begriff wusste, der in den meisten Veröffentlichungen für dasselbe Thema verwendet wurde (am besten: Der jeweilige Paragraf), fand man auch etwas. Ob es aber wirklich relevant war, konnte man erst beurteilen, wenn man die jeweilige Quelle im Detail studierte.
Zur gleichen Zeit wurde allerdings eine vollkommen andere Suchstrategie entwickelt, die erst bei GOOGLE und später vergleichbaren Softwaresystemen marktbeherrschend wurde. Sie beruhte auf der Erkenntnis, dass Wissenschaftler diejenigen Quellen, die sie für relevant halten, zitieren, andere hingegen mit Nichtachtung strafen. Eugene Garfield (1925-2017), dem ich eher zufällig 1968 in München einmal begegnet bin, berichtete, wie er schon im Chemiestudium auf das Problem der Relevanz der Quellen gestoßen war. Die Suche nach einer geeigneten Lösung faszinierte ihn so sehr, dass er danach Bibliothekswissenschaften und am Ende noch Linguistik studierte. So konnte er das Problem aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachten. 1961 begann er mit seiner Firma SCIENCE CITATION INDEX zunächst in naturwissenschaftlichen Zeitschriften nachzuzählen, welche Quellen dort zitiert wurden und dies in geeigneter Form in seiner monatlich erscheinenden Zeitschrift veröffentlichte6. Sehr seltsam: Die meistzitierten Werke waren die »Bibel« und das »Kapital« von Karl Marx. Damit waren sie mindestens in dem Sinn relevant, als sich jeder Leser fragen musste: »Was haben diese Bücher in der Physik oder Chemie zu suchen?«. In den Geisteswissenschaften entwickelte sich der Erfolg dieser Suchstrategie nicht vergleichbar – vermutlich wurde es durch die wissenschaftlichen Zitatkartelle gestört.
Google hat die neuen Suchstrategien, in denen Angebot und Nachfrage nach Wissen dargestellt wird, in allgemein zugängliche Produkte umgesetzt, und zeigt uns die Suchergebnisse in der Rangfolge, die am meisten nachgefragt worden ist. Wir sehen Fußspuren im Schnee, wo andere schon gegangen sind und sagen uns: Da gibt es was zu holen!
Wir sehen den Unterschied zwischen beiden Suchstrategien auf den ersten Blick, wenn wir die gleichen Suchbegriffe einerseits bei Google oder Bing etc., andererseits bei Beck online und/oder juris eingeben. Versuchen wir es mit einer der wichtigsten Grundsatzentscheidungen der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, dem bekannten Lüth-Urteil von 1958 – BVerfGE 7, 198 ff.) Hier geht es um die Schranken der Meinungsfreiheit, ein gerade heute besonders aktuelles Thema. Gibt man den Suchbegriff »Lüth-Urteil« bei Bing ein, bekommt man als erstes den relevanten Wikipedia Artikel, an zweiter Stelle das Originalurteil des Bundesverfassungsgerichts und danach folgen Kommentare.7 Bei Beck online kommt auf Platzziffer eins ein Urteil des OLG Jena, dass mit dem Thema nichts zu tun hat, aber das Wort »Urteil« enthält.8 »Das kommt tatsächlich in Urteilen selten vor und wird daher relevant sein« (dachte sich wohl der Algorithmus).
Die danach folgenden Treffer sind als Kommentare relevant, gewiss aber weit weniger nachgefragt als das gesuchte Urteil, das auf den ersten drei Seiten nicht auftaucht.
Noch problematischer wird es, wenn ich den Begriff »Lüth-Urteil« nicht kenne, sondern nur weiß, dass das Bundesverfassungsgericht etwas Grundlegendes zur Meinungsfreiheit gesagt hat. Ich gebe daher bei Google ein: »Frühes Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit«. Diesmal kommt das Urteil gleich auf Platzziffer eins, dann folgt Wikipedia und dann die Kommentare. Noch erstaunlicher ist das Ergebnis, wenn man die Frage mit gleichem Text in COPILOT eingibt: Die Antwort hat Examensqualität!9 beck-online10 antwortet auf diese Frage mit einer Fülle von Kommentaren und Hinweisen, die zwar überwiegend relevant sind, weil sie auf die Suchbegriffe reagieren, das gesuchte Urteil hinter ihnen aber geradezu verstecken.
Ein zweiter Versuch: Geben Sie bei beck-online den Begriff »Böckenförde« in der Hoffnung ein, nun diesen Begriff in den gelieferten Dokumenten wiederzufinden. Auf Nr. 1 der Suchliste erscheint ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das diesen Begriff nicht enthält,11 und danach folgen noch viele vergleichbare irrelevante Informationen. Bei Bing hingegen erscheint sofort der berühmte Autor und danach sein viel zitiertes »Böckenförde-Diktum«.12
Im Grunde bringen diese alten Suchstrategien uns nur einen Heuhaufen, in dem wir die Nadel nach wie vor suchen müssen. Das wurde bisher mit dem Hinweis entschuldigt, dass man vorher nicht einmal ein Heuhaufen hatte.
In der Zukunft wird es nur noch die neuen Suchstrategien geben. Die ersten Versuche bei beck-online mit »Frag den Grünberg/Küttner/Schmidt« zeigen, dass sie auch im juristischen Bereich zu bedeutenden Verbesserungen führen. Sie werden in absehbarer Zeit die gesamte Welt der juristischen Datenbanken erreichen – oder diese Datenbanken werden vom Markt verschwinden.
5. Künstliche Intelligenz im Management des Erfahrungswissens
Die technische Revolution, die das Internet eingeleitet hat, hat sich durch die allgemeine (auch internationale) Zugänglichkeit zu jeder Art von Datenbank unmittelbar auf das Wissensmanagement ausgewirkt, blieb damals aber im Bereich des Erfahrungswissens wirkungslos. Die neuen Werkzeuge der künstlichen Intelligenz ändern dieses Bild dramatisch. Jetzt finden wir im Markt Softwaresysteme, in denen wir unser Erfahrungswissen speichern und abrufen können.13 Heute gibt es auch für diese Anwendungsfälle zahllose Systeme, die auf künstlicher Intelligenz basieren.14 Ob diese Systeme im konkreten Anwendungsfall brauchbar sind, kann man nur ausprobieren. Das wesentliche Problem wird darin bestehen, brauchbares Wissen aus der Fülle der Texte herauszufiltern, die in den einzelnen Fällen entstanden sind. Wenn man sich schon mit den früheren Bordmitteln ein Archiv der eigenen Fälle angelegt hat, wird man mehr Erfolg haben.
Das gilt vor allem für den Entwurf und die Analyse von Verträgen. Jeder Anwalt steht im Wirtschaftsrecht vor der Aufgabe, Verträge zu analysieren und selbst eigene zu entwerfen. Viele haben sich dazu Muster angelegt, einige, die über das Problem tiefer nachgedacht haben, auch Checklisten, mit denen sie gleichzeitig die eigene Entwurfsarbeit steuern, aber auch von dritter Hand gefertigten Entwürfe besser und lückenloser analysieren können.
Die Bedenken, die sich um den Einsatz der künstlichen Intelligenz im Bereich des juristischen Wissens ranken15, vermindern sich im Bereich des Erfahrungswissens. Der Grund: Wer seine eigenen Erfahrungen speichert, weiß mit höherer Wahrscheinlichkeit, ob das, was die KI ihm liefert, richtig oder falsch ist.
6. Der Einfluss der Unternehmenskultur
Das Management von Wissen und Erfahrung bleibt wirkungslos, wenn es nicht in eine allgemeine Strategie eingebettet worden ist, in der ihre Bedeutung zutreffend erkannt wird.16 Dazu müssen die einzelnen Anwälte vorbehaltlos bereit sind, ihr Wissen mit anderen zu teilen. Das gleiche Problem haben wir schon beim cross-selling kennengelernt, wenn Anwälte zögern, einem Kollegen bei der gemeinsamen Mandatsbetreuung zuzuarbeiten.17 Es kann nur überwunden werden, wenn alle Beteiligten eine hinreichend klare Vorstellung davon haben, dass geteilte Erfahrung nicht verloren ist, sondern die gemeinsame Basis vergrößert.
Jeder Rechtsanwalt und jeder Steuerberater arbeitet inmitten einer von ihm selbst geschaffenen Unternehmenskultur18, selbst wenn er nicht einmal eine Mitarbeiterin hätte: Die Art und Weise, wie er selbst mit seinen Mandanten und Zulieferern umgeht, prägt diese Kultur auch unbewusst. Je größer eine Sozietät wird, umso komplexer wird diese Unternehmenskultur. Und ab 12 bis 15 Personen, die sie prägen (das sind auf jeden Fall die Partner, manchmal auch die angestellten Anwälte), kann diese Kultur sehr unüberschaubar werden. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass rationale Entscheidungen in Gruppen außerordentlich schwierig werden, weil dann gruppendynamische Prozesse (z. B. Verzerrungen unserer Wahrnehmung (Bias)) greifen, die meist unbewusst verlaufen und rational nicht mehr kontrollierbar sind19. Auch die praktische Erfahrung zeigt die Richtigkeit dieser These. Jeder Partner einer Sozietät spürt sehr genau, wie wertvoll seine eigene Erfahrung ist, auch wenn ihm das nie bewusstwerden mag.
Die Art und Weise, wie er mit seinem eigenen Erfahrungswissen umgeht, ist unmittelbar von der Unternehmenskultur abhängig, in der er sich befindet. Nur der Einzelanwalt und der einzelne Steuerberater haben damit kein Problem. Aber schon, wenn sie den ersten Angestellten einstellen: Sollen sie ihm die Checklisten und Vertragsmuster zeigen, mit denen sie arbeiten? Ich kenne Kollegen, die ganz bewusst angestellte Anwälte oder Steuerberater stets nur für kleine Detailprobleme eines Falles einsetzen und ihnen niemals zeigen, wie das Gesamtproblem auszieht. Die Qualität solcher zugelieferten Arbeit ist naturgemäß gering, weil nur der Chef das zusammengesetzte Puzzle sieht, das letztlich die Beratungsleistung darstellt. Man sieht an diesem Beispiel, wie eng die Produktqualität mit dem Erfahrungswissen zusammenhängt. In manchen Großprojekten, wie etwa bei den Unternehmenskäufen, ist es unvermeidbar, dass der Steuerspezialist neben dem Lizenzrechtler, dem Gesellschaftsrechtler und dem Datenschutzexperten wirkt und jeder nur einen Teil des Gesamtproblems zu sehen bekommt. Bei anderen Projekten, bei denen man aus dem gesamten Pool des Wissens schöpfen könnte und es nicht tut, handelt man mindestens fahrlässig und liefert dem Mandanten nicht die Qualität, die er beanspruchen kann.
Eine Anwalts- oder Steuerberatersozietät, die auf kurzfristige Tageserfolge und nicht auf langfristige Strategien setzt, wird nicht dazu neigen, das Wissen zu teilen. Häufig hört man in diesem Zusammenhang, die jungen Leute würden das Unternehmen ohnehin verlassen und dann sollte man sie nicht vorher als künftige Konkurrenten noch schlau gemacht haben. Aber hier beißt sich die Katze wirklich in den Schwanz: Manche hoch qualifizierten Leute würden bleiben, wenn sie innerhalb einer Unternehmenskultur arbeiten könnten, in der man Wissensteams kennt und eine Teamkultur aufgebaut hat, die offenen Umgang miteinander erlaubt.
Wer stattdessen auf seinem Wissen sitzt und es nicht teilt, lebt letztlich von der Substanz.
7. Vergütung für Know-how-Transfer
Selbst wenn man all diese Elemente erfolgreich bereitgestellt hat, ist man die schwierigste Aufgabe noch nicht gelöst: Wie vergütet man diejenigen, die ihr Erfahrungswissen teilen, es archivieren, es auf dem neuesten Stand halten und andere motivieren, es ihnen gleich zu tun?
Der Versuch, eine solche Haltung von allen Anwälten zu verlangen, ist zum Scheitern verurteilt. Das liegt an der unterschiedlichen Persönlichkeit der Beteiligten. Es gibt Leute, die können selbst dann ihr Wissen nicht weitergeben, wenn sie es wollten, da sie es vielleicht verbal formulieren, aber nicht aufschreiben können. Es gibt erfolgreiche Chaoten, die nie im Leben eine Checkliste erstellen könnten und es gibt zwangsneurotische Strukturierer, die solche Strukturen zwar entwickeln, aber nicht erklären können.
Wer das erkannt hat, weiß: erfolgreiches Wissensmanagement braucht den Informationsbroker. Es muss einen Makler geben, der zwischen den verschiedenen Persönlichkeiten hin und her läuft und das Unvereinbare zu vereinbaren versucht. Es muss einen (oder mehrere) geben, die nach der Schlacht die Waffen aufheben, sie aufpolieren und für die nächste Runde bereithalten. Der am Boden liegende, oft verletzte Held, kann das nicht tun. Und der Stratege, der sich längst schon wieder mit den Papieren für die nächste Schlacht beschäftigt, ist zu hochrangig, als das man ihm das zumuten könnte.
Anwälte, die all diese Probleme nicht haben, ihr Wissen bereitwillig allen anderen zur Verfügung stellen und so erheblich zur Solidarität und zu Unternehmenskultur beitragen, sollten dafür Punkte erwerben, die bei der Gewinnverteilung berücksichtigt werden. Ein anerkennendes »gut gemacht!« wird allein nicht ausreichen.
Wie man die Lösung im Einzelnen findet, hängt nur von der Unternehmenskultur des Büros ab, das sich um sein Erfahrungswissen bemüht.
8. Führung und Kontrolle
Führung besteht aus drei Elementen20:
- Vereinbarung/Vorgabe von Zielen
- Unterstützung derjenigen, die sie erreichen sollen
- Kontrolle der Ergebnisse
Rechtsanwälte und Steuerberater sind es nicht gewöhnt geführt zu werden, sie führen sich selbst (oder auch nicht). Der große Erfolg der englischen und amerikanischen Büros in den letzten Jahren zeigt uns aber, dass ein gewisses Maß an Führung notwendig ist, wenn man Erfolg haben will.
Wie wird im Bereich des Erfahrungswissens Führung wirksam?
Dazu muss man die Wichtigkeit dieses Ziels erkennen und sie – jedenfalls auf Partnerebene – verbindlich vereinbaren, das heißt, den Beitrag einzelner Partner festlegen, die der Erreichung dieses Ziels dienen sollen. Dies bedeutet keinesfalls, dass die einzelnen Partner sich am Prozess des Wissensmanagement selbst beteiligen müssen. Keiner muss eine Checkliste schreiben, keiner muss Verträge archivieren, keiner seine Akten auf geeignetes Material durchsehen. Aber:
- Er muss dulden, dass andere es tun!
- Er darf nichts verstecken!
- er muss Credits bekommen, wenn er aktiv etwas beiträgt, was ihn Zeit kostet, aber kein Geld bringt.
Es ist Aufgabe des Managements, diese Rahmenbedingungen zu vereinbaren, zu definieren, festzulegen und zu kontrollieren. Von einer großen Unternehmensberatungsgesellschaft habe ich gehört, dass dort kein Partner berechtigt ist, seinem Kunden eine Rechnung zu schreiben, wenn er nicht gleichzeitig eine Dokumentation des Projekts abnahmefähig vorstellt. Und wer keine Rechnung stellen kann, hat keinen Umsatz. Folglich steht die Dokumentation des Projekts auf der Prioritätsliste ganz oben. Für Projekte in Anwaltsbüros und Steuerberatungskanzleien wird man dieses Verfahren nicht verallgemeinern können, es könnte sich aber sehr wohl für M&A-Projekte eignen.
9. Zusammenfassung
Das Management von Wissen, das man von anderen beziehen kann, ist relativ einfach zu strukturieren, zu gewinnen und aufrechtzuerhalten. Das Problem aber ist: Dieses Wissen steht auch dem Wettbewerber zur Verfügung und verschafft niemandem ein Alleinstellungsmerkmal. Erst wenn man sich daran macht, aus einem Formularbuch und eigenen Verträgen zum Beispiel eine Checkliste zu entwickeln und zu kommentieren, die eine bestimmte Branche, die man betreut, betrifft, hat man ein Produkt geschaffen, über das niemand anders verfügt – das Erfahrungswissen, das letztlich den Goodwill ausmacht.
Die Art und Weise, wie dieses Erfahrungswissen strukturiert wird, wie man es gewinnt, aufrechterhält, speichert und weitergibt, ist nicht allgemein festzulegen. Es mag einzelne Module geben (Datenbanken, Checklisten, Vertragstext etc.), die für viele Büros gleichermaßen taugen, aber der entscheidende Zusatznutzen entsteht nur durch die Individualität dieses Wissens, die Mass-Konfektion, wenn nicht den Mass-Anzug, der in jedem einzelnen Büro (und oft genug bei jedem einzelnen Partner) geschneidert wird. Ohne eine Unternehmenskultur, die das Erarbeiten und Weitergeben des konkreten Erfahrungswissens in geeigneter Weise honoriert, wird es nicht entstehen oder nicht weitergegeben.
- 1. Erich Kästner cit. n. Jörg Risse: Wissen ist wenig, Können ist König – Ein Essay über den Anwalt von Morgen, Anwaltsblatt 2005, 303 ff.
- 2. Dr. Martin Schulz (LLM) (Yale), damals Knowlege-Management-Lawyer im Frankfurter Büro von Freshfields Bruckhaus Deringer, NJW 2005, 2049; ferner Schulz/Klugmann: Wissensmanagement für Anwälte, Heymann 2006. Heute: Schulz: Wissensmanagement für Anwälte – DeutscherAnwaltSpiegel.
- 3. Näheres hierzu: Heussen/Anders, Anwaltsunternehmen führen, C. H. Beck, 4. Aufl. 2024, Kap. 7.3, S. 131 ff.
- 4. Benno Heussen: »Interessante Zeiten«, Strukturierte_Mandate.
- 5. Benno Heussen: Werden die Bücher das Internet überleben?
- 6. The evolution of the Science Citation Index - PubMed; Science Citation Index | Aktuelles, Uni Münster
- 7. Lüth Urteil – Bing-Suche (18.06.25).
- 8. Trefferliste zu 'Lüth-Urteil' – beck-online (18.06.25).
- 9. Microsoft Copilot: Ihr KI-Begleiter (18.06.2025).
- 10. Trefferliste zu 'Frühes Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit' – beck-online (18.06.25).
- 11. https://beck-online.beck.de/Dokument?vpath=bibdata%2Fents%2Fbeckrs%2F201.... (18.06.25)
- 12. Böckenförde – Bing-Suche (18.06.25).
- 13. https://slite.com/de/learn/legal-knowledge-management-de ; Wie KI Wissensmanagement in Kanzleien neu definiert. Demnächst erscheint: Ottersböck / Dander / Stowasser: Wissensmanagement mit Künstlicher Intelligenz – Erfahrungswissen effizient sichern und transferieren, Springer, 2025, ISBN 978-3-662-71590-1.
- 14. Hier ein kurzer – und keinesfalls repräsentativer – Überblick: https://legal-tech.de/zwoelf-ki-tools-fuer-kanzleien/ ; https://legaltech.future-law.at/gastbeitrag-latoo-labs-ki-fuer-rechtsanw... ; https://www.soldan.de/insights/wissensmanagement/ .
- 15. Zu diesem Fehlerproblem: Benno Heussen, »Künstliche Intelligenz in Verfahren der Rechtsgewinnung«, Das Problem der Fehler.
- 16. Prof. Dr. Martin Schulz, LL.M., German Graduate School of Management & Law (GGS), Heilbronn, https://www.deutscheranwaltspiegel.de/deutscheranwaltspiegel/archiv/wiss...
- 17. Benno Heussen: Cross-selling zwischen Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern.
- 18. Benno Heussen: Gedanken zur Unternehmenskultur.
- 19. Solomon Asch: 1956: Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority. In: Psychological Monographs, 70(9), 1–70. ; Heinrich Heine Consulting, Düsseldorf: https://hhc-duesseldorf.de/groupthink-warum-gruppen-schlechte-entscheidu...
- 20. Heussen/Anders, Anwaltsunternehmen führen, C. H. Beck, 4. Aufl. 2024, Kap. 3 S. 27 ff.